Gedanken zu alternativen Formen der schriftlichen „Leistungsüberprüfung“ in Zeiten einer digitalisierten (Lern-)Welt
Holger Müller-Hillebrand – Juni 2020
45, 90 oder 180 Minuten. Isoliert. Ohne Hilfsmittel. Total analog. Viel Reproduktion.
Wer kennt sie nicht, die Rahmenbedingungen schriftlicher Leistungsüberprüfungen in Schule und oft auch Hochschule? Stundenlang müssen Schüler:innen wie Studierende, über mehrere Zettel gebeugt, handschriftlich ihr Wissen darlegen, es teilweise neu anwenden und mitunter auch Sachverhalte beurteilen. Das alles in einem fest gesetzten, häufig knapp kalkuliertem Zeitrahmen, meist ohne Hilfsmittel, abgeschirmt von Mitschüler:innen und Kommiliton:innen – mitunter gar durch einen Sichtschutz wie dem „Clausura“-Aufsteller der Firma Timetex voneinander getrennt (kurzelinks.de/i54o) – sowie abgeschnitten vom digitalen Rest der Welt. Ich kenne keinen anderen Bereich als den der Bildung, bei dem im Jahr 2020 auf diese oder vergleichbare Weise Probleme gelöst, „Wissen“ abgefragt oder „Leistung objektiv erhoben“ (so die Werbung der Firma Timetex) wird.
Aber es ist nicht nur der Umstand, dass sich Schule wie Hochschule mit diesen antiquierten Formen der vermeintlich objektiven Messung von Kenntnissen längst ins gesellschaftliche Abseits gestellt haben. Der Anachronismus der schriftlichen Leistungsüberprüfung zementiert ebenso systemische Hierarchien (die echtem Lernen jedoch entgegenstehen), fördert Einzelkämpfertum sowie das sogenannte „Bulimie“-Lernen – die Wissensaneignung nur zum „Ausspucken“ für die nächste Überprüfung –, verstellt oft den Blick auf unkonventionelle, kreativere Lösungen und stellt geradezu eine Blockade für längst überfällige Reformen von Unterricht und Schulsystem dar. Die These lautet: Solange nicht von der längst unzeitgemäßen Doktrin der „individuellen Einzelleistung“ in Prüfungsordnungen und Lehrplänen abgerückt werden wird, werden viele fruchtbare, sinnvolle wie notwendige Ansätze für Modifikationen zu mehr Kollaboration und Teamwork Rohrkrepierer bleiben. Zu oft wird beispielsweise eingewandt werden: Wie soll ich da die Leistung eines jeden einzelnen beurteilen? Der Bereich der schriftlichen Leistungsüberprüfung ist ein entscheidender Hemmschuh für Unterrichts- und Schulreformen.
Doch sich nun zurückzulehnen und darauf zu warten, dass sich „Top down“ die ministerialen Vorgaben (endlich) ändern, ist wohl ein schlechter Ratgeber. Gefragt ist vielmehr eine „Bottom Up“-Bewegung, eine Änderung von unten aus, die dann – hoffentlich, irgendwie und irgendwann – auch oben ankommt. Denn tatsächlich lassen auch die bestehenden Prüfungsordnungen einige Freiräume, die es „nur“ kreativ zu interpretieren gilt. Gefragt ist ein „Out of the box“-Denken, gefragt sind unkonventionelle Ansätze zur Leistungsüberprüfung, die bestenfalls auch gleich in der Praxis erprobt werden.
Gewiss: Schon jetzt erlauben mehrere schulische Prüfungsordnungen alternative Formate der schriftlichen Leistungsüberprüfung. So kann etwa in Nordrhein-Westfalen (NRW) einmal im Schuljahr „pro Fach eine Klassenarbeit durch eine andere, in der Regel schriftliche, in Ausnahmefällen auch gleichwertige nicht schriftliche Leistungsüberprüfung ersetzt werden“ (Allgemeine Prüfungsordnung NRW Sekundarstufe I, §6, Abs. 8). Viele Kolleg:innen nutzen diese Abweichungsmöglichkeit auch und lassen die Lernenden statt Klassenarbeiten beispielsweise Lesetagebücher oder Portfolios anfertigen. Doch was ein guter Ansatz sein mag, bleibt eben auch nur ein Ansatz. Denn zum einen gilt diese Vorgabe ausschließlich für die Sekundarstufe I und zum anderen bildet sich der überwiegende Teil einer Beurteilung, in NRW mehr als 83 Prozent, nach wie vor über konventionelle Formen der schriftlichen Leistungsüberprüfung, die nicht weiter in Frage gestellt werden. Von Revolution also keinerlei Spur – und mit einer Diskussion über den grundsätzlichen Sinn und Unsinn einer Notengebung soll hier gar nicht erst begonnen werden: Das ist ein anderes, ähnlich umstrittenes wie emotional geführtes Debattier-Feld.
Bleibt die Frage: Welche alternativen Formen der schriftlichen „Leistungsüberprüfung“ oder besser Leistungsmessung, die zeitgemäßer in eine Welt des digitalen Lernens passen, lassen sich mit etwas Kreativität und Mut schon jetzt in (weitgehender) Übereinstimmung mit den gültigen Prüfungsordnungen „im Kleinen“ umsetzen und ausprobieren? Hierzu wäre zunächst noch sinnvoll, die Faktoren einer „Welt des digitalen Lernens“, wie sie hier verstanden werden sollen, genauer zu definieren. Dabei geht es (mir) nämlich keineswegs vorrangig darum, analoge Prüfungsformate einfach in einen digitalen Rahmen zu setzen und etwa Klausuren, die zuvor nur handschriftlich verfasst wurden, jetzt auf dem Notebook oder Tablet entstehen zu lassen. Nein: Lernen in einer digitalisierten Welt ändert mehrere Rahmenbedingungen ganz grundsätzlich. Es ist möglich, unabhängig von Raum und Zeit zu lernen, auch miteinander. Es ist möglich, mit einer Vielfalt von Materialien und Quellen zu lernen, die zudem häufig in Sekundenschnelle verfügbar sind. Es ist möglich, deutlich mehr (Lern-)Wege zu nutzen und aus einer weitaus größeren Palette aus Zielformaten zu wählen. Es ist ebenso möglich, sich einfach sowie schnell auszutauschen und Probleme gemeinsam statt einsam zu lösen. Und nicht zuletzt ist es umso notwendiger geworden, alle der so rasch verfügbaren Materialien und Quellen stets kritisch zu prüfen. All diese Faktoren sind Kennzeichen des digitalen Wandels, eines Lernens in einer digitalen Welt – und nun gilt, dass auch die schriftlichen Prüfungsformate, wenn nicht vollständig, dann wenigstens deutlich stärker in dieser Welt ankommen. Denn nach wie vor werden in konventionellen Formaten Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und häufig auch kritisches Denken (und damit die gesamten „4K“, jene für Lernende herausragende Kompetenzen im 21. Jahrhundert) radikal ausgeschlossen.
Neben den bereits erwähnten und hinlänglich bekannten Alternativ-Formaten (Lese-)Tagebuch und Portfolio gibt es inzwischen eine Reihe von Ideen für „andere“ Möglichkeiten der schriftlichen Leistungsmessung. Ihnen allen liegen vor allem zwei Grundprinzipien zugrunde: Transparenz und Problemorientierung. So sollten die Lernenden von Beginn an transparent in die Form des Prüfungsformats eingebunden werden und auch Möglichkeiten erhalten, sich dazu zu äußern sowie Modifikationen vorzuschlagen. Die alternativen Formate wollen weg von dem hierarchisch manifestierten Nimbus der jetzigen Leistungsüberprüfung und hin zu einem Setting, das Autonomie und Partizipation der Lernenden berücksichtigt – frei nach dem Motto: In welcher Form wirst du am Ende der Lerneinheit zeigen können, dass du etwas kannst? Das Prinzip der Problemorientierung versucht darüber hinaus, den derzeit stets künstlich geschaffenen Prüfungssituationen einen stärker „natürlichen“ Bezugsrahmen zu geben. Daraus leiten sich etwa Vorschläge nach „echten“ Problemstellungen oder Prüfungs-Produkten ab, die auch veröffentlicht werden sollen.
Eins ist gewiss: Die folgende, abschließende Auflistung von vier fachunabhängigen, allesamt praktisch erprobten Ideen zu alternativen Prüfungsformaten – von denen manche an einzelnen (Reform-)Schulen auch regelmäßig umgesetzt werden – ist unvollständig und teils unvollkommen. Sie schreit geradezu nach Weiterarbeit – nach weiteren Vorschlägen, nach Weiterentwicklungen, nach Ausschärfungen, nach weiteren Mutigen, die einfach einmal etwas in der Praxis ausprobieren und dann veröffentlichen. Doch ist die Liste, entstanden auf kreative Weise sowie in Kommunikation und Kollaboration, schon damit ein Produkt, das gängigen Formaten der schriftlichen Leistungsüberprüfung bereits jetzt überlegen ist.
Ungeordnete Ideen zu alternativen schriftlichen, fachunabhängigen Prüfungsformaten (in Korrelation zu bestehenden Prüfungsordnungen), theoretisch umsetzbar in allen Jahrgangsstufen:
- Erstellung eines Unterrichts-Blogs oder Unterrichts-Padlets zu einem vorab (ggf. auch gemeinsam) gesetzten Rahmenthemas
- mit individuellen Aufträgen (Problemstellungen oder „Herausforderungen“) für jede Schülerin und jeden Schüler
- zu erstellen in einem gegebenen Zeitraum (notfalls auch innerhalb von zwei oder besser vier Schulstunden, am besten aber längerer Zeitraum)
- vorrangig berücksichtigte Kompetenzen/Aspekte: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken
- „individuelle Einzelleistung“ berücksichtigt, indem jede:r Lernende:r einen eigenen Beitrag oder mehrere Beiträge verfassen muss
- Möglichkeiten der Reflexion gegeben, etwa auch zum Entstehungsprozess
- Lernnachweis „auf Zuruf“ zu einem vorab festgelegten Rahmenthema
- Lernende:r entscheidet innerhalb eines gesetzten, größeren Zeitraums selbst, wann sie/er den Lernnachweis erbringen möchte
- ein Lernnachweis kann eine „normale“ Klassenarbeit oder eine andere (produktive) Form darstellen – ggf. auch nach Wahl der Schülerin/des Schülers –, die innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens abzulegen ist
- Variation 1: Schüler:innen können in diesem Format zwischen „Minimal-, Top- oder Premiumstandard“ wählen und auf diese Weise den Schwierigkeitsgrad des Lernnachweises mitbestimmen – wird der Minimal- oder Top-Standard erreicht, kann anschließend auf Wunsch versucht werden, diesen noch zu verbessern
- Variation 2: wird ein (Minimal-)Standard bei einem Lernnachweis nicht erreicht, gibt es die Möglichkeit auf eine „zweite Chance“, ggf. innerhalb eines gesetzten Zeitraums
- vorrangig berücksichtigte Kompetenzen/Aspekte: Partizipation, Kreativität, Selbstverantwortung, Freiraum
- „individuelle Einzelleistung“ berücksichtigt, indem jede:r Lernende:r einen eigenen Lernnachweis ablegen muss
- Möglichkeiten der Reflexion gegeben
- offene Klassenarbeit/Klausur – „Alles ist erlaubt!“ zu einem vorab gesetzten Rahmenthema
- Lernende erhalten kein Sammelsurium einzelner Aufgaben, sondern eine Problemstellung oder „Herausforderung“ zur Bearbeitung – bestenfalls werden mehrere verschiedene Problemstellungen/Herausforderungen aufgestellt
- innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens ist die Problemstellung zu bearbeiten bzw. die „Herausforderung“ zu lösen
- dazu dürfen sämtliche zur Verfügung stehenden Hilfsmittel genutzt werden (etwa Unterrichtsmaterialien, Bücher, Internet), auch ein Austausch mit anderen Schüler:innen der Lerngruppe ist möglich
- vorrangig berücksichtigte Kompetenzen/Aspekte: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken
- „individuelle Einzelleistung“ berücksichtigt, indem jede:r Lernende:r eine eigene Problemstellung lösen bzw. „Herausforderung“ bewältigen muss (keine Abgabe von Gruppenarbeiten oder Plagiaten)
- Möglichkeiten der Reflexion gegeben, etwa zur eigenen Arbeitsweise, zum Austausch mit anderen und zu Schwierigkeiten der Bearbeitung
- „Klassenarbeit/Klausur flipped“ – eine Aufnahmeprüfung erstellen zu einem vorab gesetzten Rahmenthema
- Lernende müssen am Ende einer Lerneinheit keine Aufgaben oder Problemstellungen lösen, sondern eine eigene Aufnahmeprüfung entwickeln – Motto: Was sollte/müsste jemand können, die/der die Lerneinheit absolviert hat und jetzt als Expertin/Experte zum Thema anerkannt werden möchte?
- innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens ist eine Art Aufnahmeprüfung samt Darlegung von (Mindest-)Kriterien zur Aufnahme zu entwickeln
- dazu dürfen sämtliche zur Verfügung stehenden Hilfsmittel genutzt werden (etwa Unterrichtsmaterialien, Bücher, Internet), ggf. – nach vorheriger (gemeinsamer) Festlegung – ist auch ein Austausch mit anderen Schüler:innen der Lerngruppe möglich
- vorrangig berücksichtigte Kompetenzen/Aspekte: Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation, ggf. Kollaboration
- „individuelle Einzelleistung“ berücksichtigt, indem jede:r Lernende:r eine eigene Aufnahmeprüfung erstellen muss (keine Abgabe von Gruppenarbeiten oder Plagiaten)
- Möglichkeiten der Reflexion geben, etwa zur eigenen Arbeitsweise oder zu Schwierigkeiten der Bearbeitung
Mein Tipp: Nutzt Kollegiale Beratung und Coaching für Eure Selbstreflexion und persönliche Weiterentwicklung!
Christel Beck-Zangenberg
Mein Leitspruch war und ist eine Aussage, die Socrates zugeschrieben wird: You cannot teach anybody, anything, you can only make them think.
Dr. Michael Drabe

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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