Nataliya Levytska
Ein fehlendes Puzzlestück: die Identität der Schüler
Bei Scrum dreht sich alles um das Produkt und das Team, welches sich möglichst effizient und transparent um die Entwicklung des Produktes kümmert, was angesichts der Gewinnmaximierung eines Unternehmens legitim und sinnvoll ist. Natürlich sind auch die Prozesse innerhalb des Teams wichtig, aber im Mittelpunkt steht dennoch das Produkt und seine Entwicklung. Die Vorgaben für ein Produkt werden durch einen Product Owner festgelegt und sie dienen als Ausgangspunkt für die Projektplanung.
Obwohl der Lehrer ausgehend vom Lehrplan die Ziele für den Unterricht im Sinne eines Product Owners vorgibt, geht es in der Schule nicht ausschließlich darum, ein Produkt möglichst effizient zu erstellen, sondern auch um den persönlichen Lernzuwachs sowie Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler. Genau in diesem Punkt besteht die Herausforderung die ursprünglich aus der Softwarebranche stammende Methode des Projekt- bzw. Produktmanagements in den Bildungsbereich zu integrieren. Denn grundsätzlich entsteht dabei ein Konflikt bei der Priorisierung der Ziele, wenn im Produktmanagement die pädagogische Maxime ins Spiel kommt: Produkt vs. Prozess bzw. Team vs. Individuum.
Im “echten” Scrum wird für die Perspektive von einem Individuum im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung keinen festen Platz innerhalb der Team- und Entwicklungsprozessen eingeräumt. Sie erscheint eher zweitrangig und ist der Produktentwicklung untergeordnet. Natürlich tragen die Gruppenbildungsprozesse innerhalb einer Klasse oder eines Teams zur Identitätsentwicklung bei. Allerdings kann man sich erst dann besonders gewinnbringend für alle Beteiligten in einem kollaborativen Prozess engagieren, wenn man sich über eigene Interessen und Stärken wirklich bewusst ist und man dementsprechend seinen Standpunkt selbstbewusst vertreten kann. Unter diesen Umständen kann der persönliche Lernzuwachs ebenfalls besser wahrgenommen und reflektiert werden und nicht nur die Qualität des erstellten Produktes bzw. der Gruppenprozesse.
Durch die Integration dieser Perspektive in die Scrum Methode im Bildungsbereich können die Heranwachsenden nicht nur bei der Identitätsentwicklung unterstützt werden, sondern sie bekommen nützliche Instrumente und Erfahrungen auf dem Weg ins Berufsleben.
Wenn man die Pädagogik im Buchdruckzeitalter und die Pädagogik im digitalen Zeitalter gegenüberstellt und dabei die unten stehende Zusammenfassung von Lisa Rosa und Jöran Muuß-Merholz betrachtet, erkennt man vor allem in den letzten zwei Punkten eine gewisse Diskrepanz zwischen Scrum und zeitgemäßem Online-Lernen. Durch die Einbeziehung der persönlichen Ebene, die in diesem Kapitel ausführlich beschrieben wird, hat zumindest der persönliche Sinn seinen Platz gefunden.
Allerdings erkennt man noch einen weiteren Widerspruch in Bezug auf die Ergebnisorientierung, wenn man die Scrum Methode in die moderne Pädagogik des digitalen Zeitalters integrieren möchte. Die Frage, die sich dabei stellt, ist wie ergebnisoffen der Produckt Owner dabei arbeitet und ob ein festgelegtes Produkt dennoch in diesem Zusammenhang als “zeitgemäß” betrachtet werden kann.

Der Berücksichtigung der persönlichen Ebene wird nicht nur aufgrund dieser Abbildung zwingend erforderlich. Die Entwicklungsorientierung im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung wird auch als einer der zentralen didaktischen Prinzipien für medienpädagogisches Handeln von Tulodziecki hervorgehoben und orientiert sich dabei an dem Stufenmodell der intellektuellen bzw. sozial-moralischen Entwicklung (vlg. Tulodziecki 2019:71ff). Auch die Identitätskonzepte von Havighurst (Entwicklungsstufen und -aufgaben), Erickson (psycho-soziale Entwicklung durch Krisenbewältigung) (vgl. Seidel/Krapp 2014:152ff), oder Montessori (sensiblen Phasen und Entwicklungsbedürfnisse) können dabei als pädagogischer Kompass dienen.
Die persönliche Ebene ist somit eine der zentralen Komponenten, die unbedingt mit einbezogen und berücksichtigt werden muss. Diese Dimension ist durch Selbstreflexion und Selbsteinschätzung gekennzeichnet und erfolgt durch die ehrliche Beantwortung gewisser Leitfragen, die je nach Qualität der Umsetzung sich sowohl als eine irreführende Schatzkarte entpuppen, aber auch als ein Leuchtturm, der den Lernweg und die persönliche Identitätsentwicklung wirkungsvoll begleiten kann.
Wer bin ich? – Identität & Persönlichkeit
Im Idealfall wird die Selbstreflexion nicht nur speziell für das Scrum Projekt durchgeführt, sondern ist als ein festes Ritual im Schulalltag verankert. Ein Schüler startet in ein Schuljahr mit der Erstellung eines Steckbriefes, der die Grundlage für die Selbstreflexion und Selbsteinschätzung legt. Dort schildert er seine:
- Stärken und Schwächen
- Interessen & Hobbies
- Visionen & Träume
- Ängste & Antipathien
- Mediennutzung (Was, wie oft und warum?)
- Sprachkenntnisse
Man kann auch über die Vorbilder nachdenken, die sowohl im persönlichen Kreis zum Nachahmen inspirieren, als auch durch Massenmedien bekannt sind. Auch der Vergleich des erstellten Profils mit dem Image, welches in Social Media präsentiert wird, ist sicherlich spannend.
Da manche Angaben sehr privat sind, müssen sie nicht vor der Klasse vorgestellt werden und auch nicht während des Projektes im Team besprochen werden. Sie können allerdings in Lernentwicklungsgesprächen als Grundlage zur Beratung herangezogen werden.
Je nach Ziel des Scrum Projektes können diese Angaben natürlich reduziert werden und als eine Orientierung für die Findung eigener Rolle innerhalb des Teams helfen. Auch die Versuchung, seine Authentizität zugunsten des Cliquendrucks oder anderen Einflussfaktoren aufzugeben, kann dadurch abgeschwächt werden.
Was kann ich? Wissen & Kompetenzen
Im nächsten Schritt werden die Selbsteinschätzungen der Schüler bezüglich der Kompetenzen mit Hilfe von einer Skala (oder Smileys :)) ermittelt, die personal-emotionalen, soziale-kommunikativen sowie fachlich-methodischen und natürlich die KMK-Kompetenzbereiche, die speziell auf die digitale Welt ausgerichtet sind. Wenn für das Scrum Projekt ein spezieller Bereich thematisiert wird, kann der Lehrer die konkreten Kompetenzen für die Selbstreflexion hervorheben. Der Stoffverteilungsplan anhand vom Lehrplan wird dadurch individualisiert und autonom von jede*r Schüler*in für sich ausgearbeitet, je nach persönlichen Stärken und Schwächen und Schwerpunkten des Projektes. So können die Schüler*innen sich mit den Anforderungen der Lehrpläne auch kritisch auseinandersetzen.
Sinnvoll wäre es auch nach der persönlichen Einschätzung, dass der Lehrer von seinem Standpunkt aus die Kompetenzen der Schüler beurteilt. Dies kann auch im Rahmen der Leistungsbeurteilung stattfinden, wenn man über den Lern-zuwachs gemeinsam reflektiert. So wird die subjektive Selbsteinschätzung mit der Fremdeinschätzung verglichen und ggf. eine verzerrte Wahrnehmung festgestellt – auch seitens der Lehrer oder einer weiteren Bezugsperson. An dieser Stelle ist es wichtig, über die Ursachen der Verzerrung zu sprechen.
Die Entwicklung wird somit nicht nur auf Leistung reduziert, sondern auch Softskills, Hobbies, soziales Engagement können dabei gewürdigt und thematisiert werden. Dies kann natürlich aus Zeitgründen nicht im Rahmen des Scrum Projektes realisiert werden, wäre aber denkbar, wenn der Steckbrief des Schülers ihn im Laufe des Schuljahres z.B. im Rahmen eines Portfolios begleitet und die Weiterentwicklung der oben genannten Bereichen dokumentiert.
Was will ich lernen? Prozesse & Ziele
Die Frage lautet bewusst im Sinne von WOLLEN und nicht MÜSSEN und orientiert sich dabei nach Erkenntnissen von Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan (Self-Determination Theory, SDT), die eine sowohl prozess- als auch inhaltsorientierte Motivationstheorie entwickelt haben. Demnach “hängt die Motivation für ein bestimmtes Verhalten immer davon ab, inwieweit die drei psychologischen Grund-bedürfnisse nach Kompetenz, sozialer Eingebundenheit und Autonomie befriedigt werden können. (…) Unter Kompetenz wird dabei das Gefühl verstanden, effektiv auf die jeweils als wichtig erachteten Dinge einwirken zu können und entsprechend gewünschte Resultate zu erzielen.”
Eine ernste Auseinandersetzung mit den ersten beiden Leitfragen bietet eine solide Grundlage, um eine Orientierung der eigenen Weiterentwicklung im Zusammenhang mit dem aktuellen Projekt in Einklang zu bringen. Man soll einerseits vordergründig den persönlichen Sinn bei der Auswahl der Lernziele und der Aufgaben innerhalb des Teams erkennen und verfolgen, um die effiziente Kompetenzförderung zu ermöglichen. Andererseits müssen das Produkt sowie die dazu erforderlichen Prozesse innerhalb der Gruppe im Auge behalten werden. Obwohl im Idealfall die Schüler diese Aufgabe möglichst selbstständig bewältigen sollen, sollten sie im Notfall dennoch eine Unterstützungsmöglichkeit haben, sowohl bei der Rollenfindung basierend auf den erstellten Profilen innerhalb einer Gruppe als auch bei der Gruppenbildung.
Rolle des Lehrers als Product Owner sowie die Rolle des Scrum Masters
An dieser Stelle ist der Lehrer nicht nur als Product Owner gefragt, der durch eine geeignete Themenwahl eine spannende Herausforderung für seine Lerngruppe aussucht und durch geschickte Impulse und Rahmenbedingungen eine fördernde Lernumgebung vorbereitet, sondern auch als Personal Coach. Er unterstützt nur in dem Fall, falls Hilfe benötigt wird, greift aber nicht aktiv ein. Eine sinnvolle Ergänzung an dieser Stelle wäre der Einsatz von längst ins Leben gerufenen, aber kaum praktizierten multiprofessionellen Teams mit einem Schulpsychologen oder Sozialpädagogen. Sie übernehmen als Außenstehende die Rolle des Scrum Masters, die für die Sicherung der Prozessqualität und nicht für die Fachinhalte verantwortlich sind. Somit ist ihre Anwesenheit vor allem am Anfang des Projektes sowie bei Dailys in erster Linie notwendig.
Da die Realität an den Schulen oft diese Ressource nicht bieten kann, wäre auch der Einsatz eines Klassenlehrers in dieser Rolle denkbar, der seine Klasse bzw. einzelne Schüler mit besonderem Förderbedarf, egal ob emotional oder kognitiv, theoretisch besser kennt als ein Fachlehrer. Sollte diese Aufgabe einem Schüler übertragen werden, ist dabei zu bedenken, dass er als “echter Scrum Master” sich nicht an den fachlichen und inhaltlichen Prozessen beteiligen darf und somit über ganz andere Kompetenzen verfügt und andere Ziele verfolgt, als der Rest der Klasse bzw. der Kleingruppe, was ihn somit in eine Sonderstellung drängt. Eine freiwillige Übernahme kann dieser Rolle auch Potential zur Kompetenzförderung sowie Persönlichkeitsentwicklung bieten und wertvolle Erfahrungen ermöglichen. Allerdings wäre es sinnvoll, wenn man die Grundkompetenzen dafür mitbringt, die man z.B. bei der Streitschlichter-Ausbildung bereits in der Grundschule erwerben kann. Alternativ kann man im Voraus mit der ganzen Klasse einen Leitfaden für die erfolgreiche Arbeit eines Scrum Masters besprechen, bevor jeder einzelne in dieser Rolle schlüpfen darf.
Gezieltes Matching bei der Teambildung und abschließende Reflexion
Die Erarbeitung der drei Kernfragen des Formates: Was bin ich? Was kann ich? Was will ich lernen? wird vermutlich einen längeren Zeitraum am Anfang des Projektes in Anspruch nehmen. Aber auch das ist ein wichtiger Lernprozess, der einen Schutzraum braucht und eine Grundlage für den effizienten Einsatz jedes einzelnen Schülers bildet sowie höchstwahrscheinlich den Anteil der Trittbrettfahrer reduziert (vgl. die Selbstbestimmungstheorie). Wenn dieses Ritual im Schulalltag fächer-übergreifend verankert ist, spart man natürlich an dieser Stelle jede Menge Zeit.
Das Ergebnis – ein persönliches Kompetenzprofil mit individuellen Wunschangaben – wird nun mit Anforderungen des Projektes verglichen. Ausgehend von den angegebenen persönlichen Interessen, Kenntnissen, Kompetenzen und Wünschen kann man sich nun mit anderen Lernern vernetzen. Es geht auf dieser Ebene um Kooperation, Kollaboration und Organisation der Lernprozesse. Man kann einerseits Gleichgesinnte für ein bestimmtes Vorhaben suchen, die die gleichen Interessen teilen. Oder man sucht für einen Sprint die im Team “fehlende” Kompetenzen, um das Geplante erfolgreich umzusetzen. Außerdem besteht die Möglichkeit sich als Experte in einem Bereich zu positionieren, um Hilfe beim Lernen anzubieten und eventuell die gesuchte Kompetenzen im Crashkurs dem Team beizubringen. So besteht viel mehr Transparenz bei der Gruppenbildung und die vorhandenen personellen Ressourcen können tatsächlich effizient und zielführend eingesetzt werden.
Sobald das vereinbarte Ziel “Done” erreicht und besprochen wurde, wird abschließend der persönlicher Lernzuwachs reflektiert. Es ist je nach Klassensituation und -konstellation pädagogisch zu entscheiden, ob es individuell im Rahmen der Selbst- und Fremdbewertung der Leistung geschieht, in der jeweiligen Kleingruppe besprochen oder vor der ganzen Klasse präsentiert wird. Neben dem Produkt, was die ganze Klasse erstellt hat, sind ganz individuelle Lernportfolios entstanden, die mit unterschiedlichen Werkzeugen erstellt und weitergeführt werden können. Ob man den klassischen Steckbrief oder ein Tagebuch nutzt, oder digitale Tools wie Bookcreator, Mahara.org oder WordPress für geeigneter hält – das hängt ab von
- diversen, hierfür notwendigen Kompetenzen der Schüler,
- der technischen Ausstattung der Schule,
- sowie pädagogischer und fachlicher Kompetenz der Lehrer, diese Orientierungshilfe in den Lernprozess einzubinden.
Ob im Rahmen der Scrum Methode oder im Allgemeinen – das bleibt natürlich auch jedem einzelnen Lehrer überlassen. Es hängt vor allem davon ab, ob das vorgegebene Produkt im Einzelnen bzw. der Lehrplan im Allgemeinen oder die Persönlichkeitsentwicklung entsprechend der individuellen Bedürf-nisse der Schüler höhere Priorität in seiner täglichen Arbeit haben.
Quellen
- Asubel, D. P. (1960): The use of advance organizers in the learning and retention of meaningful verbal material. Journal of Educational Psychology, 51, 267-272
- Hasselhorn, M. & Gold, A. (2006): Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren. Stuttgart: Kohlhammer.
- Seidel T., Krapp A. (Hrsg.) (2014): Pädagogische Psychologie. Beltz Verlag, Weinheim Basel
- Tulodziecki, G., Herzig, B., Grafe, S. (2019): Medienbildung in Schule und Unterricht. Grundlagen und Beispiele. Julias Klinkhardt Verlag. Bad Heilbrunn
- Theorien des Lernens. Folgerungen für das Lehren. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung https://www.isb.bayern.de/download/1542/flyer-lerntheorie-druckfassung.pdf Stand: 30.08.2020

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Scrum in die Schule”. Verfasst von 17 Expertinnen von innerhalb und außerhalb der Schule, gibt dir das Buch konkrete Informationen zum Einsatz der agilen Methode Scrum im Unterricht. Der Ablauf, die Regeln,
die Rollen und die Durchführung werden theoretisch
wie praktisch beschrieben und anschaulich erklärt.
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