Björn Nölte – Juni 2020
Gesellschaftliche Entwicklung
Unsere Schülerinnen und Schüler wachsen in einer Gesellschaft auf, die zunehmend durch allgegenwärtige Bewertung gekennzeichnet ist. Diese kommt oft in einfachen Formen daher, etwa mit Sternchen, Likes und Followern in den Sozialen Netzwerken, Skalen von 1 bis 6 oder 10 oder ähnlichem. “Ratings und Rankings, Scorings und Screenings trainieren uns Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata an, die sich zunehmend an Daten und Indikatoriken ausrichten.” (Steffen Mau) In vielen Bereichen (Gesundheitswesen, Wissenschaft, Tourismus, Partnersuche, Arbeitsleistung, Wirtschaft etc.) formiert sich eine Bewertungsgesellschaft, die naturgemäß am schnellsten bei der aufnahme- und entwicklungsbereitesten Gruppe ankommt: den Jugendlichen. Die von ihnen überproportional genutzten Sozialen Medien seien “Pionierorte der Durchsetzung und Verbreitung quantifizierender Bewertungsformen”. Es besteht die Gefahr, dass junge Menschen zu sehr nach Likes, Shares und Followern streben und ihre Lebenszufriedenheit danach ausrichten. Die Schule sollte ihren Beitrag dazu leisten, die Mündigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler gegenüber diesen gesellschaftlichen Tendenzen zu befördern. Denn “Filtern und Bedeutungszuweisung” werden nach Felix Stalder in der Bewertungsgesellschaft zu Alltagsanforderungen an alle und sind nicht den jeweiligen Spezialistinnen und Spezialisten vorbehalten. In diesem Kontext muss die Schule, die traditionell im gesellschaftlichen Code der Selektion funktioniert (Luhmann), also über das Aufrücken in die nächste Klassenstufe, das Erreichen von Abschlüssen und den möglichen Platz in der Gesellschaft entscheidet, auch dafür sorgen, die Schülerinnen Schüler mit Fähigkeiten zur Reflexion, Beurteilung und Selbstbewertung auszustatten. Die traditionelle Form der Leistungsbewertung und ihre gesellschaftliche Selektionsfunktion, an die administrativ nach wie vor inbrünstig geglaubt wird, unterliegen einer großen Fehleranfälligkeit. Man halte sich hier die einschlägigen Fehlerarten der hergebrachten Leistungsbewertung (also des Summative Assessment) vor Augen: Halo-Effekt, Tendenz zur Mitte, Reihungsfehler oder Pygmalion-Effekt – um nur einige zu nennen.
Fehlerarten im Überblick
Halo-Effekt: Beim Halo-Effekt überstrahlt ein globaler Eindruck oder ein besonderes Merkmal (positiv oder negativ) die Wahrnehmung anderer Merkmale, die meist nicht direkt beobachtbar sind. Beispiel: Höflichkeit = Annahme hoher Leistungsfähigkeit. (Vgl. dazu Ready, D. D. & Wright, D. L. (2011): Accuracy and inaccuracy in teachers’ perceptions of young children’s cognitive abilities: The role of child background and classroom context. American Journal of Education Research (48), S. 335-360.)
Tendenz zur Mitte: Dieser Beurteilungsfehler kann dazu führen, dass sich eine überproportional hohe Anzahl von Ergebnissen im mittleren Leistungssegment wiederfindet, weil die beurteilende Lehrkraft – bewusst oder unbewusst – von der sogenannten “Glockenform” oder Gauß-Verteilung als der korrekten Form der Notenverteilung ausgeht.
Reihungsfehler: In vielen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Reihenfolge korrigierter Arbeiten erheblichen Einfluss auf den Notenwert hat. In mündlichen Prüfungen wird beispielsweise ein leistungsschwacher Kandidat noch schlechter beurteilt, wenn er einem sehr guten Kandidaten folgt – und umgekehrt. Dieser Beurteilungsfehler wurde auch intensiv bei schriftlichen Arbeiten erforscht.
Pygmalion-Effekt: In Studien wurde wiederholt nachgewiesen, dass die Lehrererwartung die tatsächliche Schülerleistung derart stark beeinflusst, dass sie nach einiger Zeit tatsächlich so ausfällt wie erwartet – auch wenn die Erwartungen völlig unangemessen waren und auf falschen Annahmen beruhten.
Wie kann nun Schule auf die gesellschaftliche Relevanz von selbst- und fremdbestimmter Bewertung und die hohe Fehleranfälligkeit von traditioneller Bewertung reagieren? Eine Möglichkeit hierfür ist Formative Assessement (FA). In der internationalen Bildungsdiskussion ist dieser Begriff in aller Munde. Vielfach unterscheiden sich jedoch die damit verbundenen Vorstellungen, wodurch Verwirrung und Beliebigkeit entsteht. Ich werde zunächst darlegen, was FA von der gängigen, administrativ normierten Form der Leistungsbewertung (Summative Assessment) unterscheidet, bevor ich vier Felder beleuchte, die unmittelbar mit der Idee des FA verbunden sind: Feedbackkultur, die veränderte Lehrerrolle, individualisiertes Lernen und die veränderte Leistungsbewertung.
Begriffsklärung und Wirkungsdimensionen
FA ist die zielgerichtete, kriteriengeleitete individuelle Beurteilung, die von den Lernenden (und von der Lehrkraft) für den weiteren eigenen Lernprozess genutzt wird. Im Gegensatz zu Summative Assessment findet FA während des Lernprozesses und nicht an dessen Ende statt. Der Sinn von FA ist also nicht die möglichst objektive Erhebung eines Leistungsstandes im Vergleich zu einem Bewertungsmaßstab (Sachnorm) oder zur Lerngruppe (Sozialnorm), sondern die am Lernfortschritt orientierte Rückmeldung an den einzelnen Lerner, der damit die Reflexion und den Fortschritt des eigenen Lernens vorantreibt. Im Englischen definiert man diese Unterscheidung auch als “assessment FOR learning” statt “assessment OF learning”.
Funktionen von Formative Assessment
FA verfolgt verschiedene Zwecke: Es erzeugt und benutzt Informationen, um den Lernprozess zu justieren und in die richtige Richtung zu lenken. Zur Verdeutlichung benutze ich ein Bild aus der Raumfahrt: So wie Apollo 11 regelmäßig kleine Kurskorrekturen von der Bodenstation bekam, um am Ende genau an der geplanten Stelle auf dem Mond zu landen, versorgt FA die Lernendem mit Feedback, um den eigenen Lernweg erfolgreich zum Ziel zu bringen. Noch erfolgreicher wird es, wenn die Apollo-Besatzung (der Lerner/die Lernerin) selbst Kurskorrekturen und nächste Schritte unternimmt. So besteht eine weitere Funktion darin, den Fokus weg von extrinsisch motivierenden Noten und hin zum selbst verantworteten Lernprozess zu lenken. Dazu benötigen die Schülerinnen und Schüler metakognitive Strategien, das heißt sie sollen ihren eigenen Lernprozess bewerten, steuern und vorantreiben. Dylan Wiliam hat inzwischen Abstand von seinem eigenen Begriff genommen. “Responsive teaching” (anpassungsfähiges Unterrichten) sei eigentlich der treffendere Ausdruck, da “assessment” zu sehr nach Leistungsbewertung klingt und fehlinterpretiert wurde.
Feedbackkultur und -indikatoren
Feedback ist ein wesentlicher Bestandteil von FA. Eine etablierte, konstruktive Rückmeldekultur ist eine der Voraussetzungen für erfolgreiches FA. Folgende Indikatoren machen ein effektives Feedback aus:
- schülergemäße Kriterien und Ausdrucksformen
- konkrete Beobachtungen
- angemessener Umfang
- passender Zeitpunkt
- zeitnahe Auswertung
- erkennbare Konsequenzen in Form von Hinweisen zur Weiterarbeit bzw. Veränderungen des Lernsettings
- Klarheit über Absender und Adressat (Wer gibt wem wann und mit welcher Absicht Feedback?)
Angesichts der Bedeutung von Feedback im Allgemeinen ist es ratsam, die Vorgehensweise mit Schülerinnen und Schülern intensiv zu üben (Feedback zum Feedback). Das Feedbackgeben sowie der Umgang und die Weiterverarbeitung mit Feedback kann auch zum Gegenstand von Leistungsbewertung gemacht werden. Feedback kann nicht nur den Lernenden nutzen, sondern – falls es zielführend und effektiv eingesetzt wird – auch für die Mitschülerinnen und Mitschüler als Feedbackgeber hat es großes Lernpotential.
Veränderte Lehrerrolle
Das Gelingen von FA ist an eine Lehrerrolle geknüpft, die die Lehrkraft als Begleiter, Coach und “Ermöglicher” (Enabler) und nicht nur als Instrukteur, Wissensvermittler und Darsteller sieht. Im Mittelpunkt der Unterrichtsplanungen muss das Lernen der einzelnen Schülerinnen und Schüler stehen und nicht der Ablauf eines lehrerzentrierten Lehr-Prozesses. Das bedeutet für den Unterrichtenden auch einen Abschied von der Vorstellung eines Fortschritts im Gleichschritt sowie einen Hierarchieabbau durch den Einbezug aller Schülerinnen und Schüler als Feedback-Instanzen und die Verantwortungsübertragung für den Lernprozess an den einzelnen Lernenden. Dazu gehört auch eine produktive Fehlerkultur, denn Fehler sollten nicht nur toleriert werden, sondern können, wenn sie sinnvoll provoziert und reflektiert werden, dass Lernen sogar beschleunigen.
Individuelles Lernen
Den Ansprüchen an individuelles Lernen trägt das Konzept des FA Rechnung, indem bei gleichem Lernziel jede Schülerin und jeder Schüler (wenn auch nur für eine gewisse Zeit) einen individuellen Lernweg auf der Grundlage personalisierter Rückmeldungen nimmt. Hierbei können sich die Lernwege bei mehreren Lernenden gleichen. Die Wahrnehmung des einzelnen Lernenden ist jedoch davon geprägt, dass er seinen Weg zum Lernerfolg individuell nimmt, wodurch Akzeptanz und Motivation gesteigert werden. Individuelle Förderung findet zum Beispiel durch Audio- oder Video-Feedback statt, das durch die aktuellen technischen Möglichkeiten unkompliziert zu realisieren ist. Neben den individuell passenden Feedbackinformationen motiviert diese Form auch nach meinen Erfahrungen durch die individuelle Koppelung mit Stimme und/oder Video stark zur Weiterarbeit. Der korrigierende Lehrer konzentriert sich dabei auf Schwerpunkte und gibt dort differenziertere Rückmeldungen, als in der üblichen Form der kurzen Randnotiz.
Veränderte Leistungsbewertung und “Individualnorm”
FA passt nahtlos zu den aktuell diskutierten Ideen zu veränderter Leistungsbewertung, deren Hauptaugenmerk weniger auf der abrechenbaren, vergleichbaren Leistungsermittlung als vielmehr auf der motivierenden, individuellen Leistungsentfaltung liegt. Deutschlandweit wird derzeit in Schulversuchen erprobt, ob sich etwa ein individuell wählbarer Zeitpunkt und/oder die wählbare Form der Leistungsbewertung positiv auf das Lernverhalten auswirkt. Mögliche oder verpflichtende Überarbeitungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Tendenz zur verstärkten Einforderung komplexerer Leistungen im sogenannten Anforderungsbereich III (AFB III). Das Erbringen von Reproduktionsleistungen (das heißt AFB I: das Lernen von Grundkenntnissen) erfordert kein FA, sondern kann über herkömmliche Verfahren der Leistungsfeststellung sinnvoll beurteilt werden. FA kann außerdem dazu beitragen, dass die Dominanz der Sozialnorm, also die Bewertung einer Leistung im Vergleich mit der restlichen Lerngruppe, abgebaut wird.
Methodische Beispiele
Mit der Anwendung GoFormative können Lehrkräfte vorab Aufgaben in sehr unterschiedlicher Form (Multiple Choice, Texte eingeben, Materialien wie Bilder und Videos bearbeiten, richtige Reihenfolgen herstellen, Sprachaufnahmen im Fremdsprachenunterricht etc.) erstellen, die von den Schülerinnen und Schülern individuell digital bearbeitet werden. Das Besondere: Der Lehrer sieht live im Arbeitsprozess die entstehenden individuellen Ergebnisse und kann digital (visuell oder mit einem Textkommentar) Rückmeldungen und Hinweise zur Weiterarbeit geben. Ähnlich verhält es sich mit kollaborativen Textprogrammen wie Etherpads oder Angebote von kommerziellen Anbietern wie GoogleDocs. Hier können die Schülerinnen und Schüler von verschiedenen Geräten gemeinsam Texte oder Präsentationen erstellen und die Lehrkraft kann im Prozess Rückmeldungen geben, die die Weiterarbeit oder Korrektur erleichtern. Auch untereinander können sich die Schülerinnen und Schüler Feedback einholen. Die digitalen Varianten bergen für die Arbeitseffizienz einige Vorteile gegenüber analogen Verfahren wie etwa dem Anheften von Post-Its an Texte oder andere Produkte zur Überarbeitung. Die aus Großbritannien stammende Idee der Yellow Box (“Gelbe Kiste”) sorgt für eine Dynamisierung im Umgang mit Korrekturen von schriftlichen Arbeiten. Mit gelbem Textmarker wird ein Bereich der Arbeit markiert, der überarbeitet werden soll beziehungsweise in eine Yellow Box unter der Arbeit wird eine besonders relevante Überarbeitungsaufgabe formuliert. Das lässt sich natürlich digital noch besser abbilden. Das Korrigieren wird effektiver, weil nicht die gesamte Arbeit ausführlich kommentiert wird, sondern ein spezifischer Aspekt fokussiert wird, an dem anschließend konkret weitergearbeitet wird. Für die Notenbewertung werden alle Fehler berücksichtigt, aber das zeitaufwändige Kommentieren beschränkt sich auf einen besonders relevanten Bereich, der dann auch überarbeitet wird.
Das herkömmliche Korrigieren schriftlicher Arbeiten lässt sich mit einem FA-Element anreichern, indem die Lehrkraft bei Fehlerschwerpunkten eine Zahl oder einen QR-Code an den Rand schreibt oder klebt. Die Schülerinnen und Schüler scannen den QR-Code oder finden ihre Zahl auf einer vorbereiteten Internet-Seite, um dort gezielt eine Online-Übung durchzuführen, etwa auf eine Übung zu “dass/das”, einen der häufigsten Rechtschreibfehler. Spielerische Formen von Quiz-Apps wie Kahoot! oder Socrative können von den Lehrenden dazu genutzt werden, Informationen über den Lernfortschritt einzelner zu gewinnen, um so die weiteren Lernwege anzupassen.
Schwierigkeiten und Realisierung
Folgende Schwierigkeiten sehe ich bei der Umsetzung:
- Rollenverständnis: Sich von der “Kontrolle” und der Rolle des “Beurteilers” auf den Weg in Richtung der “Begleitung” und Diagnose zu machen, fällt durch subjektiv verankerte Muster schwer.
- Datenschutz: Regelungen in einzelnen Bundesländern unterscheiden sich, sensibler Umgang mit persönlichen Daten bedeutet auch, sich im Kollegium, mit Eltern und Lernenden über Gefahren und Grenzen zu verständigen. Im Unterricht muss Zeit für die Besprechung von Accounts, Passwörtern etc. einkalkuliert werden.
- Der Lehrer als Lerner: Als Lehrkraft muss ich Lust dazu haben, die vorgestellten digitalen Wege zu beschreiten, auch auf die Gefahr hin, dass erste Einheiten nie perfekt ablaufen werden. Ein verordneter Einsatz wird nicht erfolgreich.
- Technische Voraussetzungen: WLAN, Hardware, BYOD (LE20 und LE21) – im Netz zwischen rechtlichen Vorgaben, Schuladministration, Situation von Lerngruppe und Elternhäusern und eigenem Einsatz muss die Lehrkraft sinnvolle Aufwand-Nutzen-Entscheidungen treffen.
Trotz dieser Schwierigkeiten möchten ich jedem interessierten Lehrer aufgrund meiner Erfahrungen Mut machen, sich auf den Weg des FA zu begeben – denn der eigene Arbeitsaufwand sinkt und Motivation und Lernerfolg der Schüler steigen, wenn Methoden des FA erst einmal im Klassenraum Fuß gefasst haben.
Beispiele auf YouTube
Weitere Unterrichtsbeispiele finden sich auf meinem YouTube Kanal (Björn Nölte LE22)
Literatur
Brookhart, Susan M.: How to Give Effective Feedback to Your Students. 2. Auflage. Alexandria 2017
Dodge, Judith: 25 Quick Formative Assessments for a Differentiated Classroom. Easy, Low-Prep Assessments That Help You Pinpoint Students‘ Needs and Reach All Learners. New York 2017
Fisher, Douglas und Frey, Nancy: The Formative Assessment Action Plan: Practical Steps to More Successful Teaching and Learning. London 2015
Heritage, Margaret: Formative Assessment. Make It Happen in the Classroom. Thousand Oaks 2010
Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin 2017
Spendlove, David: Assessment for Learning (100 Ideas for Teachers). London 2015
Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin 2016
Wiliam, Dylan: Embedding Formative Assessment. Practical Techniques for K-12 Classrooms. London 2015
Networking ist das Zauberwort unserer Zeit – besonders in Bildung muss sich diese Offenheit zum Austausch als Grundhaltung etablieren. Und damit kann man nicht früh genaug anfangen! Referendare, vernetzt euch!
Ines Bieler
Weg vom Bildschirm, hin zu den Menschen (z.B. zu sich selbst als Menschen, wenn sonst grad nicht jemand da ist)! Und an den Bildschirm nur wegen den Menschen und für die Menschen.
Christof Arn

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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