Lesen lernen mit Bilderbüchern
Karin Reber
Übersicht
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Zusätzliche Information: Schriftarten für Mac oder Windows, Reber & Steidl 2018
Kurzbeschreibung
Während die Anlauttabelle beim Schreiben erster Wörter unterstützt, erleichtern die Anlautschriften (Reber & Steidl 2018) den Leseprozess, besonders wenn einzelne Buchstaben noch unbekannt oder unsicher sind. Anlautschriften sind Schriftarten für den Computer und können somit nach einmaliger Installation in allen Programmen (z.B. Textverarbeitung) auf einem Computer genutzt werden.
Motivation
Lesen lernt man, um zu lesen: Nicht um dadaistische Fibeltexte zu enträtseln, sondern um in spannende Geschichten einzutauchen, erstaunliche Sachinformationen zu lesen oder ganz banal, um herauszufinden, wie ein Geschäft heißt. Um von Anfang an richtige Wörter, Sätze oder Mini-Texte lesen zu können, fehlen aber noch lange im 1. Schuljahr Buchstaben.
Beim Schreibenverwendet man didaktisch eine Anlauttabelle, die in allen Lehrwerken inzwischen fester Werkbestandteil ist (vgl. ursprünglich Lauttabelle in Lesen durch Schreiben nach Reichen 2001, später Spracherfahrungsansatz bzw. ABC Lernlandschaften nach Brinkmann 2019): Nach einer Einführung in die Anwendung und das zugrunde liegende Prinzip können Kinder dort noch nicht gelernte Buchstaben nachschauen.
Für das Lesen ist die Anlauttabelle allerdings nicht das geeignete Werkzeug: Um einen unbekannten Buchstaben nachzusehen, müsste das Kind den Aufmerksamkeitsfokus weg vom zu Lesenden hin auf die Anlauttabelle und zurück lenken: Dabei verlieren sich Kinder, und der Leseprozess ist dafür auch noch nicht genügend automatisiert.
Anlautschriften: Lesen lernen mit Anlautbildern
Eine Lösung bieten Anlautschriften (Reber & Steidl 2018, vgl. Abb. 7.4.1): Hier wird zu jedem Graphem zusätzlich das Anlautbild direkt über dem Buchstaben präsentiert (Reber 2012/2017). Die Technik macht das einfach möglich: Beim Tippen auf der Tastatur erscheint bei diesen Schriften also nicht nur der Buchstabe, sondern auch gleich das Bild mit.

Besonderheiten:
- Mehrgliedrige Grapheme (z.B. <sch>, <au>) werden nicht als Einzelbilder dargestellt, sondern durch ein Bild umgesetzt. Das Mehrgraph selbst wird durch einen Bogen nochmal als Einheit betont.
- Eine visuelle Hervorhebung von Rechtschreibbesonderheitendurch Denkblasen (z.B. <tz>) ergibt für den Übergang zum Rechtschreibunterricht Sinn: Abhören der Anlaute hilft hier nicht weiter, man muss nachdenken oder sich etwas gemerkt haben. Idealerweise sollten diese Grapheme jedoch nicht zu Beginn des Leselehrgangs genutzt werden, denn sie verwirren beim Erwerb des alphabetischen Prinzips.
- Manche Anlauttabellen greifen auch Laute am Wortende auf, z.B. <ch> in „Buch“. Auch hier hilft die visuelle Abgrenzung per Denkblase, damit Kinder nicht versuchen den Anlaut des Wortes abzuhören.
Während Anlauttabellen also beim Schreiben unterstützen, helfen Anlautschriften beim Lesen.
Erstellen von Lesematerialien mit Anlautschriften
Mit dem Computer lassen sich derartige Leselernmaterialien sehr leicht erstellen: Anlautschriften sind technisch gesehen Schriftarten (Fonts) und in allen Anwendungen/Programmen eines Geräts über die Schriftartenauswahl nutzbar (z.B. in der Textverarbeitung, im Präsentationsprogramm, im Zeichenprogramm). Nach einmaliger Installation der Anlautschriften wählt man zunächst statt der üblichen Standardschrift oder auch Schuldruckschrift eine der nun verfügbaren Anlautschriften aus (Abb. 7.4.2).

Wenn man nun per Tastatur einen Buchstaben schreibt, erscheint nicht mehr nur der Buchstabe selbst, sondern gleichzeitig auch ein Anlautbild. Die Mehrgrapheerhält man über Sonderzeichen (z.B. das <sch> über das < auf der Tastatur). Die Zuordnung dieser Sondertasten erschließt sich über eine Zuordnungstabelle. Ein Kurzvideo demonstriert das Vorgehen: (AN02).
Tipps zum Einsatz
Bei der Verwendung von Anlautschriften sollte man folgende Aspekte beachten:
- Idealerweise sollten in der Anlautschrift die gleichen Anlautbilder wie in der Anlauttabelle verwendet werden, die im unterrichtlich verwendeten Lehrwerk genutzt werden: Das ist gerade für Schüler:innen wichtig, die schon Probleme beim Benennen der Anlautbilder haben, z.B. mit deren Aussprache oder mit dem Wortschatz. Daher gibt es die Anlautschriften in verschiedenen Varianten, passend zu (fast) jedem Lehrwerk: Z.B. wurde in Abb. 7.4.1 und 7.4.2 die Anlautschrift passend zu Fibel Karibu von Westermann (2020) verwendet, in Abb. 7.4.11 die Anlautschrift passend zu ABC Lernlandschaften nach Brinkmann (2019).
- Mit den Anlautschriften können auch Schüler:innen mit Schwierigkeiten beim Lesen einzelne unbekannte Buchstabendekodieren: Allerdings sollten das besonders zu Beginn trotzdem nicht zu viele sein!
- Genauso wie Anlauttabellen müssen Anlautschriften im Unterricht eingeführt werden (Reber 2012), idealerweise zusammen mit der Anlauttabelle:
- Klären der Begriffe auf der Anlauttabelle und somit der Anlautschrift
- Orientierung auf der Anlauttabelle, evtl. mit einer reduzierten Anlauttabelle
- Sicherung der Anlaute und memorieren der Sprüche, z.B. F wie Fisch
- Herstellen der Phonem-Graphem-Zuordnung auf der Anlauttabelle: z.B. durch Suchen von Graphemen zu den Sprüchen wie „Zeige mir das „F“ wie Fisch“
- Parallel dazu evtl. schon Graphem-Phonem-Zuordnung herstellen durch Benennen von Buchstaben in Wörtern, die mit Anlautschrift geschrieben sind (z.B.
: „O wie Oma“, „M wie Maus“, „A wie Ampel“)
- Abhören von Wörtern auf die Laute (Anlaut, später Aus- und Inlaut)
- Schreiben einfacher Wörter mit Hilfe der Anlauttabelle sowie Lesen mit Hilfe der Anlautschrift.
- Zum Erwerb des synthetischen Prinzips hilft das Lesekrokodil (vgl. Abb. 7.4.3): Es erleichtert die Aufmerksamkeits- und Blicksteuerung: Das Lesekrokodil wird langsam nach rechts in Leserichtung über das Wort gezogen und gibt so nach und nach einen neuen Buchstaben frei.

Das Lesekrokodil gibt es hier als Download in einer Version für das Klassengespräch sowie für die Hand der Lernenden, schwarz-weiß oder farbig. (AN03)
Hilfreiche Schriftvarianten
Neben der klassischen Anlautschrift, die Buchstaben und dazu Bilder enthält, gibt es weitere Varianten (Abb. 7.4.4):
- Anlautschriften nur mit Bildern im Sinne einer Geheimschrift.
- In Anlehnung an das Phonembestimmte Manualsystem (PMS) nach Schlenker-Schulte (1996) wurde zudem in Kooperation mit Hildegard Kaiser-Mantel auch eine Handzeichenschrift entwickelt (Reber 2017/2018). Kinder mit auditiven und/oder Aussprache-Schwierigkeiten werden dadurch beim Abhören bzw. bei der Lautbildung durch die Visualisierung besonders unterstützt.
Das Handzeichensystem bzw. die Bilder finden sich zum kostenlosen Download online: Überblick, Anleitung und Bilder fürs Klassenzimmer groß/farbig (Reber 2018) AN04

Es ist auch möglich, nur einzelne Buchstaben in Anlautschrift zu schreiben (vgl. Abb. 7.4.5), um Ähnlichkeitshemmungen zu vermeiden bzw. im Sinne eines Primings: Das Anlautbild aktiviert den Laut mit und ist ein impliziter Reiz. Sinnvoll ist das bei Buchstaben, die Kinder oft verwechseln (z.B. b – d).

Einsatzszenarien für Anlautschriften
Im Folgenden ein paar Ideen zur Verwendung von Anlautschriften in Unterricht und Therapie:
- Individuelle, sinnvolle Leseanlässe gestalten: erste Wörter, Sätze und Geschichten
- Lesematerialien zu Bildern erstellen: Wörter, kurze Sätze, Sprechblasen für Kinderbücher, Wimmelbücher oder Sachbücher erstellen und einkleben (evtl. von Kindern diktieren lassen)
- Fotogeschichten mit den Kindern erstellen und für die Klassenbibliothek oder das Ich-Buch mit lesbaren Texten versehen
- In verschiedenen Unterrichtsfächern Arbeitsanweisungen lesbar machen, z.B. auf Mathe-Arbeitsblättern, Beschriftungen im Sachunterricht, Plakaten im Klassenzimmer
- Eigene Lektüren oder Lesetexte zu Buchstabeneinführungen gestalten
- Wortkarten in Anlautschrift oder mit Handzeichen schreiben
- Eigene Anlauttabellen und Übungsmaterialien dazu erstellen
- Individuelle Spiel- und Freiarbeitsmaterialien gestalten
Materialbeispiele


Die Anlauttabelle in Form der Computertastatur gibt es zum Download (AN05).




Kinderliteratur statt Fibeldadaismus
Da Kinder mit den Anlautschriften auch unbekannte Buchstaben entziffern können und sich die Textauswahl dadurch erheblich erweitert, eröffnen sich im Unterricht ganz neue Möglichkeiten: Die Auswahl der Lesetexte beschränkt sich nicht auf den Fibelfundus, sondern kann Bilderbücher und Literatur aufgreifen: Es empfiehlt sich, passend zum gewählten Lehrwerk und zur dort vorgegebenen Buchstabenreihenfolge geeignete Bilderbücher, Geschichten und Buchtexte auszuwählen (vgl. Abb. 7.4.12).

Ganz auf das Lehrwerk zu verzichten, macht jedoch keinen Sinn, denn die Fibel kann ein guter Lesefundus bleiben. Die vorhandenen Übungsmaterialien nehmen viele Bastelstunden ab.
Aus Zeitgründen hat es sich bewährt, nicht zu jedem Buchstaben ein neues Bilderbuch zu wählen, sondern immer zwei bis drei Buchstaben mit einer Geschichte abzudecken. Buchideen, Auswahlkriterien, didaktisch-methodische Vorgehensweise, Unterrichtsbeispiele und -ideen hierzu finden sich bei Reber (2012/2017).
Die Texte können oft nicht im Original verwendet werden, sondern müssen vereinfacht oder frei erzählt werden. Es muss auch nicht immer das ganze Buch gelesen werden: Motivierender ist es oft, z.B. nur Sprechblasen zu lesen (vgl. Abb. 7.4.12), gerade wenn in diesen Textpassagen das Graphem bzw. die Rechtschreibstrategie (hier <ei>) besonders häufig vorkommt.

Oft lassen sich in die Handlungen auch motivierend Buchstabeneinführungen (auditive, visuelle, taktil-kinästhetische, graphomotorische, lesetechnische, … Analyse) einbetten und mit sprachheilpädagogischen Hilfestellungen (Mundmotorik, Lautanbahnung) verbinden (Reber 2017; Reber & Schönauer-Schneider 2022).
Fazit
Mit den Anlautschriften können Kinder das tun, was sie sich eigentlich am ersten Schultag alle wünschen: Lesen lernen, um von Anfang an echte Geschichten statt dadaistischer Fibeltexte zu entdecken. Für manche Kinder visualisieren die Bilder über den Buchstaben auch nochmal anschaulich das alphabetische Prinzip mit seinen wiederkehrenden Laut- und Buchstabenelementen. Andere Kinder benötigen die Anlautbilder bald nicht mehr und gewinnen nur bei leicht zu verwechselnden Buchstaben (b – d) durch die Hinweise noch Sicherheit.
Weiterführende Hinweise
Freiarbeitsmaterial: Westermann Verlag (o.J.) PALETTI (Spectra). Braunschweig
Literatur
Baumbach, M. & Westphal, C. (2008): „Mia und Mama“ & „Mia und Papa“. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag.
Baumbach, M. & Westphal, C. (2008): „Mia und Oma“ & „Mia und Opa“. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag.
Brinkmann, E. (2019): ABC Lernlandschaften. Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
Heine, H. (2004): Der Hase mit der roten Nase. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg.
Maar, P. (1973): Eine Woche voller Samstage. Hamburg: Oettinger.
Paul, K. & Thomas, V. (2016): Zilly und Zingaro: Zilly, die Zauberin. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg.
Reber, K. (2012): Lesen lernen mit Bilderbüchern und Anlautschriften als Ergänzung zu herkömmlichen Leselernverfahren. In: mitSprache 4, 31-47.
Reber, K. (2017): Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen im Unterricht. Systematischer Schriftspracherwerb von Anfang an. München: Ernst Reinhardt.
Reber, K. & Schönauer-Schneider, W. (2022): Bausteine sprachheilpädagogischen Unterrichts. Reinhardt: München.
Reber, K. (2018): Handzeichen für Schule und Therapie. (AN06) (abgerufen am 1.11.2021)
Reber, K. & Steidl, M. (2016): Computerprogramm zabulo. Individuelle Lernmaterialien selbst erstellen. Paedalogis: Weiden (AN07) (abgerufen am 1.11.2021).
Reber, K. & Steidl, M. (2018): Anlautschriften & Co. Schriften für den Computer. Paedalogis: Weiden (AN08) (abgerufen am 1.11.2021).
Reichen, J. (2001): Hannah hat Kino im Kopf. Die Reichen-Methode LESEN DURCH SCHREIBEN und ihre Hintergründe für LehrerInnen, Studierende und Eltern. Hamburg: Heinevetter Verlag.
Westermann Verlag (2020): Fibel Karibu. Braunschweig.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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