Christian Feierabend – Juni 2020

Die Genius Hour ist eine Erfindung innovativer IT-Unternehmen aus dem letzten Jahrzehnt. Ingenieuren der Firmen wird erlaubt, 20% ihrer regulären Arbeitszeit für ein beliebiges selbst gewähltes „Passion Projekt“ in der „Genius Hour“ zu verwenden: Die gewährte Freiheit hat sich bewährt und in Innovation und Produktivität ausgezahlt.
2014 taucht sie zum ersten Mal in unterrichtsdidaktischem Kontext bei Terry Heick in 6 Principles Of Genius Hour In The Classroom (LE08) auf und wird vor dem Hintergrund von Michael Fullans 6cs in 21st century skills: 6 c’s of education (LE09) detailliert ausgeführt. Nele Hirsch beschreibt in ihrer OER-Publikation Unterricht digital (LE10) kurz die Umsetzung im Regelunterricht:
Im Stundenplan werden Freiräume geschaffen und Schülerinnen und Schüler können eigenständig unter Einbeziehung des digitalen Raums an Projektideen arbeiten und für eine Öffentlichkeit realisieren. Die aktuelle Situation des Hybridunterrichts hat per se Freiräume im Unterricht nach Stundenplan geschaffen und das Private hat einen anderen und oft auch einen neuen Stellenwert bekommen. Die freie Stunde im Stundenplan ist also schon da und die in der Zeit zuhause entdeckten Leidenschaften und Interessen sind ein gigantisches Potential, um von Schülerinnen und Schülern im Sinne eines kompetenzorientierten Lernens genutzt zu werden.
Wie könnte die Genius Hour konkret im hybriden Unterrichtsszenario aussehen?
Voraussetzung: Die Genius Hour ist überfachlich und ein Schüler:innen-Projekt. Im Kollegium müssen die Rahmenbedingungen (z.B. die Lehrerbeteiligung) abgesteckt und Modalitäten der Betreuung und Bewertung besprochen sein. Wie für Schülerinnen und Schüler, so soll es auch für Lehrerinnen und Lehrer ein Angebot sein, sich in Schülerideen einbringen zu dürfen.
Thema: Die Themen sind selbstgewählt und entsprechen den persönlichen Interessen der Schülerinnen und Schüler. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um klassische Unterrichtsthemen oder Themen handelt, die sich aus Aktivitäten des privaten Lebens ergeben.
Themenbeispiele:
Thema | Genius-Coach | Ergebnis |
Bewegung im Fußball | die Physik-lehrkraft | Ein filmische Dokumentation zu physikalischen Bewegungsabläufen |
Das Dorf von morgen in Lego | die Ge-schichts oder Sozial-kunde-lehrkraft | Lego-Modell und multimediale Dokumentation |
Corona in Europa | eine Sprachen- und Musik-lehrkraft | Ein selbst produziertes Musikvideo |
Der Wald – Lebensraum für Mensch und Tier | Biologie | Filmische Dokumentation meiner verbrachten Zeit im Wald während Corona: Lebensraum für mich, Tiere und Pflanzen |
Rollenverständnis: Der oder die Lernende ist Genius, ein:e Expert:in oder jemand auf dem Weg dazu es zu werden. Er oder sie darf seinen bzw. ihren eigenen Lernweg gestalten und seine/ihre Neugier erforschen.
Der Lehrkraft als Genius-Coach ist Helfer:in, Berater:in und Tippgeber:in auf dem Weg zum Ziel; Der Coach kann Wege zeigen oder vorschlagen, lässt aber dem Genius seine eigene Lernerfahrung. Der Schüler bzw. Die Schülerin sucht sich seinen Genius-Coach, wobei dieser annehmen oder ablehnen darf. Der Genius-Coach wird am Ende in seinem Unterrichtsfach mit dem Schüler oder der Schüler:in die Bewertung des Arbeitsprozesses und des Produktes vornehmen.
Durchführung: ein Vorschlag
0.1 | Im Kollegium oder im zuständigen Gremium wird die an die jeweilige Schule angepasste Idee diskutiert und es erfolgt eine Verständigung über gemeinsame Rahmenbedingungen. TIPP: Ein Forum im LMS kann Meinungen und Ideen vorsortieren. |
0.2 | Das Projekt Genius Hour wird den Schülerinnen und Schülern mit Beispielen vorgestellt. Dies kann über die jeweiligen Klassenlehrkräfte oder über eine digitale Präsentation erfolgen. TIPP: Eine mediale Online-Projektvorstellung der Genius Hour schon als „Lehrkräfte-Genius-Hour“ mit Prototyp wäre „genial“. |
1 | Die Themenwahl Schüler:innen haben die Möglichkeit, ihr Genie, ihre Fähigkeiten zu entdecken. Intrinsische Motivation ist hier der Motor, weil es authentisches Lernen ist, die eigene Lebenswelt zu erforschen und zu gestalten. Kompetenzbereiche: Character, Creativity TIPP: Fragen zu den eigenen Interessen, den Aktivitäten, der Tagesgestaltung können hier hilfreich sein, den Schülerinnen und Schülern vor Augen zu führen, dass Dinge, die sie können, großartig sind und sich rentieren, weitergedacht oder weiterentwickelt zu werden. |
2 | Einen Genius-Coach suchen und sich vernetzen Einen ersten Projektgedanken zu formulieren und jemanden zum Mitmachen zu begeistern, seinen ersten Follower zu finden, ist die Herausforderung dieser Phase. Proaktiv auf eine Lehrkraft zuzugehen und sie zu gewinnen, stärkt in erhöhtem Maße die Kommunikationsfähigkeit. Kompetenzbereiche: Communication, Creativity TIPP: Offenheit und Interesse ist hier das A und O. Es geht darum, Schülerinnen und Schüler mit offenen Armen zu empfangen oder sie an der Hand zu nehmen und sie an geeignetere Kolleg:innen zu verweisen. |
3 | Die eigenständige Arbeit am Projekt Am Ende des Projekt- und Lernprozesses geht es darum, etwas zu schaffen: Ein Produkt oder etwas Vergleichbares. Projekte sind in der Regel aber komplexe Themen, wenn man die richtigen Fragen stellt. Der Genius-Coach übernimmt diese Aufgabe und bleibt kontinuierlicher Unterstützer in dieser explorativen, analytischen oder kreativen Konstruktionsphase. Schlüsselkompetenzen wie Problemlösefähigkeit, kritische Auseinandersetzung, Selbstreflexion und -regulation sind in diesen authentischen Arbeitsformen (Arbeiten als Forscher:in, Wissenschaftler:in, Künstler:in) essentiell (vgl. Sliwka) . Kompetenzbereiche: Critical Thinking/Problem Solving, Creativity, Citizenship TIPP: Eine Diskussionsplattform für alle Teilnehmer:in bietet die Möglichkeit, sich zu vernetzen, Peer-Feedback einzuholen, sich gegenseitig zu beraten und motivierende Zwischenstände zu veröffentlichen, um das Kooperationsfähigkeit zu stärken. |
4 | Die Produktpräsentation und Publikation Ein Produkt kann vielfältig sein. Entscheidend ist, dass es Ergebnis einer Arbeit und für andere zugänglich ist: eine Ausstellung, ein Film, ein Auftritt, ein E-Buch, … Kompetenzbereiche: Creativity, Communication, Citizenship TIPP: Hier brauchen Schülerinnen und Schüler Ideen für Präsentationsformate, -Werkzeuge und Veröffentlichungsmöglichkeiten in Form einer realen oder digitalen Infrastruktur (Ausstellungsfläche oder Upload-Möglichkeit) |
5 | Die Reflektion und Bewertung Die Leidenschaft eines Menschen ist etwas sehr Privates und muss geschützt bleiben. Eine Bewertung braucht eine Einbeziehung des Arbeitsprozesses und eine Reflexion durch den Schüler. Kompetenzbereiche: Character, Communication, Collaboration TIPP: Kompetenzorientierte Leistungsbewertungen brauchen klare Kriterien (z.B. Kompetenzraster). Sich mit der Schülerin/dem Schüler zu beraten und gemeinsam eine Bewertung vorzunehmen ist die Lösung, wenn die Kriterien nicht angemessen eingeführt werden konnten. |
Für die Kompetenzbereiche sind die Begrifflichkeiten aus Michael Fullans 6cs aus 21st century skills gewählt.
Qualität und Abschlussbemerkung
Die Veröffentlichung eines Projektergebnisses nach einer Phase von selbstgesteuertem Lernen, Forschen und Gestalten mit der selbstverständlichen Nutzung des virtuellen Raums mit anschließender Reflexion ist eine fast nicht zu schaffende komplexe Aufgabe, bei der alle Kompetenzfelder des KMK-Kompetenzrahmens umfassend abgedeckt werden.
Deshalb braucht die Genius Hour ein neues und zeitgemäßes authentisches Prüfungsformat, das auf die individuelle Situation der Menschen, das Lernumfeldes und die besonderen aktuellen Rahmenbedingungen eingeht:
agil, flexibel und angemessen nachsichtig!
Ideen für Projekte gesucht? Schau mal hier (LE10a)!
Quellen:
Heick, Terry: 6 principles of genius hour in the classroom. TeachThought 2014. Abgerufen von https://www.teachthought.com/learning/6-principles-of-genius-hour-in-the-classroom (LE08) am 14.06.2020.
Hirsch, Nele: Unterricht digital, Mühlheim an der Ruhr, 2020, S. 89-90. Abgerufen von https://epale.ec.europa.eu/sites/default/files/nele_hirsch-unterricht_digital.pdf (LE10) am 14.06.2020.
Knezevic, Dorotea: 21st century skills: 6 c’s of education, 2017. Abgerufen von http://blog.awwapp.com/6-cs-of-education-classroom (LE09) am 14.06.2020.
Sliwka, Anne: Pädagogik der Jugendphase, wie Jugendliche engagiert lernen, Weinheim 2018.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
Zum nächsten Kapitel…