Worauf kommt es an?
Tom Mittelbach – Mai 2020
Vorweg, ein Ratgeber, wie man am besten eine professionelle pädagogische Beziehung zu Schüler*innen aufbaut, ist Augenwischerei. Er wäre ebenso Augenwischerei wie die psycho-logischen Beziehungstipps aus der Dr. Sommer-Ecke. Man darf und muss unterstellen, dass Lehrkräfte und Pädagog:innen ein ernsthaftes Interesse am Kontakt und der sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen haben. Das setzt zudem voraus, dass man gewillt ist, sich in professionelle pädagogische Beziehungen zu begeben. Ich unterstelle also eine aktive Rolle bei der Aufnahme von Beziehungen. Und die kann so individuell sein wie die Personen selbst.
Kontakt stellt man oftmals im nicht- unterrichtlichen Setting wie Pausenbetreuung, im Schülertreff oder auf Ausflügen her. Aber auch im Unterricht durch Themen mit Lebensweltbezug zum Leben der Lernenden. Ehrliches Interesse an den persönlichen Meinungen und Haltungen der Kinder und Jugendlichen ist ebenso wirksam für die Kontaktherstellung. Kontakt entsteht durch Wahrnehmen, durch Ansprechen, durch Fragen stellen und durch Gespräche, ja, auch durch Small Talk. Und aus Kontakt, auch aus unbewusstem und unbeabsichtigtem, wird eine individuelle Beziehung.
Die Beziehungsfrage ist die wichtigste, die sich im organisierten Lehr- und Lernbetrieb zwischen den Hauptakteuren, den Lehrenden und den Lernenden, stellt. Ohne gelingende Beziehung findet keine wirksame Pädagogik statt. Und es ergibt sich keine so gute Lehre, wie sie eigentlich sein könnte. Wir alle haben Lehrende vor dem Auge, wenn wir in unsere Schulzeit zurückblicken, an die wir uns gerne erinnern. Besondere Ereignisse, individuelle Marotten und ein positives Gefühl sind Merkmale dieser Erinnerungen an Pädagog:innen, zu denen wir eine gute Beziehung hatten.
Ich habe selbst ein Jahrzehnt lang in der aufsuchenden Jugendsozialarbeit als Streetworker gearbeitet. In diesem Milieu ist die Beziehung die einzige Grundlage auf der sinnvoll pädagogisch gearbeitet werden kann. Das schulische Zwangssystem ist genau das Gegenteil vom freiwilligen Kontakt mit der pädagogischen Fachkraft. Zusätzlich arbeitete ich mit dem akzeptierenden Ansatz, um eine tragfähige Beziehung herzustellen. Ich war Gast in der Lebenswelt der Klient:innen. In der Schule ist es andersrum. Dort sind wir auf Gedeih und Verderb zusammen. Wir treffen uns an einem fremdbestimmten Ort, zu einer von Dritten festgelegten Zeit, zu einem Thema zusammen, welches sich alle nicht ausgesucht haben. Denkbar ungünstige Voraussetzungen für den Aufbau einer Beziehung.
Kongruenz
Die (vermeintlich) starren Strukturen der Schule ermöglichen durch eben dieses Setting, die (Schul-)Regeln, die festgelegten Zeiten und auch die Rituale, Sicherheit und Orientierung. In diesem sicheren Rahmen kann Beziehung gelingen, wenn die Lehrkraft sich kongruent verhält. Das bedeutet, dass die Lehrperson als echt erlebt werden kann. Die Lernenden spüren genau, ob die Lehrkraft das meint, was sie sagt. Hier ist es wichtig sich selbst gut zu kennen und zu reflektieren.
Akzeptanz
Der Aufbau einer pädagogischen Beziehung in der Schule braucht bedingungslose Akzeptanz, verstanden als positive Zuwendung. Diese positive Zuwendung muss Bestand haben, insbesondere in schwierigen Situationen. Kinder machen Probleme, weil sie Probleme haben. Es ist sehr wichtig, dass sich Kinder und Jugendliche akzeptiert fühlen, so wie sie sind. Diese Akzeptanz erzeugt ein Gefühl des Angenommenseins. Selbstverständlich lässt sich eine solche Zuwendung nicht spielen, es lässt sich Akzeptanz nicht erzwingen. Eine solche Beziehung gelingt nur, wenn die Lehrkraft sie auch will und bereit ist darin zu investieren.
Empathie
Das Einfühlungsvermögen in das Gegenüber ist ein weiterer sehr wichtiger Baustein gelingender pädagogischer Beziehungen. Jeder kennt das Gefühl, dass die Person gegenüber wirklich versteht was man meint und mitfühlt. Empathie, gepaart mit aktivem Zuhören, ermöglicht das Gefühl des angenommen werden und vermittelt Akzeptanz. Für Empathie muss man sich Zeit nehmen. Empathie geht nicht zwischen Tür und Angel oder zwischen Aufgabenerklärung und Konfliktschlichtung. Empathie muss man aber auch wollen.
Verlässlichkeit
Eine Lehrkraft, die eine tragfähige Beziehung zu Kindern und Jugendlichen aufbauen und erhalten möchte, muss verlässlich sein. Als Person, als Autorität, als strukturgebender Mensch. Sie ist kongruent und empathisch und pflegt einen respektvollen Umgang. Demokratische Verhaltensweisen gehören selbstverständlich zu ihrem Repertoire wie die Augenhöhe mit den Lernenden einzunehmen. Lehrkräfte, die Beziehungen ehrlich und pädagogisch pflegen, verstehen sich und die Lernenden als gemeinsam Suchende, als gemeinsam Entdeckende und gemeinsam Lernende.
Wertschätzende Dialoghaltung
Der weitverbreitete Adultismus, der unter anderem Machtungleichheit und der Missachtung von Kinderrechten beinhaltet, ist schwer zu bemerken und nur durch fachliche und professionelle Selbstreflexion zu erkennen und zu beseitigen. Machtungleichverhältnisse und Diskriminierungsformen gehören nicht zu gelingender Pädagogik in der zeitgemäßen Bildung. Eine Lehrkraft, die sich zeitgemäßer Bildung verschrieben hat, nimmt eine wertschätzende Dialoghaltung ein.
Partizipation
Demokratische Verhaltensweisen sind ein weiterer Baustein der Beziehungsarbeit. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Prozessen im Unterricht, an Feedback und an Unterrichtsplanung fördert die Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen und führt dazu, dass sie sich als selbstwirksam erleben. Diese Maßnahmen beinhalten Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der verschiedenen Meinungen und Ideen der einzelnen Kinder und Jugendlichen. Sie werden durch und von den Erwachsenen ernst genommen.
Das Beziehungen nicht einfach sind, das wird jeder Mensch sofort unterschreiben. Es gibt Konflikte, schlechte Tage oder schlechte Stimmungen, ja, das muss eine Beziehung auch mal aushalten. Wenn man sich gegenseitig persönlich anerkennt und respektiert, dann hält die Beziehung das aus. Man kann solche Beziehungen als tragfähig bezeichnen.
Professionelle Distanz
Bei aller nötigen Kongruenz und Empathie ist emotionaler Abstand zu den Lernenden innerhalb der pädagogischen Beziehung zu wahren. Oftmals sind die Kinder und Jugendlichen aus prekären schwierigen Verhältnissen und es kann schwer sein und werden den professionellen Abstand zu wahren.
Beziehung wollen
Viele Ratgeber und Autor:innen verweisen auf die unterschiedlichen Rollen von Lehrkräften und Lernenden, es sei ja fürwahr kein Verhältnis auf Augenhöhe. Das ist eine veraltete und falsche Einstellung. Eine Begegnung mit dem jungen Menschen auf Augenhöhe nimmt ihn oder sie in seine:r Einzigartigkeit ernst und ermöglicht erst so gelingende Beziehung. Debatten und Lehren auf “Ich habe das Sagen – Du nicht” – Ebene sind nicht zeitgemäß.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Reckahner Reflexionen (Prengel, Piezunka 2020) unbedingt erwähnen, sie definieren ethische Leitlinien für die pädagogische Beziehungsarbeit.
Es gilt für jede lehrende Person: “Als Lehrer und Erzieher verpflichte ich mich, es (das Kind) die Welt erfahren zu lassen, wie sie ist, ohne es der Welt zu unterwerfen, wie sie ist (..) und seinen Willen nicht zu brechen – auch nicht, wo er unsinnig erscheint; ihm vielmehr dabei zu helfen, seinen Willen in die Herrschaft seiner Vernunft zu nehmen; es also den mündigen Verstandesgebrauch und die Kunst der Verständigung wie des Verstehens zu lehren.” (Von Hentig 1993)
Die Frage nach der Macht weicht der Frage nach dem befriedigenden Zusammenleben (Singer 2020)
Und bevor man in eine professionelle pädagogische Arbeit eintritt, welche professionelle Beziehungsarbeit unter anderem zum Inhalt hat, muss man sich klarmachen: Beziehungen muss ich wirklich wollen. Und es geht ums Eingemachte: um die Lehrerpersönlichkeit, darum, was du für ein Mensch bist. Diese Frage ist untrennbar mit der Beziehungsarbeit verbunden.
Einfach mal nebenbei Beziehung aufbauen? Das geht und gibt es nicht.
Literatur:
Prengel, Prof. Dr. Annedore und Piezunka, Anne (2020): Leitlinen. URL: http://paedagogische-beziehungen.eu/leitlinien/, 25.05.2020, 21:02 Uhr
Singer, Kurt (2020): Mit Schülern in achtsamer Beziehung sein. URL: http://www.prof-kurt-singer.de/lehrer3.htm, 26.05.2020, 10.43 Uhr
Von Hentig (1993): Der sokratische Eid. URL: https://www.uni-bielefeld.de/LS/laborschule_neu/dieschule_hentig_eid.html, 25.05.2020, 22:21 Uhr
Wir alle dürfen nicht vergessen, dass Lernen viel mit Beziehung und Wertschätzung zu tun hat.
Claudia Langnickel und Reinhard Schmidt
Es geht nicht (nur) um Strom. Es geht nicht (nur) um Tablets. Es geht nicht (nur) um Apps. Es geht um Unterrichtswandel.
Holger Müller-Hildebrand

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Hybridunterricht 101” – ein Gemeinschaftswerk von 33 Autor:innen, das zeigt, wie Hybridunterricht in modernen Unterrichtskonzepten umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Digitalisierung sondern auch um soziale Aspekte, die für hybrides Lernen wichtig sind.
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