Claudia Langnickel und Reinhard Schmidt – Juni 2020
Nicht nur als Eltern von Schulkindern, auch als Lehrer*in, Ausbilder*in und Seminarleiter waren wir stark von der plötzlichen Schulschließung durch Corona betroffen. Wir konnten engagierte Menschen und Ideen (zum Beispiel im #twitterlehrerzimmer) verfolgen, aber auch unmotivierte Lernende und Arbeitsblattdidaktik beobachten. Philippe Wampfler (MO04) erklärt mögliche Passivität von Schüler*innen im #digifernunterricht unter anderem mit der herrschenden Prüfungskultur (Leistung nur für Noten, die jetzt erstmal wegfallen), dem eventuell lernunfreundlichen familiären Umfeld, dem komplett veränderten Lernsetting (welches dazu führen kann, dass zu viel neue Technik eingesetzt wird) und dem Wegfall des gewohnten sozialen Rahmens, der in Schule selbstverständlich gegeben ist. Marcus von Amsberg und sein Team (Ivi-Education: Individuell, visualisierte und inklusive Bildung) ergänzen noch, dass vielfach die Aufgabenstellungen zu wenig motivierend und herausfordernd sind.
Wie kann aber nun #digifernunterricht so gestaltet werden, dass die möglichen Gründe für passives Verhalten an Bedeutung verlieren und die Schüler*innen aktiv lernen?
#digifernunterricht ist komplex und von unterschiedlichsten Faktoren abhängig. Lehrkräfte müssen gerade jetzt viele Entscheidungen treffen. Allgemeine Prinzipien wie die Verständnis- und Schüler*innen-orientierung bleiben bestehen, aber gleichzeitig müssen konkrete praktische Entscheidungen getroffen werden. Welche Themen sollen im #homeschooling behandelt werden? Wie und wann trete ich mit meiner Lerngruppe in Kontakt? Wie gebe ich sinnvolle Rückmeldungen (oder leite die Lernenden zu Peer-Feedback an)? Nicht zu unterschätzen ist die Entscheidung, welche Aufgabenformate auch jetzt (didaktisch) sinnvoll sind.
Um die Anforderungen an Aufgaben für das wirksame Lernen auf Distanz gut umzusetzen, können unter anderem aktivierende Lernvideos für das Lernen auf Distanz genutzt werden. Anders als viele Videos, die schulische Themen behandeln, soll es sich dabei aber nicht um Erklärvideos handeln, sondern um Lernvideos. Damit sind Videos gemeint, die nicht die Lösungen vorgeben oder Lösungswege erklären, sondern einen Impulsoder eineProblemstellung aufwerfen und zur aktiven Auseinandersetzung verführen.
Im gesamten Bereich des Blended Learning zählt der Einsatz von Videos im e-Learning-Teil zur Selbstverständlichkeit. Videos bieten eine Chance für eine sinnvolle und erfolgversprechende (d.h. praxistaugliche) Integration digitaler Medien in den Lernprozess, weil sie gegenüber dem klassischen Leitmedium Textdokument/Arbeitsblatt neue Möglichkeiten beinhalten.
Neben der motivierenden Wirkung von ansprechend gestalteten Videos und dem Anknüpfen an die Lebenswelt der Schüler*innen ist hier vor allem die Möglichkeit zu nennen, mehrkanaliges Lernen anzulegen und eine Aktivierung der Lernenden zu unterstützen. Ein passives Konsumieren von Erklärungen entspricht nicht der zeitgemäßen konstruktivistischen Auffassung von Lernen. Natürlich trifft „je mehr erklärt wird, desto weniger wird gelernt“ nicht auf Videos zu, die Lernende selbst erstellt haben. Auch sind die Einsatzmöglichkeiten von Erklär- und Lösungsvideos vielfältig (vor, im und nach dem Unterricht) und in der Regel kommen sie bei den Schüler*innen gut an. Um didaktischen Prinzipien wie dem entdeckenden Lernen auch im Videobereich oder sogar „flipped-Konzept“ gerecht zu werden, müssen Schüler*innen aber aus der passiven Konsumhaltung und Lehrer*innen aus der Rolle der Wissensvermittler*in geholt werden. Ansonsten kann sich die Falle des „modernen Frontalunterrichts“ auftun (vgl. auch MO05).
Anknüpfend an diese Überlegungen wollen wir hier die Fragestellung klären:
Wie erstellt man Lernvideos, die die Lernenden aktivieren und den Lernprozess befeuern?
Die Integralrechnung entdecken – (k)ein Problem
Um die Fragestellung nach dem „guten“ Lernvideo möglichst konkret zu diskutieren, möchten wir ein Video zur Integralrechnung als Beispiel heranziehen, das wir für einen Grundkurs Mathematik erstellt und erprobt haben:
🎥 MO06.

Hier ist ein kurzer Überblick über den Ablauf. Genauere Erläuterungen und Erfahrungen können bei den didaktischen Überlegungen nachgelesen werden. Die gelben Elemente finden im Distanzlernen und die pinken im Präsenzunterricht statt.
Impuls
Lernende schauen das Impulsvideo, Ziel: Bestimmung der Körpergrößen der Zwillinge am 17. Geburtstag, mögliche Hilfen: die Erklärungen im Video, die beiden ausgedruckte Graphen, ein GeoGebra-Applet, die Peergroup.
EA
Bearbeitung der Fragestellung: verschiedene Zugänge und Genauigkeiten sind explizit erwünscht (selbstdifferenzierende Problemstellung).
Tandems
Austausch und Diskussion der gewählten Strategien und Schwierigkeiten (auch asynchron möglich).
UG
Eventualphase: Thematisierung von Schwierigkeiten, die aktuell dazu führen, dass einzelne Tandems nicht erfolgreich weiterarbeiten können (keine Sammlung und Reflexion der Strategien oder Lösungen).
GA
Sammlung und Diskussion der Strategien und Lösungen (ermittelte Größen der Kinder). Anschließende Reflexion der unterschiedlichen Wege und Genauigkeiten.
UG
Abgleich exemplarischer Strategien und Lösungen: nachfolgendes Vergleichen und Reflektieren („mögliche Kriterien sind der Aufwand, die Genauigkeit, Schwierigkeiten, Effizienz,…).
UG
Vertiefungen: Modellkritik, Variation der Graphen, argumentative Auseinandersetzungen.
Alle Lernenden können so einen eigenen Zugang zum Thema finden, diesen mit anderen reflektieren und somit eine Grundvorstellung zur Rekonstruktion der Größen entwickeln. Der Übergang zu einer infinitesimal feinen Einteilung der betrachteten Zeitintervalle ist verständnisorientiert angelegt, aber nicht vorweggenommen. In der folgenden synchronen Phase des Lernens werden die subjektiven Erkenntnisse sukzessive objektiviert.
Didaktische Überlegungen zu Lernvideos – übertragen auf das Beispiel
Was müssen Sie beachten, um ein Lernvideo zu erstellen, das nicht nur als Selbstzweck konsumiert wird, sondern den Lernprozess befeuert? Das dazu beiträgt, dass die Schüler*innen Verständnis vom Lernstoff aufbauen und nicht nur linear und einseitig denken? In diesem Kapitel haben wir einige Qualitätskriterien zusammengetragen, die sich in der Praxis bewährt haben.
Die Qualitätskriterien beziehen wir dann immer auf das Lernvideo „Wie schnell wachsen Zwillinge?“ als Beispiel für eine mögliche Umsetzung.
Die für die Kriterien wichtigste Leitlinie ist: Fachdidaktisches Wissen über das Lernen ist auch für Lernvideos und die dazugehörenden Lerneinheiten wichtig. Damit wird natürlich nicht ausgeschlossen, dass digitale Medien ggf. neue fachdidaktische Implikationen hervorbringen. Aber (alte oder neue) fachdidaktische Überlegungen sollten der Ankerpunkt für die Erstellung auch von digitalen Unterrichts-materialien sein. Das heißt beispielsweise: Die Lernziele sind bedeutsam für die intendierten Lernschritte, auch in digitalen Unterrichtsszenarien. Weidlich & Spannagel (Die Vorbereitungsphase im Flipped Classroom, 2014) nennen als Beispiele den Lernzieltyp Problemlösen mit den Lernschritten Problem generieren – Problem formulieren – Lösungswege vorschlagen – Lösungswege testen und auswählen – Transfer und den Lernzieltyp Begriffsbildung mit den Lernschritten Auseinandersetzung mit Beispielen und Gegenbeispielen – Formulierung der wesentlichen Merkmale des Begriffs – aktiver Umgang mit dem neuen Begriff – Anwendung in anderen Bereichen. Derartige Lernziele machen immer eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand notwendig. Weidlich & Spannagel kommen zu dem Schluss, dass in diesem Sinne „Videos, in denen Wissen dargeboten wird, zur Förderung der entsprechenden Lernprozesse nicht angemessen zu sein (scheinen).“ Kurz gesagt: Das bloße Abarbeiten von Lehrbuchtexten oder der bloße Konsum von Erklärvideos passt nicht zu ambitionierten Lernzielen. Ausführlich werden diese Aspekte in MO07 diskutiert.
Die gewählte Aufgabe soll fachdidaktischen Prinzipien (z.B. aktiv entdeckender Unterricht, Ermöglichen der Erfahrung eines stimmigen Bildes von Mathematik, Orientierung an echten Problemen) entsprechen und den Lernenden das Arbeiten in allen Anforderungsbereichen ermöglichen. Entsprechend haben wir den Einstieg in die Integralrechnung gestaltet.
- Das Ziel muss transparent sein und aus der Perspektive der Lernenden gedacht werden
Wie im „normalen“ Unterricht ist es auch bei Lernvideos extrem hilfreich, wenn für alle Beteiligten das Ziel des Lernprozesses und die Leistungserwartungen transparent sind. Und wie im „normalen“ Unterricht ist es fundamental wichtig, dass bei der Festlegung des Ziels die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen, deren spezifische Ressourcen und Interessen mitgedacht werden. Dies beinhaltet auch, dass relevante Informationen für die Lernenden verfügbar sein müssen.
Der Weg, die Hilfsmittel und die genutzten Medien zur Erfüllung der Leistungserwartungen werden aber weitgehend den Lernenden überlassen; hier werden allenfalls Angebote gemacht.
Beim Video „Wie schnell wachsen Zwillinge?“ entdecken die Lernenden eine Rekonstruktion von Größen (Thema der Unterrichtsreihe: Integralrechnung). Diese Lerngruppe war es gewohnt, neue Inhalte selbst zu erarbeiten und auszuhandeln. Anderenfalls empfiehlt es sich unbedingt beim erstmaligen Einsatz von Impulsvideos, das „Konsumverhalten“ der Lernenden zu thematisieren. Sebastian Stolls berichtet in seinem Blog, wie er Lernende und Eltern in die „Flipgewöhnung“ einbindet (MO08). Teil des Videos ist die Handlungsaufforderung, die Größe von Zwillingen an ihrem 17. Geburtstag zu ermitteln. Das Ziel und das weitere Vorgehen im Präsenzunterricht ist den Lernenden bekannt (ab Minute 2:30). Die Wege und Hilfsmittel sind dabei nicht festgelegt. Jeder Weg und Zugang hat erst erstmal seine Berechtigung.
2. Das Maß an Verbindlichkeit muss hoch sein
Die Lernenden müssen merken, dass es einen Unterschied macht, ob sie den im Video transportierten Impuls bearbeiten oder nicht.
Dies kann dadurch gewährleistet werden, dass die Lehrperson oder (besser noch!) die Mitschüler*innen Feedback geben oder einfach dadurch, dass die Bearbeitung wesentlich ist für den folgenden Unterricht. Für ein qualifiziertes Feedback ist es natürlich wichtig, dass die Schüler*innen über Indikatoren für eine erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe verfügen.
Strategien für den Umgang mit Lernenden ohne Vorbereitung, d.h. ohne die Bearbeitung des Impulses, können zum Beispiel bei Christian Spannagel nachgelesen werden (MO09). Erheblich ist hier auch die Einschätzung des Arbeitsverhaltens der Lerngruppe für die Positionierung des Schiebereglers im Impuls „So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig.“ von Axel Krommer, Philippe Wampfler und Wanda Klee (MO10).
Beim Video zur Integralrechnung wird die inhaltliche Verbindlichkeit realisiert, indem die sehr unterschiedlichen Ergebnisse und die prognostizierten Größen der Zwillinge als Ausgangspunkt für die weiteren mathematischen Überlegungen (Übergang zu einer infinitesimal feinen Einteilung der betrachteten Zeitintervalle) genommen werden. Die Strategien und Schwierigkeiten werden in der anschließenden Tandem-, der Gruppenarbeitsphase und im Unterrichtsgespräch beschrieben und verglichen. So beschränkt sich die Relevanz des Videos nicht auf eine einzige Distanz- oder Präsenzphase.
Als Indikatoren für eine erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe dient die Überprüfung, ob das gewonnene Ergebnis auch realistisch ist. Die Größe der Zwillinge an ihrem 17. Geburtstag sollte zwischen 1,60 m und 2,00 m liegen – andernfalls lohnt es sich, den Lösungsweg noch einmal zu überprüfen.
3. Die Aufgaben müssen die Schüler*innen aktivieren und ganzheitlich ansprechen
Vielfach verurteilen die Homeschooling-Aufgaben die Lernenden dazu, etwas Vorgegebenes zu lesen, zu konsumieren oder nachzuvollziehen. Lernen findet dann lediglich im AFB I statt.
Die Verführung, für die Schüler*innen den Lösungsweg für eine Aufgabe vorzudenken und diese dann dazu zu verurteilen, diesen Lösungsweg hinterherzudenken, ist weit verbreitet. Sie führt fast zwangsläufig zu einer Entmündigung der Lernenden und zu einer weitgehend passiven Teilnahme am Lernprozess.
Um dieser Verführung zu entgehen, bedarf es aktivierender Problemstellungen, die die Phantasien der Lernenden anregen und das eigenständige Arbeiten unterstützen. Besonders geeignet sind Problemstellungen, die vielfältige Lösungswege ermöglichen, selbstdifferenzierend sind, verschiedene Lernstile ansprechen, in einem bedeutsamen Kontext stehen und eine klare Handlungsaufforderung beinhalten.
Beim Video zur Integralrechnung wird dies realisiert, indem den Schüler*innen viele Materialien und Wege (die Arbeit am Graphen auf Papier, mit Hilfe einer GeoGebra-Datei, mit Hilfe einer Tabelle, …) zur Verfügung stehen, um zu einer Approximation der Körpergröße der Zwillinge zu gelangen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde sich der Einsatz mit der virtuellen Plattform GeoGebra Classroom (Tutorial: MO11) anbieten, welche unter anderem ein interaktives Austeilen der Aufgaben, unmittelbare Kommunikation und die Einsicht in Schüler*innenfortschritte bietet.
4. Die Aufgaben müssen die Kommunikation zwischen den Lernenden anregen
Wenn ein Lernvideo die Schüler*innen mit offenen und herausfordernden Problemstellungen konfrontiert, werden diese zunächst individuelle, subjektive Lösungen erarbeiten. Im Erkenntnisprozess verlangen diese nach einer allmählichen Objektivierung. Mit Peer-Feedback ist dies auch im #homeschooling leicht realisiert. Die Vergewisserung bei anderen Lernenden im geschützten Raum gibt Sicherheit, die explizite Formulierung gibt gedankliche Klarheit, die gemeinsame Kommunikation unterstützt die Kreativität.
Entsprechend der Impulse für das Lernen auf Distanz ist das Peer-Feedback von großer Bedeutung („so viel Peer-Feedback wie möglich, so viel Feedback von Lehrenden wie nötig“). Im Distanzlernen sollen die Lernenden ebenfalls in Tandems über Probleme und angedachte Strategien sprechen. Der geschützte Raum ermöglicht, dass alle ein erstes, vielleicht noch grobes, Feedback erhalten, bevor sie anschließend in Präsenz in Kleingruppen exemplarisch Wege und Ergebnisse (konkrete Größen der Zwillinge am 17. Geburtstag) vergleichen. Die intensive und individuelle Vorbereitung der Aufgabe hat in der Erprobung schnell heftige Diskussionen entfacht. An dieser Stelle haben wir ein aktives Lernverhalten unserer Lerngruppe und uns als Lernbegleiter*in (und nicht als Wissensvermittler*in) wahrgenommen. Wir möchten nicht verschweigen, dass wir uns immer wieder über solche Momente freuen!
5. Lernen braucht Redundanz
Viele der im Internet unter der Flagge der Bildung angebotenen Formate zeichnen sich durch hohe Informationsdichte und Prägnanz aus. Das gilt für dort veröffentlichte Dokumente, Videos oder Wikipedia-Artikel.
Michael Gieding weist darauf hin, dass fehlende Prägnanz sofort als Mangel wahrgenommen wird: „Jeder, der schon mal ein Video eines der zahlreich vertretenen Erklärbären auf YouTube etwa zu bestimmten Funktionen von Photoshop angesehen hat, kehrt reumütig zu RTFM zurück: Zu langatmig, zu umständlich, zu wenig auf den Punkt. Redundanz und Video passen nicht zueinander.“ (MO11a)
Jede*r, die/der sich mit Lernen beschäftigt, weiß aber, dass Lernen Redundanz braucht. Es ist also gerade bei Lernvideos eminent wichtig, der Versuchung zu widerstehen, die typischen Erklärvideos aus dem Internet zur Haupterkenntnisquelle eines Lernprozesses zu machen. Vielmehr müssen Lernvideos so aufgebaut sein, dass eine aktive Auseinandersetzung (s.o.), ein Ringen um Erkenntnis, eine Untersuchung von Lerngegenständen aus verschiedenen Perspektiven das didaktische Herzstück bildet.
Damit alle Lernenden den Impuls in ihren Möglichkeiten bearbeiten können, haben wir unter anderem eine offene selbstdifferenzierenden Aufgabe gewählt, trotzdem aber notwendige Redundanzen und Erklärungen integriert. Anderenfalls sehen wir die Gefahr der Frustration als zu groß an. Etwa ab der zweiten Minute werden exemplarisch Hinweise zum richtigen Umgang mit dem Graphen thematisiert. Dabei ist es uns wichtig, dass wir Lernende handlungsfähig machen, jedoch keine Lösungswege präferieren!
6. Signifikant mehr Tiefgang im folgenden Präsenzunterricht ist Pflicht
Im Einsatz von Lernvideos in asynchronen Lernphasen liegt die große Chance, dass die Lernenden ihre eigenen Zugänge zum Unterrichtsgegenstand konstruieren und tieferes Verständnis aufbauen; dies ist dann die Voraussetzung dafür, dass die synchronen Lernphasen (bzw. der Präsenzunterricht) auf diesem Verständnis aufbauen können.
Wenn man bedenkt, dass in den vorherigen Grundsätzen eine aktive Auseinandersetzung, gleichzeitig noch selbstständige Einbindung relevanter Informationen in die eigenen Überlegungen, kurz: harte Arbeit, von den Schüler*innen verlangt wird, muss es selbstverständlich sein, dass der folgende Präsenzunterricht mehr Lernertrag bietet als ein vergleichbarer Präsenzunterricht, der ohne diese „harte Arbeit“ durchgeführt wird.
Dies bezieht sich auf die inhaltliche Breite, mehr noch aber auf die inhaltliche Tiefe. Denn durch die individuellen Ergebnisse (die ggf. noch mit denen von Mitschüler*innen abgeglichen wurden) aus den Homeschooling-Aufgaben bringen die Schüler*innen bereits Einsichten mit, die viele Perspektiven einbeziehen und bereits zu Beginn der Unterrichtsstunde eine beträchtliche Tiefe gewährleisten. Aufgabe der Lehrperson ist es nun, den Erkenntnisstand der Schüler*innen zu diagnostizieren und in der Zone der nächsten Entwicklung den nächsten Schritt einzuleiten. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand ermöglicht eine intensivere und tiefere Auseinandersetzung, eine multiperspektivische Betrachtung, eine Vernetzung und eine kritische Reflexion, so dass die Forderung von Brame (MO12): „Provide in-class activities that focus on higher level cognitive activities.” realisiert werden kann.
Der Grundkurs Mathematik hat in mindestens drei Stufen diverse Zugangsweisen und Genauigkeiten der Ergebnisse verglichen und reflektiert (Tandem-, Gruppenarbeitsphase und im Plenum). Unsere Rolle war tatsächlich eher moderierend und organisierend (zum Beispiel die Dokumentation in OneNote). Die restliche Präsenzphase konnte dann für weitere Vertiefungen genutzt werden. Hier haben sich eine Modellkritik, eine Variation der Graphen und argumentative Aufgaben angeboten. Genau für diese Vertiefungen haben wir sonst- ohne den Videoeinsatz- oft wenig Zeit im Präsenzunterricht. Jedoch sind das genau die Phasen, in denen Lernende verstärkt Kommunikation und Kollaboration brauchen.
Überlegungen zur technischen Umsetzung
Der Wert eines Videos für die Schüler*innen hängt wesentlich vom Inhalt und von der Art ab, wie der Gegenstand didaktisch verarbeitet und wie eine Beziehung zu den Lernenden aufgebaut wird.
Dennoch ist auch die technische Umsetzung wichtig; wenigstens ein paar Grundregeln sollten beachtet werden, damit das Anschauen des Videos der Genuss ist, der er sein soll. Hierzu gibt es in der Literatur und im Internet (z.B. Sandra Schön: Was macht ein gutes Lernvideo aus? LU43) sehr viele Veröffentlichungen, daher beschränken wir uns hier auf drei Hinweise:
- Der Ton macht die Musik.
Gerne wird die Tonqualität unterschätzt. Sehr unangenehm sind Störgeräusche, wenn im Freien gefilmt wird, können dies Wind und Rauschen sein.
Wenn man keine Störgeräusche zu befürchten hat, muss kein professionelles Mikrophon gekauft werden: Das Mikrophon der meisten Smartphones ist ausreichend. Es lohnt sich aber, vor der gesamten Aufnahme die Tonqualität zu testen.
Ansonsten ist eine klare und deutliche Sprache wichtig. Das bezieht sich vor allem auf die Artikulation. Es gilt aber natürlich auch für das Sprachniveau. Häufig ist eine einfache Sprache empfehlenswert.
Gegebenenfalls kann dem Video noch Musik hinzufügt werden. So wird das Video noch etwas aufgepeppt. Wenn es passt, kann das Wesentliche auch in eine Geschichte oder eine Anekdote gepackt werden – der Betrachter wird der Geschichte gerne folgen!
2. Starke Bilder – starke Impulse
Wird das Smartphone als Kamera verwendet, gibt es zwei wichtige Tipps:
Erstens nimmt man immer (!) mit der Hauptkamera und zweitens nimmt man nie (!) im Hochformat, sondern immer im Querformat auf.
Außerdem sind unabhängig von der Qualität der Kamera verwackelte Bilder mehr als ärgerlich. Die beste Lösung besteht daher darin, ein Stativ zu verwenden. Falls dies nicht vorhanden oder im Gelände nicht geeignet ist, sollte die Kamera oder das Smartphone mit beiden Händen festgehalten, gegebenenfalls sollten sogar die Arme noch abgestützt werden.
Auch auf gutes Licht sollte geachtet werden, am besten nimmt man weder in der prallen Sonne noch nach Sonnenuntergang auf, und natürlich vermeidet man Gegenlicht.
Mit Hilfe von Bildausschnitt, Perspektive und Einstellungsgröße lassen sich verschiedene implizite Botschaften (z.B. die Person ist wichtig und kompetent) gut unterstreichen.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist auch die Passung von Text und Visualisierung. Dabei spricht nichts gegen einen für die Adressat*innen zunächst unerwarteten Hintergrund, z.B. in der Natur, solange dieser nicht ablenkt oder unprofessionell wirkt (z.B. Erzähler*in mit Chips auf dem Sofa). Es ist aber darauf zu achten, dass die Visualisierungen nicht zu einem Informations-Overload führen.
3. Kurz und knackig
Ein gutes Lernvideo sollte alles Relevante enthalten und dabei „nicht zu kurz und nicht zu lang“ sein. Was bedeutet das?
Für den schulischen Bereich wird eine Videolänge etwa zwischen zwei und sieben Minuten als effektiv angesehen.
Handlungsaufforderung und -empfehlungen
Starten Sie! Auch wenn Sie bisher noch nicht viel mit Videos im Unterricht gearbeitet haben.
Machen Sie Ihren ersten Schritt! Es lohnt sich. Oft motiviert dieses Unterrichtsformat alle Beteiligten und regt wünschenswerte Kommunikation sowie ganzheitliche Aktivitäten an. Gleichzeitig möchten wir jedoch auch vor zu hohen Erwartungen warnen. Lehrer*innen und Schüler*innen müssen diese Art des Lernens auch erst erlernen und reflektieren. Beginnen Sie mit kurzen eher kleineren Impulsen. Die Videos müssen keinesfalls perfekt sein.
Das Vorgehen und der Impuls sollten jedoch auch didaktisch durchdacht sein. Hier eignen sich besonders (halb-)offene, selbstdifferenzierende, vielleicht sogar fächerübergreifende Problemstelllungen, die zur Lernausgangslage passen. Erlauben Sie uns die Empfehlung der Vernetzung und kollegialen Zusammenarbeit: Der Videodreh mit Kolleg*innen macht nicht nur viel Spaß; weitere Erfahrungen, Ideen und Blickwinkel sind häufig extrem bereichernd. Damit sind auch explizit digitale Möglichkeiten der Vernetzung und Zusammenarbeit (z.B. das #twitterlehrerzimmer) gemeint.
Natürlich möchten wir keinesfalls eine Empfehlung für eine starre monomethodische Vorgehensweise mit Impulsvideos aussprechen! Auch Erklärvideos können ihre Berechtigung haben, sollten jedoch kritisch auf didaktische Prinzipien und ein zeitgemäßes Lernverständnis hin überprüft werden. Videos als Lernprodukte von Schüler*innen sind in diesem Artikel nicht explizit erwähnt, aber oft ein hervorragend geeignetes Aufgabenformat.
Ein persönliches Anliegen ist es uns, auch noch kurz die Beziehungs- und Rückmeldungsaspekte anzusprechen. Stärken solcher Impulsvideos sind unter anderem das Ermöglichen von asynchronen Arbeitsweisen und einer gewissen „Freiheit“, die Lernenden zugesprochen werden. Asynchrone Arbeitsweisen und Freiheiten dürfen jedoch nicht in Beliebigkeit und Anonymität enden (vgl. Impulse für das Distanzlernen).
Jetzt hoffen wir, dass Sie Lust bekommen haben ein Impulsvideo für den #digifernunterricht zu erstellen und mögliche Gründe für passives Verhalten der Lerngruppen ihre Bedeutung verlieren. Auf Ihre Ideen, Rückfragen, Erfahrungen und Tipps freuen sich nicht nur Ihr Kollegium, Ihre Seminare und Schüler*innen. Auch das #twitterlehrerzimmer und die Autoren @ClaLan8 und @LeiterGyGe sind sehr interessiert und gespannt.
Zusatz vom Herausgeber (Mo13)



Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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