Christof Arn – Mai 2020
Bestimmte Forschungsrichtungen legen nahe: Burnout kommt eher von zu viel Anpassung als von zu viel Arbeit (Bardill 2012). Zu viel Arbeit ist dann bloss die Folge von zu viel Anpassung.
Es lohnt sich, diese Erkenntnis sorgfältig abzuwägen: Was könnte das bedeuten, wenn es so wäre? Wenn es gar nicht darum ginge, sich primär gegen zu viel Arbeit zu wehren, sondern dagegen, immer mehr Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun wollen würde? Sondern darum, diejenigen Dinge zu tun, die man wirklich will – und vor allem: diese Dinge auch so zu tun, wie man sie selbst wirklich tun will.
Also: Immer mal wieder raus aus der Anpassung! Damit man aus dieser eigenartigen subtilen Fremdbestimmung – und der Anpassungsdruck ist ja schon auch systemisch hoch! – herauskommt, braucht man eine Idee, wie man das macht. Ein Beispiel:
Ich wurde angefragt, Ethik in einer Pflegeausbildung zu unterrichten. Mich hat das interessiert – auch als Herausforderung, weil ich sonst mehr in der Weiterbildung unterwegs bin. Zu diesem Ethikmodul bestand ein fixer Modulbeschrieb. Da ich viel davon verstehe, was Pflegende an Ethik in der Praxis wirklich brauchen, wollte ich mit der Auftraggeberin darüber reden, an welchen Stellen eine gewisse Anpassung des Modulbeschriebs Sinn machen könnte. Ich erhielt einen Termin bei ihr – und ein freundliches »Niet!«. Ehrlich informierte sie mich darüber, dass dies (wörtlich!) mein »Korsett« sei, in dem ich den Ethikunterricht zu gestalten habe. Ich steckte das weg und dachte weiter darüber nach.
Nun kam mir die Idee: Mental in meinem Kopf zerknüllte ich den Modulbeschrieb – ich stellte mir das plastisch vor – und warf ihn in eine Ecke meines Büros. Weg war er. Dann holte ich mir ein leeres Stück Papier und schrieb auf, was ich in diesem Modul machen würde, wenn ich die Verantwortung dafür übernehmen würde. Das war in weniger als einer Viertelstunde notiert. Dabei war sogar ein Grobablauf für dieses Modul entstanden – das die eine oder andere schlaue Idee enthielt, die mir nur dank der Freiheit vom zerknüllten Modulbeschrieb gekommen war, da bin ich sicher. Ich schaute das alles nochmals an und war echt zufrieden. Mein Widerstand war gestählt – und ein sinnvolles Modul war erfunden. Nun, aus dieser sicheren Position holte ich quasi mental den Modulbeschrieb wieder aus der Ecke des Büros, glättete das Papier in meiner Vorstellung und las nun diesen Modulbeschrieb nochmals durch. Da realisierte ich: Wenn man genau hinschaut, deckt mein Grobablauf alles ab – einfach in einer etwas ungewöhnlichen Art und Weise und mit deutlich anderen Gewichtungen. Bei alledem realisierte ich, dass über die Gewichtungen im Modulbeschrieb ja gar nichts festgelegt war – und auch über die Prüfungsinhalte nicht! Also, alles paletti!?
Nein, da war ein Thema, das im Modulbeschrieb vorgeschrieben war, in meinem Grobablauf aber nicht vorgesehen. Weil: Ich halte es aus guten Gründen für zu wenig bedeutsam, wenn es darum geht, Ethik im Pflegealltag zu machen. Ich finde das Thema nicht uninteressant, aber als Ethiker mit viel Erfahrung mit praktischer Medizin- und Pflegeethik muss ich sagen: Dieses Thema ist komplex, wenn man es ernst nimmt, und gemessen am Aufwand, den das bedeuten würden, dann doch zu wenig praxisrelevant. Also, doch ein Problem! Wie gehe ich damit jetzt um? Da beschloss ich einfach, grosszügig wie ich manchmal bin, dass ich ganz gegen Ende des Moduls eine halbe Stunde über dieses Thema sprechen werde. Ich werde auch meine Meinung zur (Nicht-)Bedeutung dieses Themas im Pflegealltag sagen, aber dezent und umgekehrt auch zum Ausdruck bringen, dass ich selbst das Thema an sich durchaus interessant finde. Nun: Jetzt kann niemand mehr sagen, ich hätte das Thema nicht behandelt! Damit war nun wirklich alles klar und ich habe das Modul so durchgeführt. Ich war damit selbst ganz zufrieden und auch die Feedbacks waren gut. Die Auftraggeberin hat zumindest nie reklamiert. Ich erinnere mich gerne an all das und habe für mich ich die Erkenntnis daraus gezogen: »Es gibt eigentlich nie Ärger, wenn man besser unterrichtet, als der Modulbeschrieb erlaubt.«
Um glücklich zu werden und gesund zu bleiben oder zu werden, möchte ich gerne dazu einladen, für sich auch einen solchen Weg zu finden:
- Überlege Dir, wo in Deiner Arbeit Du eigentlich (ein bisschen oder ein bisschen sehr) unzufrieden, genervt, gelähmt bist. (Das kann, wie bei mir, Lernziele/den Lehrplan betreffen, aber auch alles andere: Vorgaben betreffend Dokumentation, Elternarbeit, Infrastruktur, was auch immer!)
- Nimm mal einfach genau diesen Teil Deiner Arbeit und überlege Dir, wie ungünstig eigentlich die Rahmenbedingungen dafür sind und wie gross zugleich der Anpassungsdruck. Aber überlege Dir das nur kurz und präzise. Schmeiss nachher all diese Rahmenbedingungen mental weg. Gib diesem neuen Zustand, der also ohne äussere Einschränkungen ist, ein inneres Bild: »Ich bin nun gerade mal mich, mein Chef, seine Chefin und der Bundespräsident in Personalunion und lege jetzt fest, wie man das richtig macht!« Oder so ähnlich. Nimm Dir bisschen Zeit, herauszufinden, was Dein Bild dafür ist, dass Du, genau Du, als Expert*in für das, was Du tust, jetzt sagst, wie das läuft.
- Schreib Dir auf, wie Du es dann machen würdest. Nicht zu detailliert, aber klipp und klar. Geniesse das und lass die Ideen purzeln!
- Schau das Ergebnis an und erfreue dich daran. Aha, ein*e solche Expert*in bist Du! Wow, eine spannende Idee, wie man diese bislang eher mühselige Sache höchst sinnvoll anpacken kann!
- Hol erst jetzt die ungünstigen Rahmenbedingungen wieder mental hervor. Schau ganz genau hin, wo vielleicht, wenn man das alles bisschen schlau interpretiert, gar kein Widerspruch besteht! Schau sehr genau hin an Stellen, wo doch ein kleiner oder grosser Widerspruch besteht. Werde an diesen Stellen kreativ und finde Lösungen – evtl. sind es Kompromisse, evtl. aber auch kreative Formen des Umgangs mit Widerspruch.
- Riskier auch bisschen was: Wenn Du besser unterrichtest, als die Rahmenbedingungen erlauben würden, kann es gut sein, dass niemand wirklich reklamiert – nicht mal der Chef, weil der ja vielleicht auch froh ist, wenn Mitarbeitende im Interesse der Aufgabe Verantwortung mutig tragen.
- Pack den Kampf mit den Rahmenbedingungen nur gezielt und eher gemeinsam mit anderen (Adminus 2020) an als alleine: »Choose your battles wisely.« (C. JoyBell C.)
Interessanterweise gibt es hier eine Parallele zu guten Lernzielen (mehr im Buch zur »agilen Didaktik«, vgl. Arn 2020, Seiten 94–111): Gute Lernziele seitens der Lehrenden kommen aus ihrem Herzen, nicht aus der Theorie. Lernende spüren, wenn Lehrende mit ihnen das tun, wovon sie überzeugt sind, dass es Sinn macht. Dann springt der Funke über. Dann kann man viel eher gemeinsam glücklich und gesund sein.
Apropos gemeinsam: Klar, es gibt immer auch Arbeit, die einfach vor allem Arbeit ist. Aber wenn der Funke springt, wenn man gemeinsam unterwegs ist, kann man diese Arbeit auch bisschen aufteilen, nicht? Wer sagt eigentlich, dass die Lehrer*in alles machen muss, was umständlich oder mühsam ist? Lernende helfen gerne; wenn es Kinder sind, ihre Eltern manchmal auch. Wenn die Lernenden die Lehrperson spüren, in dem was sie tut, wenn Ziele so zu nicht nur kognitiv, sondern auch emotional zu »geteilten Zielen« (Hattie, z.B. im Helix 2019b, Seite 10) werden, dann wird man zu einem Team, das zusammenarbeitet: Bildung als Kollaboration (Helix 2019a).
Zu der Arbeit, die einfach Arbeit ist, gehört z.B. das bisweilen etwas mühselige Bedienen von Learning Management Systemen LMS, oder der Versuch, die Übersicht zu behalten über all die Aufgaben, die laufen – über die eigenen wie über diejenigen der Lernenden. Wo lassen sich solche und andere umständliche und unangenehme Dinge vereinfachen, anderen übergeben, oder gar weglassen (Baumgartner 2020)? Das klappt weniger gut, wenn man meint, primär weniger arbeiten zu sollen. Das klappt besser, wenn man merkt, was man wirklich will (vgl. Burnett, Evans 2016): tolle Arbeit von Herzen leisten. Und Freizeit geniessen.
Literatur
Adminus (2020): Eigenverantwortung statt Bürokratie. URL: UN01 Aufruf: 31.5.2020
Arn, Christof (2020): Agile Hochschuldidaktik. 3. Auflage, Beltz Verlag (UN02)
Bardill, Sina (2012): Was Burn-out mit Anpassung zu tun hat. URL: UN03, Aufruf: 31.5.2020)
Baumgartner, Matthias (2020): Die vier Stunden Woche. URL: UN04, Aufruf: 31.5.2020
Burnett, Bill und Evans, Dave (2016): Mach was du willst. URL: UN05 , Aufruf: 31.5.2020
Helix (2019a): Agile Haltung. In: Helix, Ausgabe 1, 2019, URL: UN06, Aufruf: 31.5.2020
Helix (2019b): Hattie sichtbar machen. In: Helix, Ausgabe 2, 2019. URL: UN07, Aufruf: 31.5.2020

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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