Dr. Jens Soemers – Juni 2020, Beitrag aus eigener Literatur unter www.jsoemers.de
Plädoyer: Lehrer-Schüler-Beziehungen * stärker fokussieren
Wie wir wissen, veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie am 18. November 2008 die auf 50 000 Einzeluntersuchungsergebnissen und 815 Metaanalysen basierende Megastudie „Visible Learning“, an der mehr als 250 Millionen Schüler beteiligt waren und in der sämtliche bis dahin weltweit veröffentlichte, englischsprachige Forschungsergebnisse zum Lehren und Lernen zusammengeführt und ausgewertet wurden. Und uns ist auch bekannt, dass Hattie in seiner Studie zu dem Ergebnis kommt, dass der elftgrößte von insgesamt 138 wissenschaftlich untersuchten Einflussfaktoren auf die Lernleistung von Schülern die Qualität der pädagogischen Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern ist (Hattie, 2009).
Erinnern wir uns an unsere eigene Schulzeit, wird uns auch schnell klar, dass wir sowohl dem Ergebnis von Hattie, als auch den Resultaten zahlreicher weiterer Forschungen über Lehrer-Schüler-Beziehungen aus den Bereichen der Neurobiologie (Hüther, 2004, S. 489ff.) und Pädagogischen Psychologie (Ryan, Stiller & Lynch, 1994, S. 245f.) zustimmen müssen, denn auch unsere Lernerfolge waren in der Regel sehr stark davon abhängig, wie gut wir mit unseren Lehrern in den jeweiligen Fächern „konnten“.
Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse sollten wir Lehrkräfte uns unbedingt darüber im Klaren sein, dass wir in der Lage sind, die Lerndisziplin, die Leistungsmotivation sowie die Aufmerksamkeit und das Interesse unserer Schüler durch die Gestaltung lernförderlicher Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht zu erhöhen, was aktuellen Studien zufolge unsere Stress-Symptome wie Unruhe, Reizbarkeit, Nervosität, Erschöpfung, Versagensängste verringert und unsere Erfüllung im Lehrberuf und unsere Berufszufriedenheit steigert (Wesselborg, 2017, 247ff.). Für unsere pädagogische Praxis ist das Wissen um die nachfolgend modellhaft dargestellte Entwicklung von Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht somit von besonderer Relevanz.
Modell: Entwicklung von Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht
Rahmenbedingungen des schulischen Lernens
Schulisches Lernen vollzieht sich innerhalb gesetzlicher, unterrichtlicher und individueller Rahmenbedingungen. Rahmenbildend sind dabei die vom Schulgesetz vorgegebenen Bildungs- und Erziehungsziele (wie z.B. die verantwortliche Teilnahme am Leben), sowie die daraus von den Lehrkräften unter Berücksichtigung der individuellen Rahmenbedingungen der Schüler (wie z.B. die Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen) geschaffenen unterrichtlichen Rahmenbedingungen (wie z.B. der Erwerb von Kompetenzen durch Lernen in kognitiven, affektiven und psychomotorischen Bereichen).
Innerhalb dieser drei Rahmenbedingungen entwickeln sich Lehrer-Schüler-Beziehungen spezifisch, wobei diese Entwicklung maßgebend durch einen äußeren, eher formalen und einen inneren, mehr materiellen Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung geprägt ist.
Äußerer Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung
Im äußeren Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung ist die Entwicklung abhängig von der allgemeinen Stellung des Lehrers zu seinen Schülern und der Position der Schüler zu ihrem Lehrer, wobei soziodemografische Faktoren wie das Alter und das Geschlecht, die soziokulturellen Bedingungen wie die Peers und Kollegen und die intrapersonale Variablen wie der Erziehungsstil, die Erwartungen, die Einstellungen, die Persönlichkeit und das berufliche Selbstkonzept des Lehrers und die Reifung, die Entwicklung, die Persönlichkeit, die Erwartungen und die Einstellungen seitens des Schülers die gegenseitigen Wahrnehmungen beeinflussen und eine ständige, transaktionale Verhaltenssteuerung, an der beide Seiten einen aktiven Anteil haben, bedingen.
Es wird anerkannt, dass nicht der Lehrer einseitig auf den Schüler einwirkt, sondern dass eine permanente, wechselseitige Verhaltenssteuerung stattfindet, an der Lehrer und Schüler beide aktiv beteiligt sind und durch die sie ihr Verhalten gegenseitig beeinflussen (Nickel, 1983, S. 145).
Innerer Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung
Der innere Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung ist untrennbar in diese ablaufenden Prozesse integriert und wird durch die Wahrnehmung des interpersonellen Vertrauens bestimmt. Dabei wird das Vertrauen des Schülers gegenüber seinem Lehrer insbesondere von der persönlichen Zuwendung, der fachlichen Kompetenz und Hilfe, dem Respekt, der Zugänglichkeit und der Aufrichtigkeit beeinflusst (Schweer, 1997, S. 144f.).
Modelldarstellung
In der folgenden Abbildung sind die Rahmenbedingungen des schulischen Lernens, der äußere und innere Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehungen sowie die Zusammenhänge zwischen den Bereichen dargestellt.
Da die in den Ausführungen begründeten intrapersonalen Variablen im äußeren und die Elemente der Wahrnehmungen im inneren Modellbereich sowie die zwischen den abgebildeten Elementen bestehenden zahlreichen weiteren direkten und indirekten Zusammenhänge aufgrund der hohen Komplexität nicht pauschalisierend sein können, ist die Abbildung als eine mögliche Akzentuierung der Beziehungsgestaltung zu verstehen.

Modellablauf
Das Modell zeigt, dass Lehrer und Schüler innerhalb der beschriebenen gesetzlichen, unterrichtlichen und individuellen Rahmenbedingungen mit ihren jeweiligen soziodemografischen Faktoren und soziokulturellen Bedingungen in transaktionale Beziehungen mit ständigen Rückmeldeprozessen und permanenten wechselseitigen Verhaltenssteuerungen zueinander treten.
Die Qualität dieser Beziehungen wird dabei entscheidend von den Wahrnehmungen des gegenseitigen Vertrauens im inneren Modellbereich, die von intrapersonalen Variablen abhängen, beeinflusst.
Dabei ist festzuhalten, dass Schüler innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehungen die Kategorien der persönlichen Zuwendung, der fachlichen Kompetenz und Hilfe, des Respekts, der Zugänglichkeit und der Aufrichtigkeit als besonders vertrauensfördernd wahrnehmen. Diese Kategorien im inneren Bereich bedingen die Qualität des von der Transaktion geprägten äußeren Bereichs der Lehrer-Schüler-Beziehungen, die in der Folge dann das kognitive, affektive und psychomotorische Lernen zur Kompetenzentwicklung im Kompetenzbereich begünstigt oder beeinträchtigt.
Zum besseren Verständnis des Modells sollen zwei Beispiele dienen, welche die Entstehung lernförderlicher und lernbeeinträchtigender Lehrer-Schüler-Beziehungen sowie dessen Auswirkungen auf das Lernen und den Kompetenzerwerb im Unterricht deutlich machen. Dabei bemisst sich die Bewertung der Güte der Beziehungen nicht an impliziten Leitlinien von Gut und Schlecht oder moralischen Maßstäben, sondern hängt davon ab, ob sie die vom Schulgesetz vorgegebenen Bildungs- und Erziehungsziele fördern oder beeinträchtigen.
Beispiel: Entwicklung lernförderlicher Lehrer-Schüler-Beziehungen
Bei der Unterrichtsvorbereitung im Rahmen der didaktischen Jahresplanung beschließt ein Lehrer, in der kommenden Unterrichtsstunde verstärkt die Sozialkompetenz seiner Schüler durch Lernprozesse im affektiven Lernbereich zu fördern (affektives Lernen = Sozialkompetenz, Kompetenzbereich). Weil die Schüler erst vor kurzem auf die weiterführende Schule gekommen sind (Alter der Schüler = soziodemografischer Faktor, äußerer Bereich), entscheidet sich der Lehrer im Rahmen der didaktischen Analyse, den Schülern im Fach Deutsch zu Beginn der Stunde zunächst grundlegende Regeln der Kommunikation in einem kurzen Lehrervortrag zu vermitteln (Stundeninhalt = Kommunikation, Sozialform = Frontalunterricht, Aktionsform = Lehrervortrag, unterrichtliche Rahmenbedingung). Für die dann folgende Phase der Partnerarbeit entwickelt der Lehrer eine Lernaufgabe (Sozialform = Partnerarbeit, Aktionsform = Lernaufgabe, unterrichtliche Rahmenbedingung), in der die Schüler selbstgesteuert (Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen = individuelle Rahmenbedingung) unter Einhaltung der vorher vermittelten Kommunikationsregeln nach der Auslösung eines kognitiven Konfliktes mit Hilfe eines Informationstextes eine Lösung für ein Kommunikationsproblem entwickeln und mit Hilfe eines Plakats als Handlungsprodukt vorstellen sollen (didaktisch-curriculares Konzept = Handlungsorientierung, unterrichtliche Rahmenbedingung).
Pünktlich zu Beginn der Unterrichtsstunde betritt der Lehrer, der seinen Schülern stets zugewandt und sich seiner Verantwortung und Vorbildfunktion bewusst ist, gut gelaunt den Klassenraum (berufliches Selbstkonzept = intrapersonale Variable, äußerer Bereich). Die Schüler sitzen bereits auf ihren Plätzen (Reifung = intrapersonale Variable, äußerer Bereich) und sind aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Stunden gespannt auf den heutigen Unterricht (Erwartungen = intrapersonale Variable, äußerer Bereich). Der Lehrer hat sich in den vergangenen Wochen zunehmend auf den Unterricht gefreut, weil sich das Lernverhalten der Schüler stetig verbessert hat. Nach Aussagen der Schüler ist diese Verbesserung auf das veränderte Lehrerverhalten zurückzuführen (Transaktion = wechselseitige Verhaltenssteuerung, äußerer Bereich).
Nach dem kurzen Lehrervortrag über die grundlegenden Regeln der Kommunikation beginnen die Schüler mit der Bearbeitung der Lernaufgabe. Wie in der Vergangenheit bereits mehrmals vorgekommen, unterbricht eine leistungsschwächere Schülerin nach einiger Zeit ihre Arbeit, wendet sich mit ehrlichen Worten an den Lehrer und bittet ihn um seine Unterstützung (fachliche Kompetenz und Hilfe = Vertrauen, innerer Bereich), da sie das in der Lernaufgabe dargestellte Problem nicht verstanden hat. Der Lehrer, der die Sorgen der Schülerin bereits wahrgenommen und sich über das ihm entgegengebrachte Vertrauen freut (Vertrauen = Wahrnehmung, innerer Bereich), setzt sich neben die Schülerin und erklärt ihr in Ruhe die Problemstellung, sodass sie das Lernen kurz darauf fortsetzen und die Lernaufgabe erfolgreich bearbeiten kann (affektives Lernen = Kompetenzentwicklung, Kompetenzbereich).
Das Beispiel verdeutlicht eine dreistufige postulierte Wirkungskette zwischen a) den vom Lehrer bei seinen Vorbereitungen unter Berücksichtigung der Schülerfähigkeiten erstellten Rahmenbedingungen der jeweiligen Unterrichtsstunde, b) den Lehrer-Schüler-Beziehungen, die im äußeren Bereich durch die wechselseitigen Verhaltenssteuerungen in den vergangenen Wochen und im inneren Bereich durch die Wahrnehmungen des gegenseitigen Vertrauens bestimmt wird und c) den Lernprozessen zur Kompetenzentwicklung im Kompetenzbereich der Schüler. Dabei ist davon auszugehen, dass die drei Stufen in einem reziproken Verhältnis zueinanderstehen und sich gegenseitig bedingen. So wird ein erfolgreich verlaufender Lernprozess im Kompetenzbereich zukünftig sowohl das Vertrauen im inneren als auch die Transaktion im äußeren Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehungen begünstigen und sich wiederum positiv auf die vom Lehrer zu entwickelnden Rahmenbedingungen für die folgenden Unterrichtsstunden auswirken.
Nachfolgend wird die Entwicklung lernbeeinträchtigender Lehrer-Schüler-Beziehungen durch eine Abwandlung des dargestellten Beispiels beschrieben.
Beispiel: Entwicklung lernbeeinträchtigender Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht
Gleichgültig betritt der Lehrer den Klassenraum (Einstellung = intrapersonale Variable, äußerer Bereich). Die Schüler wirken gelangweilt, stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich (Einstellung = intrapersonale Variable, äußerer Bereich). Aufgrund der Erfahrungen aus den vergangenen Wochen freuen sie sich nicht auf den Lehrer und sehnen bereits jetzt das Unterrichtsende herbei. Dem Lehrer geht es ähnlich, weil er in den letzten Stunden gemerkt hat, dass er den Schülern gleichgültig ist und sie sich nicht für seinen Unterricht interessieren (Transaktion = äußerer Bereich).
Wie in den vergangenen Unterrichtsstunden muss der Lehrer einzelne Schüler mehrmals zur konzentrierten Mitarbeit auffordern (Reifung = intrapersonale Variable, äußerer Bereich). Auch nimmt er wahr, dass viele Schüler aufgrund ihres Vorwissens und der fehlenden Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen (selbstgesteuertes Lernen = individuelle Rahmenbedingung, äußerer Bereich) mit der Lösung des Problems in der Lernaufgabe überfordert sind (Aktionsform = Lernaufgabe, unterrichtliche Rahmenbedingung). Da die Schüler mit ihren Fragen nicht hilfesuchend auf den Lehrer zugehen (fehlende Zugänglichkeit = Vertrauen, innerer Bereich), sieht auch der Lehrer keinen Sinn darin, sich den Schülern zuzuwenden (fehlende persönliche Zuwendung = Vertrauen, innerer Bereich), um sie bei der erfolgreichen Bearbeitung der affektiv angelegten Lernaufgabe zu unterstützen (affektives Lernen = Sozialkompetenz, Kompetenzbereich).
Es ist davon auszugehen, dass die misslungenen Lernprozesse im Kompetenzbereich zukünftig sowohl das Vertrauen im inneren als auch die Transaktion im äußeren Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehungen nachteilig beeinflussen und sich negativ auf die vom Lehrer zu entwickelnden Rahmenbedingungen für die nachfolgenden Unterrichtsstunden auswirken.
Handlungsempfehlungen: Gestaltung lernförderlicher Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht
Aktuellen Studien zufolge können Lehrkräften folgende Handlungsempfehlungen für die Gestaltung lernförderlicher Lehrer-Schüler-Beziehungen im Unterricht gegeben werden:
- Gehen Sie sehr ernsthaft auf die Anregungen, Fragen und Probleme ihrer Schüler ein.
- Signalisieren Sie ernsthaftes Interesse am Lernfortschritt Ihrer Schüler.
- Zeigen Sie Ihren Schülern, dass sie motiviert sind und sie sich auf Sie verlassen können.
- Vermitteln Sie Ihren Schülern das Gefühl, dass Sie ehrlich zu ihnen sind.
- Machen Sie klar, dass Sie jedem Schüler bei individuellen Lernproblemen gerne helfen.
Verdeutlichen Sie, dass es Ihnen wichtig ist, dass wirklich alle Schüler in der Klasse etwas lernen.
Ihr Engagement wird sich auszahlen.
Literatur
Hattie, J. (2009). Visible learning: a synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London: Routledge.
Hüther, G. (2004). Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns. Zeitschrift für Pädagogik, 50, 487-495.
Nickel, H. (1983). Beziehungen zwischen Lehrer- und Schülerverhalten. In H. Kury & H. Lerchenmüller (Hrsg.), Schule, psychische Probleme und sozial abweichendes (S. 131-186) Köln: Heymann.
Ryan, R. M., Stiller, J. D. & Lynch, J. H. (1994). Representations of relationships to teachers, parents, and friends as predictors of academic motivation and self-esteem. The journal of early adolescence, 14, 226-249.
Schweer, M. (1997). Bedingungen interpersonellen Vertrauens zum Lehrer: Implizite Vertrauenstheorie, Situationswahrnehmung und Vertrauensaufbau bei Schülern. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 44, 143-151.
Soemers, Jens (2020. Lehrer-Schüler-Beziehungen im Berufsschulunterricht – Eine empirische Studie über die Kategorien und Merkmale besonders guter und nicht besonders guter Lehrer-Schüler-Beziehungen und deren Auswirkungen auf den Erwerb beruflicher Handlungskompetenzen von Berufsschülern. Hürth: Dr. Jens Soemers.
Wesselborg, B. (2017). Lehrergesundheit im Zusammenhang mit Lehrer-Schüler-Beziehungen. In: Weyland, U., Reiber, K. (Hrsg.): Entwicklungen und Perspektiven in den Gesundheitsberufen – aktuelle Handlungs- und Forschungsfelder. Bonn 2017, S. 247-267.
*Es wird der Lesbarkeit halber von Lehrer-Schüler-Beziehung gesprochen. Dies schließt Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehungen ein.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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