Anna Reuter
Was können Sie von diesem Abschnitt erwarten?
Die vorherigen Abschnitten dieses Buches erlaubten Agilität als Begriff für sich einzuordnen und mit Blick auf zeitgemäße Bildung erste, grundlegende Prinzipien für agiles Handeln kennenzulernen. Beispiele schulischer Umsetzungen von Scrum haben mit EduScrum und KidsScrum das Bild vervollständigt.
Im Folgenden sollen Gelingensbedingungen und Voraussetzungen für die Einführung in und die Arbeit mit Scrum in der Schule aufgezeigt werden. Hier wird die Haltungsfrage eine besondere Rolle einnehmen. Es kommen aber auch weiterführende Aspekte zum Tragen, die verknüpft sind mit konkreten Empfehlungen für das System Schule. Das lernerische Potential agiler Didaktik wurde bereits im Abschnitt “Potentiale agiler Prozesse: Das CCR-Modell” aufgezeigt. Das mit diesen Perspektiven einhergehende besondere Schlaglicht auf Schule kann helfen die Abschnitte zu spezifischen Umsetzungsmodellen von Scrum in der Schule besser einzuordnen und zu übertragen.
Vorab noch einmal ein kurzer Überblick über Scrum.
Was ist Scrum? – kurze Einordnung des Begriffs
Scrum ist ein „Rahmenwerk zur Entwicklung, Auslieferung und Erhaltung komplexer Produkte“. So lautet die einleitende Beschreibung im Scrum Guide, dem grundlegenden Leitfaden der Scrum-Entwickler Ken Schwaber und Jeff Sutherland. Dieses Rahmenwerk gewährleistet, dass „Menschen komplexe adaptive Aufgabenstellungen angehen können […] [und] sie in die Lage versetzt werden, produktiv und kreativ Produkte mit höchstmöglichem Wert auszuliefern.“ (Sutherland, Schwaber 2020)
Im Rahmen der Digitalisierung und damit einhergehender Umbrüche und Transformationsprozesse muss ein Entwicklungsprozess unter Umständen schneller und flexibler auf veränderte Erwartungen, Kundenansprüche und wirt-schaftliche Bedingungen angepasst werden, als Unternehmen das zuvor kannten. Dem kann Scrum insofern Rechnung tragen, als das Rahmenwerk auf der Theorie empirischer Prozesssteuerung basiert: Entscheidungen werden auf der Grundlage bekannten Wissens getroffen. Denn der Entwicklungsprozess ist regelmäßig nach kurzen Zeit-abständen (sog. Sprints) zu überprüfen, gegebenenfalls anzupassen und wieder neu aufzunehmen. So bilden die Überprüfung und die Anpassung (inspect and adapt) zwei von drei Säulen des Rahmenwerks.
Die dritte Säule ist die Transparenz. Diese umfasst nicht nur den fortwährenden Austausch mit allen am Prozess Beteiligten, sondern auch und vor allem die Transparenz nach innen: Leben alle Teammitglieder die Werte des gemeinsamen Miteinanders? Sind allen die Qualitätsstandards und Verantwortlichkeiten klar? Verstehen alle das Gleiche unter einem „fertigen“ Produkt? Sprechen alle die gleiche Prozesssprache? Dafür ist es – und in der Konsequenz natürlich auch in diesem Buch – vonnöten, die Begriffe zu klären. Das soll der folgende Abschnitt einleiten, bevor in nachfolgenden Abschnitten Scrum als Verfahren in der Schule näher beschrieben wird:
Mit Scrum liegt ein Modell für die Ausgestaltung von Entwicklungsprozessen vor, das die beteiligten Rollen, die vorgesehenen Ereignisse (im Sinne von gezieltem Zusammentreffen), Artefakte (im Sinne von Handlungsprodukte) und Regeln näher definiert und den Handlungsrahmen aufzeigt. Kern von Scrum ist ein kleines Team von Menschen (3 bis 9 Personen), das komplexe Aufgaben gemeinsam bewältigt (ebd.).
Das gesamte Scrum Team besteht aus dem Product Owner, dem Entwicklungsteam sowie dem Scrum Master. Die erste Phase des Prozesses nimmt die Produktvision in den Blick: Der Product Owner [PO] repräsentiert den Kunden: Er definiert die Ziele für das Produkt, beschreibt die Anforderungen und priorisiert diese. Die Entscheidungen stellt er in einem Product Backlog zusammen, einer Übersicht aller Anforderungen des Projekts. Der Scrum Master [SM] ist für die Gewährleistung der Scrum-Prinzipien und Werte zuständig, er unterstützt und begleitet das Entwicklerteam so, dass es ungestört arbeiten kann. Das Entwicklungsteam, möglichst multiprofessionell zusammengesetzt, setzt die Arbeit schlussendlich selbstorganisiert um.
Das Herz von Scrum ist der Sprint, ein Zeitraum von maximal einem Monat. Im Rahmen des Sprint Planning zu Beginn des Sprints erstellen der PO, der SM und das Entwicklungsteam das Sprint Backlog, also die Herausforderungen, die im ersten Sprint erarbeitet werden sollen. Dann geht es los: Das Entwicklungsteam setzt die Anforderungen um.
In täglichen Stand ups (oder Daily Scrum genannt) kommt das Entwicklungsteam zusammen und bespricht den weiteren Verlauf.
Entsprechend der Sprint-Planung entwickelt das Entwicklungsteam schlussendlich ein Produkt-Inkrement (schritt-weise erfolgte, präsentierfähige und damit feedbackfähige Produktoptimierung). Im abschließenden Sprint-Review wird dann entsprechend einer vereinbarten Definition von „Fertig“ [definition of done] überprüft, welche Anforderungen umgesetzt wurden und welche nicht.
Nach einer Retrospektive, in der über die Zusammenarbeit reflektiert wird, beginnt der Prozess von vorne, der nächste Sprint beginnt, die Produktoptimierung wird gewährleistet. Der Prozess ist also iterativ (sich wiederholend) und inkrementell (schrittweise aufeinander aufbauend) zugleich. (Oestereich & Schröder 2019)
Damit ist ein kurzer Überblick über die in Scrum relevanten Rollen, Ereignisse und Artefakte skizziert. Die operationale Umsetzungsebene allein zu kennen und umzusetzen ist allerdings kein Garant für ein erfolgreiches Handeln im Scrum Team. Von besonderer Bedeutung sind die zugrundeliegenden Werte, die das Miteinander des Scrum Teams prägen und auf denen der erfolgreiche Einsatz von Scrum beruht. (Sutherland, Schwaber 2020)
Deshalb soll es zunächst einmal um diese Werte gehen, wenn im Folgenden die Voraussetzungen für die Implementierung von Scrum in das System Schule diskutiert werden.
Scrum in der Schule – Voraussetzungen und Gelingensbedingungen
Scrum und die zugrundeliegenden Werte
Agilität ist auch im System Schule keine Frage der Methoden oder Techniken. Mitnichten ist sie – in Anlehnung an das marktwirtschaftliche Modell – eine Frage der Produktivität des Kollegiums bzw. unserer Schülerinnen und Schüler oder deren Qualifizierung für den Markt. Vielmehr geht es auch (und gerade) in der Schule um eine gemeinsame Orientierung an Werten, die agile Prozesse gelingen lassen und Schulentwicklung mit breitem Fundament unterstützen.
Diese Werte sind im oben bereits erwähnten Scrum Guide festgeschrieben: Commitment (im Sinne von (Selbst-) Verpflichtung, Verbindlichkeit), Mut, Fokus, Offenheit und Respekt. (Sutherland & Schwaber, 2020) Sich derer gemeinsam zu vergewissern hilft dabei, der o. g. Transformation zu begegnen und Veränderung als Chance zu verstehen. Schule ist systembedingt Veränderung unterworfen und in besonderem Maße der Kultur der Digitalität verpflichtet, gehört doch die gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe und Mitgestaltungfähigkeit zu einem vorrangigen Ziel unseres Bildungssystems. Insofern sind diese Werte auch und gerade im System Schule von besonderer Bedeutung.
Wie lassen sich diese Werte in den schulischen Alltag implementieren? Meines Erachtens ist dies eine komplexe Herausforderung, mehrere Aspekte kommen zum Tragen. Im Folgenden wird daraufhin die Ausgangslage für den Start in eine agile Schule in den Blick genommen. Dabei wird schnell deutlich, dass es vor allem um Haltung geht, die nachfolgend konkreter gefasst wird. Daraus leiten sich weitere Voraussetzungen bzw. Gelingensbedingungen ab.
Der Start in eine agile Schulkultur – die Ausgangssituation
Veränderungsdruck von außen
Die Schulschließungen während der „Corona-Krise“ zum Jahresbeginn 2020 haben deutlicher denn je gezeigt, dass Änderungen im System Schule dringend erforderlich sind. Dabei geht es keineswegs nur darum, für Eventual-Bedarfe eines räumlich ausgelagerten Unterrichts besser technisch ausgestattet zu sein. Es wurde vielmehr deutlich, dass Unterricht und Schule grundsätzlich neu gedacht werden müssen, um den Bildungsbedarfen des 21. Jahrhunderts begegnen zu können. (Zur Vertiefung dieses Aspektes empfehle ich die Lektüre von Felix Stalder zur Kultur der Digitalität (Stalder 2019), das Buch „Die vier Dimensionen der Bildung, Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert wissen müssen“ von Ch. Fadel et al. (Fadel, Bialik, Trilling 2017) oder auch der „Routenplaner #Digitale Bildung“ (Krommer, Lindner, Wampfler, Mihajlović , Muuß-Merholz 2019). Teils scheint diese Erkenntnis auch auf politisch relevanter Ebene angekommen zu sein. Die bereitgestellten Mittel zur „Digitalisierung“ und auch ministerial unterstützte Veranstaltungen zum Thema zeugen davon. Allerdings fehlen hier noch fundierte didaktische Konzepte, wie und woraufhin Lernen in der Kultur der Digitalität gelingt, die in die Breite der Gesellschaft wirken. Die Versorgung der Schulen mit technischen Gerätschaften reicht an der Stelle nicht aus, weil die Möglichkeiten und damit die Zielsetzungen von Lerngelegenheiten und -prozessen sich mit Blick auf unsere Kultur und deren Bedarfe verändern bzw. längst verändert haben, nur die Schule dieser Entwicklung noch nicht nachgefolgt ist. Gleichwohl steht die Forderung im Raum, dass das System Schule, die Lehrerinnen und Lehrer sich dem Bedarf stellen müssen. Der Veränderungsdruck steigt. Was bedeutet das für die Schule und die Lehrenden?
Eine solche in den Medien breit diskutierte Forderung ist extrinsisch motivational bedeutsam, und damit zunächst einmal als Impuls positiv zu bewerten. Sicher, intrinsisch motivierte Impulsgeber im System wären viel zielführender. Wenn sich aber die Frage nach Implementierung im Rahmen einer erforderlichen Veränderung stellt, ist dieser Veränderungsdruck als Voraussetzung mitzudenken. Angemessen eingeordnet kann auch extrinsische Motivation, von außen angefeuert, initial zündend bzw. treibend wirken und einen „Change-Prozess“ anstoßen. Diesen Veränderungsdruck sollte Schule entsprechend neu bewerten und gewinnbringend nutzen.
Veränderte Ausgestaltung der Führungsrolle
Veränderungen im System zu ermöglichen und zu begleiten ist immer auch eine Führungsaufgabe respektive eine Frage der Ausgestaltung der Führungsrolle. In der Folge lautet eine Empfehlung zum Start in den Change-Prozess, mit den Führungspersonen damit zu beginnen. Verständlich, denn deren Vision einer erfolgreichen Organisation prägt die Unternehmenskultur. Fragen wir also die Schulleitungen: Wollen sie sich auf diese Reise begeben? Und welche Vorstellung von guter Schule leitet sie dabei? Funktionen der verschiedenen Führungsrollen im System Schule sollten entsprechend definiert und handlungsleitend umorientiert werden. Das betrifft nicht nur Schulleitungen und ihre Kollegien, sondern auch Abteilungsleitungen und ihre Teams, Klassenleitungen und ihre Lerngruppen.
Führung muss vorrangig „ermöglichen“. Warum? Die dadurch entstandenen Handlungsspielräume gewährleisten schluss-endlich, dass sich jede/jeder Einzelne im System Schule auf Basis einer aktiv und freiwillig vorgenommenen Entscheidung einbringen kann. Das wiederum erlaubt, sich als kompetent, selbstbestimmt und sozial eingebunden zu erfahren, eine der wesentlichsten Triebfedern des Menschseins. Edward Deci und Richard Ryan gehen in ihrer Selbstbestimmungstheorie davon aus, dass ein „Mensch die angeborene motivationale Tendenz hat, sich mit anderen Personen in einem sozialen Milieu verbunden zu fühlen, in diesem Milieu effektiv zu wirken (zu funktionieren) und sich dabei persönlich autonom und initiativ zu erfahren.“ (Deci, Ryan 1993) Das unterstützen auch die Erkenntnisse, Zielvorstellungen und Menschenbildannahmen des Forschungsprogramms „Subjektive Theo-rien“ (Groeben, Wahl, Schlee, Scheele 1988). Demnach werden Menschen als handelnde Subjekte begriffen, die sich an Sinn und Bedeutung orientieren und vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Selbst- und Weltinterpretation handeln. Dahinter steht ein Menschenbild, „dem die Fähigkeit zur Kommunikation, zur Rationalität, zur Reflexivität und zur Autonomie zugestanden wird.“ (Schlee 2008, S. 33)
Selbstverständlich ist das so, mögen Sie mir als Leser*in nun zurufen. Und natürlich haben Sie recht. Gleichwohl lohnt es sich im gemeinsamen Miteinander zu prüfen, welche Konsequenzen sich daraus ableiten und wie wir diese noch angemessener umsetzen können. Schauen wir vor dem Hintergrund noch einmal auf die Leitungsfunktion: Erkennen wir die Selbst-Reflexivität und damit Entwicklungsfähigkeit unseres Gegenübers an, erlaubt uns diese Haltung Handlungsspielräume zu identifizieren, zu eröffnen und auszuhalten, dass andere diese ausschöpfen.
Wir können uns aus dieser Haltung heraus authentisch auf Augenhöhe begegnen (auch wenn es funktionsbezogen hierarchische Unterschiede gibt) und echte, da tatsächlich ermöglichte Angebote machen. Wir können unseren Beitrag dazu leisten, dass andere Erfolg erfahren.
Trauen wir also unseren Kolleg*innen, unseren Schüler*innen kompetentes Handeln zu, werden wir höchstwahrscheinlich das Glück erfahren, mit motivierten Personen zusammen-arbeiten zu dürfen! (Reuter, 2020) Das führt unmittelbar in eine weitere Voraussetzung, die zu Beginn des Prozesses gewährleistet sein sollte.
Vertrauen als Grundlage gelingender Qualitäts- und Unterrichtsentwicklung
Unmittelbar an die Empfehlung, mit der Schulleitung den Prozess zu beginnen, schließt sich eine weitere an: Setzen Sie sich im Zuge der eigenen Positionierung zum Thema Veränderung auch mit dem Aspekt Vertrauen auseinander. Im Sinn der oben bereits fokussierten Selbstwirksamkeitstheorie ist das Erfahren von Vertrauen wesentliche Grundlage für gelingende Partizipations- und Kollaborationsprozesse. Woran wird mir als Schulleiterin deutlich, dass man mir bzw. meiner Vision vertraut? Wo wird den Schüler*innen, den Kolleg*innen, den Stakeholdern deutlich, dass ihnen Vertrauen entgegengebracht wird? Schauen wir auf ein typisches Beispiel aus dem Schulkontext (Reuter 2020, S. 118):
Eine der größeren Sorge in Zeiten der Schulschließungen im Zuge der Corona-Krise war es, die Leistungen der Schüler*innen nicht nachweislich den einzelnen Lernenden zuordnen und damit keine valide Leistungsbeurteilungen vornehmen zu können. Liegt der Fokus auf der institutionellen Anschluss- und Marktfähigkeit der Schüler*innen in einem System, das Prüfungen als das Instrument der Qualitätssicherung festschreibt, ist diese Sorge sicherlich nachvollziehbar. Aber ist sie heute noch vonnöten?
Ein weiteres Beispiel aus diesem Kontext: Unlängst hat ein Online-„Prüfungsformat“ in den sozialen Medien von sich reden gemacht, das die Problematik auf den Punkt bringt: Zu einer Online-Klassenarbeit sollten sich die Schüler*innen mit zwei Geräten zu einer Online-Konferenz anmelden, die zu lösende Aufgabe ausdrucken und sich dann bei der Erarbeitung filmen, sodass die Lehrperson nachvollziehen konnte, dass auch nicht geschummelt wurde.
Was wird hier überprüft? Die Ausstattungsqualität der Familie? Die Medienkompetenz im Umgang mit zwei Geräten? Die Konzentrationsfähigkeit angesichts der digital überwachenden Präsenz des Lehrers? Schaffen wir es so, unsere Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen, die doch Grundvoraussetzung dafür ist, dass unsere Schüler*innen ihrerseits Vertrauen geben und nehmen? Möglicherweise haben die Schüler*innen bei dieser „Prüfung“ vor allem Energie in die Fähigkeit gesteckt, diese Sicherungsmaßnahme geschickt zu umgehen und doch auf Zweitquellen zurückzugreifen. Hier ist zweifelsohne ein Weg beschritten worden, der technologische Artefakte unserer Zeit zielführend eingesetzt hat. Aber ist das hier verfolgte Ziel noch zeitgemäß?
Steht hier nicht ein Generalverdacht im Raum, der allen Schüler*innen nicht angemessenes Verhalten zuschreibt? Dazu kommt, dass ein gemeinsames Erarbeiten, der selbstständig in die Wege geleitete Diskurs und das kollaborative Verfassen des Lernprodukts, Pfuschen also, damit als die schlechtere Variante ausgemacht ist, Lösungen zur gestellten Aufgabe zu entwickeln. Was aber wäre, wenn eben diese Form des „Pfuschens“ die lernwirksamere wäre? Und schlimmer noch: Ist nicht die Vorannahme, die Leistungsnote könne das Richtige und Relevante erfassen, mit Blick auf die im 21. Jahrhundert erforderlichen Kompetenzen, ohnehin obsolet? Was also tun?
Die erste Empfehlung: Trauen wir uns, systemisch groß zu denken und den Change-Prozess als notwendig und gewinnbringend anzuerkennen. Zweitens: Diskutieren und evaluieren wir gemeinsam, was uns die Entwicklung der letzten Jahrzehnte (!) hin zu einer Kultur der Digitalität und sicher in besonders verdichteter Weise die Zeit der Schul-schließungen als Potenzial aufgezeigt hat. Hier wurde (noch) greifbarer, für welche Herausforderungen wir unsere Schüler*innen und uns bilden sollten. Überprüfen wir unsere Vorannahmen dahingehend, dass wir Lernwirksamkeit wieder stärker in den Fokus nehmen und Regelwerk, Sicherungssysteme und Kontrollinstanzen daraufhin überprüfen (und höchst-wahrscheinlich daraufhin ausdünnen müssen).
Beantworten wir gemeinsam die Fragen, die uns die Komplexität unseres Systems besser vor Augen führen, als die (oben beispielhaft thematisierten) Fragen nach der Verhinderung von Vertrauensmissbrauch. Woran könnten unsere Schüler*innen erkennen, dass wir ihnen wahrhaftig vertrauen? Was könnten wir dafür tun, Vertrauen zu fördern? Welche unserer Spielregeln stehen im Gegensatz zu Vertrauen? Was sind die größten Hürden, um Vertrauen aufzubauen? (nach Sprenger 2007, S. 178)
Und: Trauen wir unseren Schüler*innen (und Kolleg*innen) zu, dass sie einen Wert im Lernen selbst sehen, dass sie erfolgreiche Lernprozesse als befriedigend erleben, dass sie sich selbst als jemanden entdecken können, der/die sich weiterentwickeln kann und will. Wenn wir mehr Energie aufwenden, (bestenfalls gemeinsam zusammen mit) unseren Schüler*innen herausfordernde, für sie relevante und ausreichend komplexe Lernaufgaben zu entwickeln, und ihnen dabei Freiheit und Selbstbestimmung zugestehen, werden wir sie schlussendlich selbstbewusster und kompetenter erleben. Wenn wir dabei weniger Energie aufbringen, sie gleichzeitig zu kontrollieren, werden wir zugleich glaubwürdiger mit unserem Vertrauens-versprechen. Es ist an der Zeit, offene Lernsettings nicht nur in der Theorie als sicher wertvoll abzunicken, sondern diese auch zuzulassen. Wenn wir uns nach wie vor damit schlecht fühlen, dann sind wir damit ja nicht allein. Das käme nicht von ungefähr, denn wir sind anders sozialisiert, durchlaufen hier also selbst einen Lernprozess und Lernen geschieht nicht zuletzt aus einer Unsicherheit heraus.
Dieser Diskurs führt uns unmittelbar in die Vertiefung der Frage nach einer tragfähigen Haltung, um Change-Prozesse wie den sukzessiven Ausbau von agilen Rahmenwerken wie Scrum zu initiieren. Zweifelsohne gehört Vertrauen bereits in diesen Kontext. Was genau es darüber hinaus braucht, wird im Folgenden noch einmal konkretisiert.
Tragfähige Haltung in einer agilen Schule
Selbstverpflichtung und Modell-Verantwortung
Veränderung liegt auch immer bei einem selbst. Dabei ist kritische Distanz zum eigenen Tun erforderlich. Ich als Teil des Systems muss Veränderung und vor allem mein eigenes Lernen positiv konnotieren. Das ist nicht immer selbst-verständlich. Viele, Schüler*innen und Lehrer*innen, haben verlernt, das eigene Lernen als Motor und Motivator gewinnbringend zu nutzen. Hilfreich ist es, immer wieder für sich zu klären, was die persönliche Triebfeder ist, die Veränderung mitzugestalten. Aus der Perspektive derer, die diese Prozesse anleiten, ist es entsprechend ratsam, nach der Motivation (ggf. auch nach möglichen Blockaden) zu fragen und selbst daraufhin zu überprüfen, wie man konstruktiv dazu beitragen kann, dass die gewünschte Veränderung gelingen kann. Dann heißt es Angebote zu machen: „Das, was ich anbieten kann, ist … Folgendes sind unsere Möglichkeiten: … Wenn Du möchtest, macht doch mit!“
Ich als Lernende muss einen tragfähigen Umgang mit dem Vertrauensvorschuss finden, der mir gegeben wird: Wird er aktiv und aus einem professionellen Rollenverständnis heraus genutzt, um daraus für sich eine Selbstverpflichtung abzuleiten, ist eine belastbare Grundlage zur gemeinsamen, von möglichst Vielen getragenen Qualitätsentwicklung gegeben.
Betrachten wir den Aspekt der Selbstverpflichtung wieder aus der Perspektive der Führungsrolle, greifen die anderen o. g. Scrum-Werte noch einmal in besonderer Weise: Offenheit und Respekt in Interaktionsprozessen sind Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Implementierung agiler Prozesse. Verbindlichkeit im Handeln erlaubt dem Gegenüber, sich dazu zu positionieren und zu entscheiden, wie er/sie mit den sich daraus ergebenden Spielräumen umgehen möchte. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir uns neben der Selbstverpflichtung als Lernende ebenfalls zum modellhaften Handeln als Lehrende verpflichten sollten. Ganz im Sinne der Selbstbestimmtheit bleibt es unsere Verantwortung, unser Handeln als Modell so auszugestalten, dass die Scrum-Werte im System erfahrbar werden und übernommen werden können.
Fehlerkultur respektive Optimierungskultur
Aus dem vorhergehenden Aspekt erschließt sich ein weiterer: Sich als Modell anzubieten kann auch bedeuten, dass einmal etwas misslingt. Bin ich dann in der Lage aus einem angemessenen Nähe-Distanz-Verhältnis zu meiner Person zu agieren, gelingt es mir auch, dem Missgeschick oder Unerwartetem mit Humor zu begegnen. Zugleich trage ich zur gemeinsamen Erkenntnis bei, dass Lernen Spaß macht.
Dann kann ich mich auch anbieten als jemand, der nicht alles weiß, damit aber angemessen umgehen kann. In einer Kultur der Digitalität, in der das Wissensmonopol nicht mehr bei einzelnen Personen liegt, ist dies eine wichtige Botschaft an Lernende. Sie kann zum Beispiel tragfähiger Ausgangspunkt einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit zielführender Wissensrecherche sein.
Wenn – ganz im Sinne des Rahmenwerkes Scrum – deutlich wird, dass nach einer ersten Entwicklungsphase das Lernprodukt noch optimierbar ist, wird dies nicht als Versagen, sondern als Chance gedeutet. Welch ein Zugewinn, gemeinsam zu entdecken, woraufhin es im nächsten Prozessverlauf weitergehen könnte! Und wie weit man schon im Lernprozess vorangeschritten ist.
Hier bietet sich eine hervorragende Gelegenheit sich vom Begriff Fehler (als normativer Negativpol) zu verabschieden und stattdessen das Optimierungspotential in den Fokus zu rücken. Theorien zur sog. Kausal-Attribution gehen davon aus, dass Personen, die einen Erfolg oder Misserfolg erlebt haben, darüber nachdenken, auf welche Ursache dieses Ereignis zurückzuführen ist. Dabei entfalten sich die Dimensionen „Können“ und „Wollen“. So führen misserfolgsorientierte Lerner*innen schlechte Leistungen häufig auf Minderbegabung zurück, sie sehen die Ursache des Misserfolgs in ihrem Nicht-Können. Der Anteil des nicht Wollens wird nicht in den Blick genommen.
Weitere Dimensionen der „Stabilität“ und „Kontrollierbarkeit“ des eigenen Lernens kommen nun ins Spiel: Ist es mir selbst möglich, die Ergebnisse zu beeinflussen? Mangelndes Können wird vielfach als relativ stabil angesehen, teils sogar als genetisch determiniert: „Mathe konnte ich noch nie!“ Bin ich aber in der Lage, weniger gute Leistungen meiner fehlenden Anstrengungsbereitschaft zuzuschreiben, sehe ich die Qualität meiner Arbeit als kontrollierbar bzw. beeinflussbar an. „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen wahrgenommener Kontrollierbarkeit und wahrgenommener Verantwortlichkeit. Ist eine Person der Meinung, dass sie eine Situation nicht kontrollieren kann, dann fühlt sie sich für das Geschehen auch nicht verantwortlich.“ (Rosemann. Bielski 2001, S. 93-122)
Fassen wir zusammen: Stellen wir gemeinsam die Optimierungsmöglichkeit in den Vordergrund, spielen wir einer Selbst-Attribution in die Karten, die uns unsere Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Verbesserung vor Augen führt. Hier schließt sich der Kreis zur Selbstwirksamkeitstheorie, es bestätigt sich, dass Schule den Fokus stärker auf Partizipation, auf Verantwortungsübergabe auf breiter Basis legen sollte, als auf hierarchische Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen (s. u.).
Lernende Organisation statt Verwaltung
Auch das System selbst braucht ein Selbstverständnis, das den beiden zuvor genannten Aspekten Selbstverpflichtung und Optimierungsfokus folgt: Schule erfolgreich gestalten heißt nicht, dieses System nur zu verwalten. Es geht vor allem darum, gemeinsam zu lernen. Sicher gibt es definierte Zuständigkeiten; Funktionsstellen, die mit konkreten Aufgabenpaketen einhergehen. Zweifelsohne macht es Sinn, diese Funktionen aufgrund empirischer Analyse von Abläufen vorzunehmen und festzuschreiben. Und ja, das komplexe System Schule muss auch verwaltet werden, trotz und gerade wegen der Veränderungen, die es ja schon immer für das System gegeben hat. Nur finden diese Veränderungen immer schneller in immer komplexerer Weise statt, so dass jedwede Organisation flexibel und anpassungsfähig bleiben muss, um diesen Change-Prozess aktiv gestalten zu können. Das gilt auch und in besonderem Maße für die Schule.
Die Herausforderung ist: Stoßen agile Teams an die Grenzen einer nicht-agilen Organisation, bleiben sie stehen oder scheitern. (Leopold 2019, S. 95) Nicht-Agile Strukturen sind im System Schule häufiger zu beobachten: Budgetierungen werden jährlich oder für einen “Doppelhaushalt” bewilligt, Konzepte werden teils sehr kurzfristig eingefordert, müssen schnell verabschiedet und an Schulträger weitergeleitet werden. Wenn ein Kollegium aber monatlich mit Veränderungen, Bedarfe oder Lernmöglichkeiten angemessen, d. h. nicht zuletzt nachhaltig umgehen möchte, ist eine Anpassung von Konzepten und entsprechenden Planungen unabdingbar (siehe dazu auch den Abschnitt zur Gelingensbedingung „inspect and adapt“).
Letztlich ist es eine Frage der Gewichtung, die – systemweit – aus einer lernenden, der Veränderung chancenorientiert zugewandten Haltung heraus dem Lernen des Systems mehr Raum gibt und das Beharrende entschlossen beiseite schiebt. Angesichts einer sich ohnehin weiterdrehenden Welt mit Auswirkungen auf das System Schule sind Veränderungen auch künftig an der Tagesordnung, wir werden mit unseren Anpassungen nie „fertig“ sein. Dank eines Selbstverständnisses als lernende Organisation erlaubt dieser Ausblick aber Vorfreude auf künftige Lernprozesse.
Gelingensbedingungen für agile Prozesse in der Schule
Partizipation und Kollaboration – so viel wie möglich
Partizipation im System Schule bedeutet Schüler*innen, Kolleg*innen und weitere Stakeholder wie Eltern, Betriebe etc. in Entwicklungsprozesse einzubeziehen. Das kann auf allen Ebenen schulischer Aktivität erfolgen:
- Einbezug der Schüler*innen und Eltern bei thematischen Auseinandersetzungen (gemeinsame Pädagogische Tage, Klausurtagungen etc.)
- Öffnung der Schule für das nähere Umfeld, gemeinsame Projekte mit dem Kindergarten, der Gemeinde, den Vereinen, der Kunstschule „um die Ecke“ etc.
- Angebote durch Stakeholder:
Eltern bieten Sport-, Freizeitangebote an,
Unternehmen stellen fachspezifische oder über-greifende Aufgaben und helfen bei der Problemlösung - Schüler*innen planen klassen-/jahrgangsstufenübergreifend zusammen mit Lehrer*innen Unterrichts- und Schulprojekte; das Prinzip Lernen durch Lehren (LdL) kommt regelmäßig zum Tragen
- Schüler*innen und Lehrer*innen bieten Mikrofortbildungen für die gesamte Schulgemeinschaft an etc.
Partizipation in der Schule bedeutet in aller Regel auch Kollaboration. Erfolgreiches Kollaborieren ist lt. Johnson et al. von folgenden fünf Gelingensbedingungen abhängig: individuelle Verantwortung, positive Abhängigkeit, zielführende Gruppenstrategien und -evaluationen, soziales Lernen und Face-to-Face-Interaktionen. (Johnson, Johnson, Johnson Holubec 2012) Im Rahmenwerk Scrum sind alle fünf Bedingungen verankert, das Potential mit Blick auf die Fähigkeit zu kollaborieren wird im Abschnitt „Potentiale agiler Prozesse in der Schule“ weiter ausgeführt. Hier sei dennoch explizit auf das große Potential kollaborativer Formate hingewiesen, die in Schule weit über „Gruppenarbeit“ hinausgehen. Peer-to-Peer-Formate sind auch in Form von gegenseitigen Hospitationen oder Team-Teaching in Verbindung mit entsprechenden Feedbackrunden vorstellbar. Werden diese eigenständig abgestimmt und als hilfreich erfahren, ist auch bei ausgeschöpften Stundenkontingenten noch Raum dafür da. Gleiches gilt für Mikrofortbildungen, die innerhalb des Kollegiums ohne großen Aufwand und sehr bedarfsorientiert angeboten werden können.
Transparenz und Klarheit
An dem zuletzt genannten Beispiel der aktiven Initiierung und Teilnahme an schulinternen Kooperationen durch Kolleg*innen wird eines noch einmal deutlich: Ich als Teil eines Systems bin dann in der Lage, mich für Mitgestaltung zu entscheiden, wenn mir die Bedingungen, Gründe und Zusammenhänge verständlich und klar kommuniziert werden. Bestenfalls führt ein Diskurs über diese zu gemeinsam getragenen Entscheidungen. Das erlaubt, dass sich alle dazu positionieren können und vor allem aktiv entscheiden können, sich zu beteiligen. Transparenz ist also eine Konsequenz, die sich aus der oben beschriebenen tragfähigen Haltung ergibt, und eine Grundvoraussetzung zugleich. Es ist demzufolge ratsam, alle Mitglieder der Schulgemeinschaft regelmäßig, zuverlässig und umfassend zu informieren bzw. den inhaltlichen Diskurs fortwährend zu initiieren. Nicht zuletzt deshalb ist Transparenz eine der drei Säulen erfolgreicher agiler Prozesse.
Transparenz ist ebenfalls hinsichtlich eines realistischen, empirisch belegten Ansatzes zu gewährleisten. Das mag angesichts des Duktus von Agilität erstaunen. Schlussendlich folgt diese aber einem empirischen Prinzip, baut sie doch auf einer fortwährenden Reduktion von Unsicherheiten auf, indem sie iterativ und inkrementell zuverlässig überprüft, was sich als erfolgreich erweist! Ziel kann es dabei angesichts der sich ohnehin ergebenden Veränderungen und des damit erzeugten Handlungsdrucks nicht sein, sich gegen alle Unsicherheiten zu versichern und Veränderungen zu vermeiden, sondern über Strategien zu verfügen, mit den einhergehenden Unsicherheiten umzugehen. Umso wichtiger ist die gemeinsame Klärung der Frage, was wir zusammen als Schule erreichen wollen.
Nicht zuletzt geht es deshalb auch um die Transparenz und Klarheit des gemeinsamen Ziels: John P. Kotter, Professor für Führungsmanagement an der Harvard Business School, beschreibt in seinem wegweisenden Managementklassiker „Leading Change“ Gründe, warum Unternehmen scheitern.
Einen wesentlichen Fehler sieht er darin, die Kraft der Vision zu unterschätzen: „Dringlichkeit und ein starkes Führungs-team sind notwendige, aber nicht ausreichende Voraussetzungen für tiefgreifenden Wandel. Von den weiteren Elementen, die zu einer erfolgreichen Transformation gehören, ist keines wichtiges als eine sinnvolle Vision. Die Vision spielt eine Schlüsselrolle bei der Durchführung sinnvollen Wandels, indem sie hilft, die Aktionen vieler Menschen zu lenken, anzupassen und zu inspirieren. Ohne angemessene Vision kann sich eine Transformationsbestrebung schnell in eine Liste von verwirrenden, inkompatiblen und zeitaufwändigen Projekten auflösen, die in die falsche oder sogar in keine Richtung gehen.“ (Kotter 2011, S. 6).
Aus diesen Überlegungen leitet er den nächsten großen Fehler ab, die mangelnde Kommunikation der Vision. Transparenz resp. Klarheit ist demzufolge immer auch mit Blick auf die gemeinsame Vision zu gewährleisten. Die nächste Gelingens-bedingung kann dafür Sorge tragen:
Inspect and Adapt
Experimentierfreude und Neugier wird vielfach in der Management-Fachliteratur als grundlegende Eigenschaft erfolgreicher Manager angepriesen. Diese im professionellen Rahmen auszuschöpfen ist sicherlich nicht zuletzt deshalb tatsächlich empfehlenswert, da dieses Prinzip Spaß verspricht, ein nicht zu unterschätzender motivational wirksamer Faktor. Gleichwohl zeigt uns die empirische Forschung auf, dass der Weg dort nicht enden darf: Der Rubikon bis zum tatsächlichen Handeln ist (entsprechend der gleichnamigen Theorie) noch nicht überschritten, wenn man schon Lust und Neugier verspürt, einen Weg weiterzugehen.
„Nur wenn aus den verschiedenen Wünschen ein dezidierter, vom Willen getragener Entschluss wird, kann die Kluft zwischen einer rein gedanklichen Möglichkeit und dem Beginn einer realen Handlung überschritten werden.“ beschreibt Diethelm Wahl den wichtigen, konkretisierenden und fokus-sierenden Schritt auf dem Weg zum tatsächlichen Handeln im Sinne der intendierten Optimierung. (Wahl 2020, S. 247) Er empfiehlt, Vorsätze so formulieren, dass das angestrebte Handeln so konkret formuliert wird, dass es einer Handlungsanweisung an sich selbst gleichkommt, die sofort umgesetzt werden könnte.
Darüber hinaus sollte der Zeitpunkt des Handelns genau festgelegt werden: „Wir als Steuergruppe werden in der nächsten Lehrerkonferenz am 10. Juni ein World Café zum Thema Agile Schule ausrichten.“ „Wir, Can, Dominik und Ayla, nehmen uns für das nächste Daily Scrum am 3. Mai vor, die Viertelstunde im Stehen einzuhalten; Ayla übernimmt die Zeitwächterfunktion.“
Insofern sind die beiden Säulen Inspect (Überprüfung) und Adapt (Anpassung) (neben der dritten Säule der Transparenz) bei Scrum von fundamentaler Bedeutung: Sie verpflichten zum Schritt über den Rubikon, indem die Anpassung systemisch mitgedacht und kein notwendiges Übel ist, dem man sich wohl oder übel stellen muss, „wenn es mal schief gegangen ist“. Lohnenswert ist es, die Verbindlichkeit zu erhöhen, indem sich das Team auferlegt, den Vorsatz öffentlich zu machen und vom weiteren Weg zu berichten. (Misserfolgs- oder Erfolgsberichte scheinen mir hier wenig passend.) So kann beispielsweise die Steuergruppe in der nächsten Lehrerkonferenz berichten, das Scrum Team stellt sein Vorhaben in der nächsten Wochenrunde mit allen Team-sprecher*innen vor etc.
Kern des Erfolgsprinzips „Inspect and Adapt“ ist aber, fortwährend und in kurzer Frequenz „Lessons learned“ durchzuführen. Was war nicht zielführend, was wollen wir demzufolge nicht mehr tun? Was wollen wir künftig ändern? Was wollen wir (bei-)behalten? Jedes Team kann sich regelmäßig fragen: Was braucht dieses Team? Was wollen wir als Team erreichen? Helfen uns die Dinge, die wir bisher gemacht haben, unser Ziel zu erreichen? Auf Basis des oben empfohlenen Selbstverständnisses als lernende Organisation und einer Ausrichtung auf Optimierung bzw. Qualitätsent-wicklung im Sinne der Vision kann Change- und Wissens-management gelingen.
Erforderliche Rahmenbedingungen für Teams
In agilen Organisationen wird wie oben beschrieben der Produktentwicklungsprozess um das Entwicklungsteam herum organisiert. Das bedeutet, dass viel Energie dafür aufgewendet wird, dem Team gute Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Die hier, im Team selbst, stattfindenden Kommunikationsprozesse sind die Keimzelle der Qualitätsentwicklung. Wenn die o.g. Gelingensbedingungen gewähr-leistet sind, ist Kommunikation so strukturiert, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft entscheiden kann, wo und wie es sich engagieren will. Damit sind die motivationalen Voraussetzungen für aktive Verantwortungsübernahme und damit hohe Identifikation und Anstrengungsbereitschaft gegeben.
Das Erfolgsprinzip, Qualitätsentwicklung stärker von den daran arbeitenden Teams aus zu denken, lässt sich auf das System Schule übertragen. Es lohnt sich mit diesen gemeinsam ein für die konkrete Schule passendes Format zu entwickeln, das für Transparenz und klare Kommunikation mit Blick auf die aktuelle Arbeit an der Qualitätsentwicklung sorgt. Das kann über eine Steuergruppe organisiert sein, die sich aus Vertreter*innen der Teams generiert, es könnte über ein allen zur Verfügung stehendes Entwicklungsboard veranschaulicht werden, wer gerade woran und woraufhin arbeitet, wöchentliche Veröffentlichungen des Entwicklungsstandes im schulinternen LMS sind ebenfalls denkbar. Hier empfiehlt sich, ein eigenes Konstrukt zu entwickeln, da schon der Entwicklungsprozess und die Kommunikation darüber, was für die jeweilige Schule passt, Schulkultur hin zu mehr Agilität verändern kann.
Der Arbeitsprozess des Scrum Rahmenwerks ist geprägt von fest verankerten Phasen des kommunikativen Austauschs. Dieser umfasst explizit auch die Interaktion mit dem Kunden. Die Kommunikation wird durch klare Zeitstrukturen und Ereignisse gewährleistet, zu denen die Beteiligten zusammen-kommen. Auch das lässt sich übertragen auf die Schule: Wenn wir unsere Schüler*innen als „Kunden“ verstehen – was aber sicherlich in jedem Kollegium zur Positionsfindung zu diskutieren wäre (siehe dazu auch Christoph Arn (Arn 2016, S. 233), der explizit ablehnt, Schüler*innen als Kunden zu bezeichnen) – wird durch diese Scrum Rahmenbedingung gewährleistet, dass wir unsere Schüler*innen verlässlich „mitdenken“ und sie beteiligen.
Regelmäßig wiederkehrende (Selbst-)Reflexionen und Bewertungen in kurzen Zeitabschnitten sorgen für flexible und zielorientierte Neuausrichtung. Die sog. Retrospektiven „haben das Ziel, die (Zusammen-)Arbeit eines bestimmten Zeitraums Revue passieren zu lassen und daraus Verbesserungsmaßnahmen abzuleiten. Die operative Arbeit wird bewusst kurz ausgesetzt, um Arbeitsweisen, Abläufe, die Wirkung von Verbesserungsmaßnahmen, das Feedback von Kunden und Kollegen sowie die Stimmung im Team von einer Metaebene aus zu betrachten. Sehr oft wird die Retrospektive vernachlässigt, was mitunter an einer als wenig zielführend erlebten Durchführung liegt. Tatsächlich aber ist die Retrospektive das Herz der Verbesserung und eines der wichtigsten Meetings überhaupt.“ (nach Leopold 2019) In der Lehrer*innenausbildung und im Unterricht sprechen wir schon lange von der Erfordernis regelmäßiger Evaluationen, im System Schule nutzen wir die Reflexion bzw. das Innehalten mit Blick auf Qualitätsentwicklung noch nicht ausreichend.
Eine weitere Empfehlung für Teams beleuchtet deren Zusammensetzung: Um komplexe Aufgaben anzugehen ist es ratsam, dass sich im Team Experten möglichst verschiedener Kompetenzbereiche zusammenfinden. Das gewährleistet Multiperspektivität und effiziente Optimierung. Hier ist es ratsam, die Teams so weit wie möglich in diese Entscheidungen einzubeziehen. In aller Regel bedeutet dies zumindest, Metakommunikation über die Gründe der Zusammensetzung zu gewährleisten. An dieser Stelle verweise ich auf die Konkretisierungen zum Thema Kollaboration: Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Potentialen agiler Prozesse finden sich dazu Empfehlungen im nächsten Abschnitt.
Fazit
Wollen wir Schule agiler gestalten, ist mit der Transformation, die unsere Gesellschaft aktuell erfährt, jetzt der passende Zeitpunkt. Schulleitungen können diesen Prozess initiieren, indem sie ihre Führungsrolle daraufhin hinterfragen, nicht zuletzt mit Blick auf ihre Fähigkeit zu vertrauen. Agilität ist aber vor allem eine Frage des sich Einlassens für jedes einzelne Mitglied der Schulgemeinschaft; sie bedeutet, sich den gemeinsamen Werten und der Sache zu verpflichten und auch ein Misslingen zuzulassen. Es geht in einer agilen Schule nicht darum Schüler*innen und Prozesse 9 to 5 zu verwalten, sondern gemeinsam zu lernen. Ein fortwährendes Überprüfen und Anpassen geht damit einher und ist zugleich Erfolgsgarant. Vertrauen, Partizipation, Fehlertoleranz und Transparenz authentisch zu leben sind weitere unabdingbare Gelingensbedingungen.
Welches Potential geht nun mit der Einführung agiler Prinzipien in Schule einher? Agilität hilft Komplexität zu bewältigen. Ein agiles Team kann Innovationstreiber sein, wenn das System sich für agiles Handeln und Denken öffnet. Darüber hinaus können agile Rahmungen wie Scrum auch die Bedarfe des 21. Jahrhunderts bedienen. Diese These wird im nächsten Abschnitt durch den Abgleich mit konkreten Kompetenzerwartungen belegt.
Literaturverzeichnis
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Wahl , D. (2020). Wirkungsvoll unterrichten in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Scrum in die Schule”. Verfasst von 17 Expertinnen von innerhalb und außerhalb der Schule, gibt dir das Buch konkrete Informationen zum Einsatz der agilen Methode Scrum im Unterricht. Der Ablauf, die Regeln,
die Rollen und die Durchführung werden theoretisch
wie praktisch beschrieben und anschaulich erklärt.
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