Eine Mittelstufenklasse eines Förderzentrums körperliche und motorische Entwicklung in Bremen im Corona-Ausnahmezustand
Claudia Schlichting
Im Folgenden werden die Erfahrungen einer Mittelstufen-Klasse der Paul-Goldschmidt-Schule mit Hybridunterricht beschrieben. Neben einer Beeinträchtigung der körperlichen und motorischen Entwicklung weisen alle Schüler:innen zusätzliche Beeinträchtigungen in den Bereichen Wahrnehmung und Entwicklung oder Lernen auf.
Zu Beginn des zweiten Lockdowns im November 2020 hat der Senat in Bremen die Reduzierung der im Unterricht anwesenden Schüler:innen um die Hälfte gefordert. Seitdem befindet sich eine Hälfte unserer Klasse im Präsenzunterricht, während die andere Gruppe im Distanzunterricht ist. Einige der Schüler:innen zuhause werden dem Unterricht live zugeschaltet. So können beide Gruppen den Unterrichtsinhalten parallel folgen. Der Hybridunterricht findet täglich in einem Unterrichtsblock statt. Es werden alle Grundfächer unterrichtet.
Unsere Erkenntnisse zeigen, dass beim Hybridunterricht folgende Voraussetzungen erfüllt werden sollten:
- Personelle Ressourcen und technische Mittel müssen zur Verfügung stehen.
- Die methodische Umsetzung und Begrenzung der Schüleranzahl ist bedeutend.
- Ein besonderer Blick auf die Voraussetzungen unserer Schülerschaft ist notwendig.
Technische und personelle Voraussetzung
Das größte Hindernis für die Durchführung von Hybridunterricht ist fehlendes WLAN. In unserem Fall bezogen sich die technischen Schwierigkeiten lediglich auf zwischenzeitliche Unterbrechungen der Internetverbindung, ausgelöst durch Überlastung des Schulservers oder nicht ausreichende WLAN-Stärke auf den Schülergeräten. Für unsere Schüler:innen war es dadurch „Manchmal schwer zu verstehen was die anderen sagen, besonders wenn das Internet unterbricht. Das Bild stockt. Und manchmal erkennt man gar nicht, dass der Andere nicht mehr da ist. Stimmen ziehen sich sehr lang.“ (Schüler:in Z.)
Hybridunterricht führt also zu deutlich mehr Unterbrechungen. Teilweise werden ganze Unterrichtsstunden mit der Lösung von technischen Problemen verbracht. Damit sich die Lehrkraft voll auf ihren Unterricht konzentrieren kann, sollte unbedingt eine zusätzliche Kraft für die Versorgung der digital zugeschalteten Schüler:innen anwesend sein. Sie kümmert sich nicht nur um die Lösung von eventuell auftretenden technischen Schwierigkeiten, sondern unterstützt die digital Lernenden, um das Unterrichtsgeschehen bestmöglich aufzunehmen.
Diese eingebundene und bewegte Form der Einfassung von Präsenzunterricht ist natürlich nur mit WLAN ausgestatteten Tablets möglich. Das Bremer Digitalisierungspaket kam uns hier sehr entgegen: Sowohl Schüler:innen als auch Lehrer:innen wurden mit geeigneten Geräten ausgestattet. Das brachte unseren Hybridunterricht maßgeblich voran. Durch die täglichen Unterrichtmeetings erlangten unsere Schüler:innen ganz nebenbei technisches Wissen dazu. Ihr Verständnis geht mittlerweile weit über Emails öffnen und auf den Meeting-Link klicken hinaus. Dies war für die Schüler:innen ein Prozess, der einige Anläufe und Versuche benötigte. Auch der Wechsel der Kommunikationsplattform von zoom (Videokonferenzdienst), über itslearning (Lernmanagement-System), hin zu Webex (weiterer Videokonferenzdienst) stellt sie vor neue Herausforderungen. Insgesamt haben sie durch den Umgang mit ihren Tablets viele technische Fähigkeiten dazu gewonnen.
Methodische Umsetzung
Zu Beginn haben wir Schüler:innen per Videokonferenz zugeschaltet und ihnen dabei vielmehr eine beobachtende Rolle zugeteilt. Das Tablet wurde auf einen Notenständer oder einer ähnlich starren Konstruktion abgestellt. So konnten sie das Unterrichtsgeschehen zwar von Weitem beobachten, wurden aber wenig mit einbezogen und aktiviert. Erfahrungsgemäß ist für unsere Schüler:innen die dadurch entstehende Form des Frontalunterrichts wenig sinnvoll. Ohne direkte Aktivierung klinken sie sich zumindest gedanklich aus dem Unterricht aus.
Um dem entgegenzuwirken, ist es notwendig, den Unterricht interaktiver zu gestalten. Dies ist durch die Unterstützung einer Zweitkraft umsetzbar. In unserer Klasse hat diese Rolle häufig die Freiwillige im sozialen Jahr übernommen. Zu ihren Aufgaben gehört es, die beschriebenen technischen Schwierigkeiten zu lösen, sich mit dem Tablet im Raum zu bewegen, nicht starr aus der zweiten Reihe sitzend, das Unterrichtsgeschehen mit all seinen Facetten einzufangen: Tafelbilder festhalten, Schüler:innen-Meldungen und Gespräche fokussieren, wachsam auf Befindlichkeiten der digitalen Schüler:innen achten und die Lehrkraft auf Besonderheiten aufmerksam machen. In den Arbeitsphasen hilft sie den Schüler:innen, indem sie z.B. bei Bedarf Material durch Fotographien digitalisiert und dem Meeting zufügt. Insgesamt ist es ihre Aufgabe, die Lehrkraft zu unterstützen und die digital zugeschalteten Schüler:innen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Um in Hybridform arbeiten zu können, sollten die Schüler:innen einige Voraussetzungen erfüllen. Sie sollten in der Lage sein, kurze Arbeitsphasen selbstständig zu bewältigen, da eine Eins-zu-Eins-Begleitung hier nicht möglich ist. Sie sollten ihren Arbeitsplatz zuhause eigenständig einrichten und sich Inhalte auf symbolischer Ebene erschließen können. Gemeinsames Lesen von Texten, Interaktionen, Diskussionen, Austausch und Fragen sind erwünscht und bringen den Unterricht auch in dieser Form voran. Das gemeinsame Arbeiten und die Begleitung helfen den Schüler:innen, sich im Schultag zuhause zurecht zu finden „An meiner alten Schule gab es keinen Hybridunterricht. Da haben die Lehrer uns viel zu viel Aufgaben gegeben. Jetzt kriegen wir nur das, was wir an dem Tag im Onlineunterricht auch machen und ein paar Hausaufgaben dazu. Das ist besser.“ (Schülerin L.) Neben dem Lernen am selben Lerngegenstand unterstützt der Hybridunterricht die Schüler:innen durch Strukturierung und Anbindung in ihrem Lernprozess. „Auch für den Alltag ist es besser. Es strukturiert meinen Tag. Ich muss meine Aufgaben morgens bearbeiten und kann es nicht abends machen oder wann ich will.“ (Schülerin L.) Anders als im Distanzunterricht, wenn Schüler:innen ihre Arbeitsblätter eigenständig bearbeiten, kann die Lehrkraft während des Hybridunterrichts „meine Fragen zu den Arbeitsblättern gleich beantworten.“ (Schülerin L.)
Neben inhaltlichen Vermittlungen des Hybridunterrichts trägt dieser zu einem großen Maße der Stabilisierung der psychischen Gesundheit unserer Schüler:innen bei. Die Anbindung an ihre Klasse und der regelmäßige Kontakt mit den anderen Schüler:innen ihrer Klasse hilft ihnen zu emotionaler und sozialer Stärke in einer sehr schwierigen Zeit. Ganz autonom fordern sie z.B. eine gemeinsame Pause nach dem Unterricht ein. Diese gestalten sie eigenständig durch Gespräche und Spiele.
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es sinnvoll ist, nicht mehr als vier von elf Schüler:innen online zuzuschalten. Da wir einen hohen Anteil an Schüler:innen in der Notbetreuung haben, ist es bei unseren Schüler:innen im Wechselmodell auch nie erforderlich, diese Grenze zu überschreiten. Besonders anspruchsvoll ist die Begleitung, wenn sie an differenziertem Material arbeiten. Es fällt schwer, den Überblick über die Aufgaben zu behalten, ohne den eigentlichen Bearbeitungsstand des Materials zu sehen. Kommen hier noch diverse Differenzierungsstufen dazu, verliert die Lehrkraft schnell den Überblick zwischen digital anwesenden Schüler:innen und denen in Präsenz.
Nachteilig haben unsere Schüler:innen angemerkt: „Es ist schwierig, dass meine Lehrerin das Arbeitsblatt erkennen und so auch die Hausaufgaben kontrollieren kann.“ (Schülerin D.) Denn das einfache Zeigen auf dem Material ist nicht möglich. Bei Versuchen führte dies zu ausschweifenden Beschreibungen oder umständlichen Verrenkungen vor dem Bildschirm. Daher wurden die Hausaufgaben in der folgenden Präsenzzeit oder auch von ihren Eltern kontrolliert.
Auch ist es eher möglich, dem Hybridunterricht fern zu bleiben. Durch eine klare Strukturierung und die emotionale Anbindung ist dies jedoch selten erfolgt.
Die Vielfalt der nutzbaren Methoden ist eingeschränkter. Durch Vorbereitung und Strukturierung sind dennoch auch kooperative Formen, wie Partner- und Gruppenarbeit möglich. Die Schüler:innen benötigen eine enge Begleitung. Für diese Sequenzen sollten digital und vor Ort anwesende Schüler:innen nicht gemischt werden. So findet zeitweise ein Wechsel vom Hybridunterricht in den klassischen Onlineunterricht statt. Eine offenere Nutzung von Methoden ist also möglich.
Für uns haben die Stationsarbeit und Lerntheken viele Vorteile gezeigt. Es muss nicht alles an Material bearbeitet werden. Die Schüler:innen lernen nicht im gleichen Takt und können ihr Tempo individuell bestimmen. Durch Wechselgruppen und digitalen Unterricht lassen sich somit individuelle Schwierigkeiten besser auffangen. Es fällt nicht stark ins Gewicht, wenn Schüler:innen Aufgaben auslassen. Dennoch ist die gemeinsame thematische Entwicklung durchgängig gegeben.
Abschließend fordert Hybridunterricht die Bereitschaft der Lehrkraft, ihren Unterricht frühzeitig zu planen, vorzubereiten und die Vergabe des Materials zu organisieren, damit es den Schüler:innen zum jeweiligen Unterrichtsfach pünktlich zur Verfügung steht. Wenn Lernende durchgängig im Distancelearning sind, wird das Material gebündelt und wochenweise per Post zugeschickt. Im Wechselunterricht haben die Schüler:innen es am letzten Tag ihrer Anwesenheit jeweils mitgenommen. Unsere Schüler:innen arbeiten überwiegend mit analogen Arbeitsblättern. Dadurch fällt es ihnen leichter, das Material vor sich zu ordnen und zu bearbeiten, während sie gleichzeitig ihrer Lehrkraft folgen können. Für eine vereinfachte Unterrichtsvorbereitung wäre es hier wichtig, sich mit Formen der Digitalisierung von Arbeitsmaterial auseinander zu setzen, die für unsere Schüler:innen geeignet sind.
Im Vergleich zum Onlineunterricht, der zusätzlich zum Präsenzunterricht stattfindet, ist der Hybridunterricht auch eine gewisse Entlastung für die Lehrkraft, da sie die Stunde nicht doppelt, in Präsenz und online, erteilen muss.
Besonderheiten von Schüler:innen mit komplexen Beeinträchtigungen
Für Schüler:innen, die sich auf bildlicher, handelnder sowie basaler Ebene Unterrichtsinhalte erschließen, ist die Umsetzung in Hybrid-Form meist ungeeignet. Für diese Schüler:innen ist das Arbeiten mit gegenständlichem Material und der direkte Kontakt zu ihren Lehrkräften im Unterricht notwendig. Die Zuschaltung zu einer Morgenrunde oder ähnlichen Gesprächsanlässen im Schulalltag bietet auch ihnen die Möglichkeit, digital an Unterrichtsphasen teilzunehmen. In diesen Situationen kann die Lehrkraft mit Schüler:innen den Tag zu Hause strukturieren, soziale (Talker-) Interaktion ermöglichen und durch Ritualisierung (Klangschalen, Gutenmorgen-Rap usw.) Sicherheit und Orientierung geben.
Einen besonderen Wert hat hier die emotionale Anbindung zu ihren Mitschüler:innen und Lehrkräften. Besonders für die Schüler:innen im Distanzunterricht sind diese konstruierten Gesprächsanlässe wichtig, da sie erfahrungsgemäß nicht in der Lage sind, Beziehungen und Kontakte eigenständig zu gestalten. Somit ist die Gefahr zu vereinsamen sehr groß. Zusätzlich bieten diese digitalen Kommunikationssituationen Lehrkräften einen groben Überblick über den gesundheitlichen und psychischen Zustand ihrer Schützlinge. Für Schüler:innen mit komplexer Beeinträchtigung ist die Bereitschaft und Haltung der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu jeglichen digitalen Unterrichtsformen natürlich ausschlaggebend für den Erfolg. Fehlt hier die Bereitschaft, das Kind teilhaben zu lassen, wird es schwer, der Schülerin oder dem Schüler regelmäßigen Kontakt zu ermöglichen.
Für Schüler:innen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sind lange Krankheitsphasen nicht ungewöhnlich. Aufgrund von mehrwöchigen Rehabilitationsbesuchen oder körperlichen Erkrankungen und Schmerzen ist die Beförderung und die Anwesenheit im Präsenzunterricht oft nicht möglich. In diesen Phasen ist ihre körperliche Belastungsfähigkeit zwar geringer, die Teilnahme von zuhause allerdings meist möglich. Unabhängig von der Pandemie zeigt sich also für unsere Schüler:innen ein langfristiger Zugewinn durch den Hybridunterricht. Wir werden diese Methode auch nach dieser Zeit nutzen, um unseren Schüler:innen in krankheitsbedingter Abwesenheit eine durchgängige Anbindung zum Unterricht und ihrer Klasse zu ermöglichen.
Auch wenn das Lernen im Hybridunterricht nicht den Präsenzunterricht ersetzen kann, ist er doch eine sinnvolle Alternative dazu. Noch einmal sei hier jedoch erwähnt, dass bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen erfüllt sein müssen, um von einem erfolgreichen Modell zusprechen.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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