Kathrin Jostarndt, Kristina Fritsch
In den letzten Wochen und Monaten ist der Begriff der Agilität und des agilen Lernens mehr und mehr in den Fokus gerückt, im schulischen Bereich hat sicherlich die umfassendere Zunahme von Lernen-auf-Distanz-Angeboten und die vermehrte Entdeckung von Formen selbstorganisierten Lernens ihren Anteil daran.
Die Bedeutung von Agilität in der Schule
Was bedeutet demnach eine agile Schule, die sich mit den Grundgedanken des eduSCRUM® Rahmenwerks beschäftigt und versucht diese zu leben? Grundsätzlich geht es sicher darum, flexibel und viel weniger hierarchisch zu agieren, nicht allein prozessorientiert, sondern gemeinsam mit allen Stakeholdern an einer agilen Haltung zu arbeiten. Das bedeutet dies auch zu leben und dabei „proaktiv, antizipativ und intuitiv zu agieren, um notwendige Veränderungen einzuführen“ (Fischer et al.: Agilität als höchste Form der Anpassungsfähigkeit).
Gerade diesem Grundgedanken des „Selbst-Innovativ-Seins“, des ständigen Lernens und des Zurverfügungstellen von Wissen, trägt das eduSCRUM® Rahmenwerk Rechnung.
Hier zeigt sich insbesondere, wie flexibel das an Scrum orientierte Methodenrahmenwerk in der Schule eingesetzt werden kann. Natürlich bietet das Rahmenmodell eine Grundlage für die Gestaltung von Zusammenarbeit. Dies ist jedoch nicht als „feste“ und damit fixierte Vorlage zu verstehen, sondern kann agil an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Dabei sollte man Schema/Konstrukt/Konzept natürlich nicht beliebig und bis zur Unkenntlichkeit zu modifizieren. Es besteht stets die Voraussetzung, dass die Lernenden und der Lernprozess im Mittelpunkt der jeweiligen Anpassung des methodischen Rahmenwerks sind. eduScrum® dient ausdrücklich nicht zur Möglichkeit eines Micro-Controllings, sondern bleibt ein Rahmengerüst, das wie erwähnt auch erweitert und gekürzt werden kann. Ein Beispiel wäre, neben der „Definition of Done“ und der „Definition of Fun“ im Rahmen von digitalen Unterrichtssettings auch eine „Definition of Communication“ zu ergänzen, die die Regeln der Online-Arbeit transparent macht.
Selbstorganisierte Lernenden-Teams & positive Fehlerkultur
Adaptive Planung und schnelle Abstimmung im Team sind somit auch ein Schlüssel zur Umsetzung agiler Herausforderungen. Das geht vor allem auch damit einher, dass möglichst wenige und überschaubare Regeln gelten und sich das Team vorwiegend selbst organisiert. Ob das immer klappt? Sicher nicht, aber es gehört auch zur Selbstorganisation agiler Teams, aus gemeinsamen Fehlern zu lernen und gemeinsam neue Wege zu beschreiten, also „an das individuelle Projekt anzupassen, einzelne Methoden (vorerst) wegzulassen oder stärker zu führen und mit zunehmender Erfahrung der Schülerinnen und Schüler weitere agile Techniken und Praktiken hinzuzufügen.“ (Brichzin et al. (2019): Agile Schule, S. 98)
Im Rahmen der Celebration Criteria, auch Akzeptanzkriterien genannt, schnüren die Teilnehmenden ihre eigenen Arbeitspakete. Damit leistet die Arbeit mit eduScrum® auch einen Beitrag zur Entwicklung und Förderung einer positiven Fehlerkultur.
Positive Fehlerkultur – das hört sich immer immens wichtig an. In agilen Lernsettings wird der Rahmen „neu“ definiert, da sie nach neuen Strukturen verlangen. Unterricht wird damit zu einer weitgehend hierarchiefreien Zone, ohne dass damit Lehrer*innen und Schüler*innen gleichgesetzt werden. Das würde dem Grundgedanken nicht genug Rechnung tragen und könnte zu einer Überlastung von Schüler*innen führen. Es gibt aber viele Möglichkeiten, Schüler*innen im Rahmen agiler Settings zu beteiligen und ihnen die Verantwortung für ihren Lernprozess und ihre -settings zu geben. Ein Beispiel sind für uns die kurzen agilen Projekte, die am Beginn einer eduScrum®-Session stehen und die den Schüler*innen erlebbar vermitteln sollen, wie alle mit eduScrum® arbeiten können. Neben der Stärkung von Teamgeist und Motivation und Spaß am eigenen Handeln erfahren die Schüler*innen auch „dass konkrete Fehler, erfahrene Schwierigkeiten und als falsch erkannte Annahmen wertvoll sind für die Entwicklung von Verbesserungsideen, und machen dies in kurzen Iterationen erlebbar“ (Brichzin et al. 2019, S. 132). Anhand dieser kurzen agilen Spielsequenzen zeigt sich den Schüler*innen direkt, welche agilen Werte mit dieser Vorgehensweise gelebt und erfahrbar werden.
Es ist schon beeindruckend, wenn Schüler*innen nach der Spielerfahrung in ihren Arbeitsteams ihre „Definition of Fun“ bestimmen und dabei, oft ohne es zunächst zu wissen, agile Werte wie Respekt, offene Kommunikation oder Commitment aufnehmen.
Das zeigt, wie sehr Agilität vor allem erfahrbar ist! Ob und für welches Spiel man sich entscheidet, bleibt natürlich jedem selbst überlassen, da verschiedene Lerngruppen natürlich auch unterschiedliche Bedarfe haben.
Ein Beispiel wäre die Papierflieger-Challenge, bei der Papierflugzeuge innerhalb eines kurzen Zeitfensters erstellt werden, die zuvor definierten Kriterien entsprechen müssen (haben stumpfe Spitze, fliegen mindestens vier Meter weit etc.). Die Kriterien der einzelnen Spiele sind wandelbar, viel wichtiger für das Eintauchen in eduScrum® ist die Erfahrung aus den Teambesprechungen (nach Planung und Durchführung). Dort wird der neue „Produktionszyklus“ anhand möglichst konkreter Verbesserungsmaßnahmen besprochen, und bereits hier geht es dann darum, wie man Situationen, die zunächst nicht zufriedenstellend sind, gemeinsam lösen kann. Oft, und wir haben es auch selbst mehrere Male gespielt, steigern sich im Laufe von drei Durchgängen sowohl die Quantität als auch die Qualität der Produkte, es werden also immer mehr Papierflugzeuge produziert, die es schaffen mindestens vier Meter weit zu fliegen.
Warum wir hier so ausführlich davon berichten? Weil sich bereits in den Grundlagen erfahren lässt, was eduScrum® ist und wie hier gemeinsam gearbeitet werden kann. Viel wichtiger als ein theoretischer Vortrag ist für die Schüler*innen das eigene Erleben, weil damit aus Sicht der Lernpsychologie andere Kanäle angesprochen werden, die in ihrem Anspruch auf Ganzheitlichkeit hinaus-laufen.Prüfformen &
Kompetenzförderung: eduScrum® kann diese erweitern
eduScrum® ist dabei mehr als eine neue Form von Projektarbeit oder die direkte Übertragung von Scrum als einem Modell aus der Wirtschaft in die Schule. Schule lebt von und mit gewissen Regularien. Das beinhaltet zum Beispiel eben auch das Schreiben von Klausuren, Klassen- und Prüfungsarbeiten. In diese Regularien greift das methodische Rahmenwerk eduScrum® nicht ein. Es eröffnet jedoch die Möglichkeit, Prüfformen anders oder neu im Rahmen eines eduScrum®-Projektes zu gestalten oder einzubinden. Das Rahmenwerk eduScrum® beansprucht für sich, alltags- und unterrichtstauglich zu sein und dabei „die anfallende Lernarbeit geschickt im Team zu planen und zu erledigen“ (Stolze 2017: Alles eduScrum, oder was?!). Dabei geht es nicht um den schnellen Output von Wissen, sondern „durch Stärkung der Teamfähigkeit und Anpassungsfähigkeit auf die Herausforderungen von morgen vorbereiten und die 4 C´s stärken: Communication, Collaboration, Creativity und Critical Thinking.“ (Ebd.) 2013 während eines Vortrags auf der Re:publica durch Andreas Schleicher (Mitarbeiter OECD) vorgestellt, hat das sogenannte 4’K Modell aus dem U.S.-amerikanischen Bildungssystem auch in Deutschland Zuspruch gefunden. In diesem Modell werden Kommu-nikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken als Kernkompetenzen des 21. Jahrhunderts definiert. Ins-besondere mit Blick auf die Ausbildung der Kompetenzen zur Kollaboration und Kommunikation erscheint die Anwendung von agil-kooperativen Lernformen wie eduScrum® sinnhaft.
Mit Mut zum geordneten Chaos
Für Lehrende hat die Arbeit mit eduScrum® aus unserer Sicht einen deutlichen Mehrwert. Durch die Dailys, Retros und Reviews erhalten wir einen Einblick in die Arbeitsweisen unserer Schüler*innen und können dabei erfahren, wie Schüler innerhalb eines vorgegebenen Rahmens ihre Arbeit immer selbstständiger organisieren und wie im gemeinsamen Diskurs neue Ziele gesteckt werden, einiges verworfen wird und wie unterschiedlich Herangehensweisen an Themen aussehen können. Der zunehmende Kompetenzzuwachs zeigt sich deutlich in der Leistung der Schüler*innen. Dazu müssen wir zu Beginn der Arbeit mit eduScrum® sicher mehr unterstützen als dies bei erfahreneren Schüler*innen der Fall ist. Für uns hat es sich als sinnvoll erwiesen, den Schüler*innen für die Retros und Reviews etwas an die Hand zu geben wie Auswertungsbögen für die eigene Arbeit und die Arbeit in der Gruppe.
Klappt das alles beim ersten Mal? Natürlich fast nie. Es lohnt sich trotzdem, Vertrauen in die Fähigkeiten der Schüler*innen zu haben, denn natürlich brauchen sie Übung im Umgang mit dem Verfahren und dazu braucht es eben ein wenig Zeit. Nach unseren Beobachtungen kommen Schüler*innen mit dem gemeinsam besprochenen Material gut zurecht.
Warum es dann doch so viel Einfachheit in der Struktur braucht? Weil der eduScrum®-Prozess an sich schon sehr intensiv ist und die Schüler*innen herausfordert, und gerade zu Beginn ist eine Fokussierung auf den Prozess wesentlich und hilfreich. Im weiteren Prozess oder in weiteren eduScrum® Sprints / Lernabschnitt können und sollen die Erfahrungen von Lehrern und Schülern einfließen, so dass eine gemeinsame Weiterentwicklung der Arbeitsform im Unterricht stattfinden kann. Als Lehrer wird man im Rahmen des Prozesses eher zum Lernbegleiter und zum Berater, der den sicheren Blick auf das Flap behält und in regelmäßigen Abständen mit den Schülern schaut, wie sich die gemeinsame Arbeit entwickelt.
Dabei erfordert es eine Menge Fingerspitzengefühl, um zu schauen, zu welchen Punkten man mit den Schülern ins Gespräch geht. eduScrum® ist, wie eingangs formuliert, von einer fehlerfreundlichen Kultur geprägt, Schüler sollen also durchaus Fehler machen dürfen und diese im Idealfall auch selbst erkennen und gemeinsam in ihrem Team an einer Lösung arbeiten. Falls sich die Arbeit in einem Team aber in eine wenig förderliche Richtung entwickelt, ist es schon Aufgabe des Lernbegleiters zielgerichtet mit der Gruppe ins Gespräch zu gehen und gemeinsam an der Optimierung zu arbeiten. Oft helfen kleine Impulse zum Weiterkommen und die Schüler lernen, dass sie etwas zum Projekt beitragen und das aus Fehlern durchaus Produktives entstehen kann.
Was Förtsch und Stöffler über Schulentwicklungsprozesse schreiben, lässt sich unseres Erachtens durchaus auch auf den Unterricht übertragen: „Es braucht Strukturen, die dem Chaotischen Raum gewähren, ja geradezu eine Form des geordneten Chaos generieren. Nur dann, wenn wir Raum für Chaotisches schaffen, entsteht etwas, in dem sich Neues ereignen kann.“ (Förtsch/Stöffler 2020, S. 54). Diesen Raum können wir als Lehrer durchaus gewähren, denn im Gegenzug lernen unsere Schüler selbstbestimmt zu arbeiten, in heterogenen Teams konstruktiv mit Konflikten umzugehen und somit Verantwortung für ihr eigenes Tun und Handeln zu übernehmen.
„Anfangs erscheint das Arbeiten oft etwas chaotisch, aber langfristig ist es intensiver, nachhaltiger und macht beobacht-bar mehr Spaß. Lehrkräfte berichten, dass agil lernende Klassen schneller sind und in kompetenzorientierten Prüfungen im Schnitt besser abschneiden“ (Brichzin et al. 2019, S. 199). Das konnten wir in unserer Arbeit mit verschiedenen Teams und Klassen immer wieder erfahren: Wie aus anfänglichem Chaos und manchmal völliger Irritation produktive Teams entstehen, die mit viel Spaß und Motivation unglaublich gut zusammenarbeiten und dabei über sich selbst hinauswachsen. Wie Schüler es schaffen, sehr zielgerichtet und auch ehrlich miteinander zu kommunizieren, dabei aber sachlich zu argumentieren und sich gemeinsam weiterzuentwickeln und ganz nebenbei ein tolles (Lern-)Produkt entstehen lassen. Immer wieder toll zu beobachten
Lohnt sich die Arbeit mit eduScrum®?
Aus unserer Sicht absolut. Und es gibt so viele Möglichkeiten, im kleinen Rahmen anzufangen und die Schüler an eduScrum® heranzuführen, die erste Einheit sollte nicht zu lang sein. Es gibt inzwischen so viele Handreichungen, so viel gut verfügbares Material, verschiedene Fortbildungen und Seminare, die zu eduScrum® angeboten werden: Jeder wird fündig! Und auf Twitter und Instagram findet man ein wunderbares „Online-Lehrerzimmer“ unter dem Hashtag #twlz und #instalehrerzimmer, in denen man sich sehr gut vernetzen, Erfahrungen austauschen und Unterstützung erfahren kann.
Quellen
Brichzin, P. et al (2019): Agile Schule. Methoden für den Projektunterricht in der Informatik und darüber hinaus. Bern: hep-Verlag.
Fischer, S. (2016): Agilität als höchste Form der Anpassungsfähigkeit. https://www.haufe.de/personal/hr-management/agilitaet/definition-agilitaet-als-hoechste-form-der-anpassungsfaehigkeit_80_378520.html (31.7.2020)
Flieg, J. (2019): Agiles Projektmanagement. So funktioniert Scrum. https://www.business-wissen.de/artikel/agiles-projektmanagement-so-funktioniert-scrum/ (31.7.2020)
Förtsch, M./ Stöffler, F.(2020): Die agile Schule. 10 Leitprinzipien für Schulentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung. Hamburg: AOL-Verlag.
Stolze, A. (2017): Alles eduScrum, oder was ?! – eduScrum Deutschland ist 2017 auf Roadshow. https://www.teamworkblog.de/2017/06/alles-eduscrum-oder-was-eduscrum.html (29.7.2020)

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Scrum in die Schule”. Verfasst von 17 Expertinnen von innerhalb und außerhalb der Schule, gibt dir das Buch konkrete Informationen zum Einsatz der agilen Methode Scrum im Unterricht. Der Ablauf, die Regeln,
die Rollen und die Durchführung werden theoretisch
wie praktisch beschrieben und anschaulich erklärt.
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