Differenzierte Lesetexte am Beispiel Pünktchen und Anton im Team erstellen
Frank J. Müller
Der Text gibt einen Einblick in das Konzept freier Bildungsmaterialien und welche Vorteile sie für den Einsatz in inklusiven Schulen bieten. Neben einem kurzen Überblick über die notwendigen Lizenzmodelle wird anhand eines Beispiels einer inklusiven Ganzschrift aufgezeigt, wie Open Educational Resources im Team erstellt werden können und was dabei Beachtung finden sollte. Abschließend wird mit der norwegischen Plattform NDLA kurz eine Alternative zu dem vorgestellten Graswurzelmodell aufgezeigt.
Was sind freie Bildungsmaterialien?
Freie Bildungsmaterialien sind eine Bezeichnung für Open Educational Resources (OER). Die UNESCO definiert freie Bildungsmaterialien wie folgt:
1. Open Educational Resources (OER) sind Lern-, Lehr- und Forschungsmaterialien in beliebigem Format und Medium, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden, die den kostenlosen Zugang, die Wiederverwendung, die Umwidmung, die Anpassung und die Weiterverbreitung durch andere erlauben.
2. Offene Lizenz bezieht sich auf eine Lizenz, die die geistigen Eigentumsrechte des Urheberrechtsinhabers respektiert und der Öffentlichkeit die Rechte für den Zugang, die Wiederverwendung, die Nutzung in anderen Kontexten, die Anpassung und den Weitervertrieb von Bildungsmaterialien einräumt.
3. Informations- und Kommunikationstechnologie bietet ein großes Potenzial für einen effektiven, gerechten und inklusiven Zugang zu OER und deren Nutzung, Anpassung und Weiterverbreitung. Sie können Möglichkeiten eröffnen, dass OER jederzeit und überall für jeden zugänglich sind, einschließlich Menschen mit Behinderungen und Menschen, die aus marginalisierten oder benachteiligten Gruppen kommen. Sie können dazu beitragen, die Bedürfnisse der einzelnen Lernenden zu erfüllen, die Gleichstellung der Geschlechter effektiv zu fördern und Anreize für innovative pädagogische, didaktische und methodische Ansätze zu schaffen.” (UNESCO 2019, S. 5 [eigene Übersetzung])
Welche Vorteile bieten freie Bildungsmaterialien für die inklusive Pädagogik?
In der Definition von der UNESCO werden die zentralen Vorteile freier Bildungsmaterialien für inklusive Schulen bereits benannt. Im Kern geht es dabei um die Möglichkeit zur Anpassung des Materials an die Bedürfnisse der Lernenden und die Option, das angepasste Material wiederum zu teilen. So haben Lehrkräfte die Chance, auf den Ideen anderer aufzubauen, die Teilhabe ihrer Schüler:innen sicherzustellen und können andere über die Weitergabe ihrer Entwicklung legal an ihrer investierten Arbeit teilhaben lassen. OER bieten zudem über den offenen Zugang die Möglichkeit, unabhängig von Lehrkräften auf Inhalte zuzugreifen.
Ein weiteres Argument für OER aus Sicht der inklusiven Pädagogik ist die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven aufzunehmen, die in klassischen Schulbüchern unterrepräsentiert sind (Frauen, Menschen mit unterschiedlichen kulturellen oder sozio-ökonomischen Hintergründen, verschiedene Formen sexueller Orientierung, Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen aus der ehemaligen DDR, regional bedeutsame Personen u.v.m.) und damit Schüler:innen Identifikationsmöglichkeiten zu bieten sowie ihre Empathieentwicklung zu unterstützen. Um dies erfolgreich zu tun, sollten Selbstvertreter:innen in die Erstellung des Materials einbezogen werden.
Was hat es mit diesen Lizenzen auf sich?
Für OER ist die freie Lizenz eine Voraussetzung, die Abweichungen von den Bestimmungen des Urheberrechts ermöglicht. Die Creative-Commons-Lizenzen sind eine Sammlung verschiedener freier Lizenzen, die sich durch eine modulare Form unterschiedlich restriktiv auf die veröffentlichten Inhalte auswirken. Sie können die Namensnennung erforderlich machen (BY), die kommerzielle Nutzung verbieten (NC), die Weitergabe unter derselben Lizenz erzwingen (SA) oder die Abwandlung des Werks untersagen (ND). Durch die Kombination können dann offenere (CC-BY) oder restriktivere Lizenzen (CC-BY-NC-ND) entstehen. Mit CC-0 gibt es eine Lizenz, die noch weitergehend ist und auch die Namensnennung nicht erforderlich macht (sie aber auch nicht ausschließt).
Um Materialien unter einer Creative-Commons-Lizenz korrekt zu verwenden, sind verschiedene Bedingungen zu erfüllen. Die TULLU-Regel (vgl. Borski & Muuß-Merholz 2016) hilft dabei als Gedächtnisstütze für die Angabe von Titel, Urheber:in, Lizenz, Link zum Lizenztext und dem Ursprungsort. Werden diese Angaben nicht gemacht, liegt u.U. ein Lizenzverstoß vor.
Sinnvoll ist bei der Arbeit mit OER, sich anzugewöhnen, die Lizenzen Dritter sauber zu dokumentieren, damit sie im Falle von Unklarheiten klar belegbar sind. Dies kann beispielsweise erfolgen, indem man Bilder o.ä. mit dem Lizenzhinweis zusammen aus dem Browser in eine PDF-Datei druckt und diese in einem Archiv-Ordner abspeichert.
Inklusive Ganzschriften
Im Rahmen zweier Vertiefungsseminare im Wintersemester 2016/17 haben zwei Gruppen von Studierenden das Kinder- und Jugendbuch Pünktchen und Anton von Erich Kästner für zwei unterschiedliche Niveaustufen differenziert.
Die eine Stufe orientiert sich stark am Originaltext und behält beispielsweise ältere Begriffe bei, markiert diese jedoch und macht sie über ein Glossar verständlicher. Die Satzstruktur wurde vereinfacht (Reduzierung von Nebensatzkonstruktionen, Verzicht auf Passivkonstruktionen) und die Zeitform wurde auf Präsens festgelegt. Wörtliche Rede wurde als Dialog („Anton sagt:“) dargestellt und die Charakterbezeichnungen wurden vereinheitlicht. Für jedes Kapitel wurden Wünsche für eine bildliche Unterstützung gesammelt, die dann von einer Studentin in Bilder umgesetzt wurden. Auch wurden verbindliche Vorgaben für Schriftart, Schriftgröße, Zeilenabstand, Rand und Papierformat gemacht, die das Lesen erleichtern. Die Nachdenkereien von Kästner blieben erhalten. Gegebenenfalls unbekannte Begrüßungen wie „Mahlzeit!“ wurden ersetzt.
Die zweite Stufe orientiert sich noch stärker an Schüler:innen, die am Beginn des sinnentnehmenden Lesens von Schriftsprache stehen. Jedes Kapitel wurde auf zwei Seiten reduziert und nur die Kernaspekte des Kapitels blieben erhalten. Auf Nebensätze und wörtliche Rede wurde vollständig verzichtet. Auch die Nachdenkereien wurden in dieser Variante ausgelassen und alte Begriffe wurden vermieden.
Beide Varianten wurden von einer Gruppe als Hörbuch vertont und stehen über einen Vorlesestift (Anybookreader) absatzweise zur Verfügung. Dadurch können Schüler:innen, die den Inhalt des Buches erfassen können, aber noch nicht so weit in ihrer Leseentwicklung fortgeschritten sind, um es selbst zu lesen, sich mit dem Vorlesestift die Inhalte unabhängig von Dritten vorlesen lassen.
Dank der Freigabe des Atrium Verlags durften die Materialien unter einer CC-0-Lizenz veröffentlicht werden und stehen unter leseninklusive.net (OE01) zur Verfügung.
Kritiker:innen könnten dem Projekt berechtigterweise vorwerfen, dass jeglicher sprachlicher Witz von Kästner bei einer solchen Vereinfachung verloren gehe. Gleichzeitig ermöglichen die Vereinfachungen und die Audiofassungen Schüler:innen, die am Beginn des sinnentnehmenden Lesens stehen, einen selbständigen Zugang zu einer Ganzschrift und ermöglichen so eine Auseinandersetzung am gemeinsamen Gegenstand. Was wäre die Alternative, wenn in Klasse 4 oder 5 eine Ganzschrift behandelt werden soll? Häufig würde hier für Schüler:innen mit Förderbedarf Lernen, Geistige Entwicklung oder geflüchtete Schüler:innen auf äußere Differenzierung mit anderem Material gesetzt. Sind die Texte für alle Schüler:innen ausreichend differenziert? Sicherlich gibt es an der einen oder anderen Stelle Bedarf für weitere Differenzierung, sei es über Silbenbögen, farbliche Markierungen der Silben oder ähnliches. Die Verwendung einer freien Lizenz ermöglicht, genau diese Anpassungen vorzunehmen und das Material wieder mit anderen zu teilen.
Die Differenzierung wurde unter erheblichem Aufwand von den Studierenden entlang der gemeinsam entwickelten Vorgaben vorgenommen. Gleichwohl wurde beim ersten Abgleich der Kapitel deutlich, dass die Vorgaben sehr unterschiedlich interpretiert wurden. Daher wurden alle Kapitel nochmal ausgehend von einem Beispielkapitel durch die Gruppen überarbeitet und abschließend von einem Team redigiert. Dementsprechend wurde bei späteren Projekten direkt ein Beispielkapitel erstellt und als Grundlage der gemeinsamen Arbeit genutzt.
„Team! Team! Team!“ oder „Bildet Banden!“
Insbesondere bei größeren Vorhaben lohnt sich die Zusammenarbeit in (schulübergreifenden) Teams. Für Lehrkräfte, die selbst an einer kleinen Schule arbeiten, ist es häufig schwierig, Kolleg:innen zu finden, die Material selbst kollaborativ entwickeln wollen. An anderen Schulen in vergleichbarer Lage wird es jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit Kolleg:innen geben, die in der gleichen Klassenstufe vor vergleichbaren Herausforderungen stehen und ähnliche Bedürfnisse haben. Mit einem Team von fünf bis sechs motivierten Lehrkräften differenzierte Materialien zu entwickeln, die dann alle nutzen können, bietet gleichermaßen die Chance der Entlastung, da nicht alle Inhalte selbst differenziert werden müssen und die Chance der Qualitätsentwicklung, da die Materialien durch ein Mehraugenprinzip geprüft werden. Zudem ermöglicht die schulübergreifende Kooperation die Reflektion des eigenen Unterrichts.
In Anlehnung an die Ausführungen zu Pünktchen und Anton wäre eine Empfehlung für Aufteilungen sich im Vorfeld auf gemeinsame Vorgaben zu einigen und diese anhand eines Beispiels auf ein gemeinsames Verständnis abzuprüfen. Eine Möglichkeit, um die Zielgruppenorientierung für alle Beteiligten zu vereinheitlichen, ist eine Sammlung fiktiver Schüler:innen-Beschreibungen, sogenannte Personas (vgl. Müller 2019, S. 44), die die Lehrkräfte beim Erstellen von OER im Hinterkopf haben können. Sinnvoll erscheint auch die Ergänzung didaktischer Szenarios für den Einsatz des Materials, die einen Einblick in die didaktisch-methodischen Überlegungen, welche bei der Erstellung des Materials als relevant erachtet wurden, geben.
Bei literaturbezogenen Projekten wäre auf Grundlage eigener Erfahrungen immer die Empfehlung im Vorfeld die Freigabe des Verlags einzuholen, die Ergebnisse unter einer CC-0/CC-BY-Lizenz zu veröffentlichen. So hatte eine spätere Projektgruppe eine vereinfachte Fassung von Rico, Oskar und den Tieferschatten erstellt, aber trotz der Befürwortung durch Andreas Steinhöfel war es nicht möglich, den Carlsen Verlag zu einer Freigabe der überarbeiteten Fassung zu bewegen.
Welche Lizenz sollten wir zur Veröffentlichung eigener Werke wählen

Die obigen Ausführungen und das nebenstehende Beispiel einer Grafik zur Unterstützen Kommunikation zeigen, dass bei CC-BY-Lizenzen umfangreiche Lizenzangaben erforderlich sind. Dies wirft die Frage auf, welche Lizenzen für den schulischen Alltag besonders geeignet sind. Gerade in schulischen Kontexten und insbesondere mit Schüler:innen, die am Anfang ihrer Leseentwicklung stehen, kann es hinderlich sein, umfassende Lizenzhinweise auf Materialien mit aufnehmen zu müssen. Für diese Schüler:innen ist es günstig, wenn auf Lizenzhinweise verzichtet werden darf. Dafür eignet sich die CC-0-Lizenz, bei der eine Namensnennung erlaubt (und häufig auch sinnvoll ist), aber eben nicht verpflichtend.
Beim Beginn der Auseinandersetzung mit Creative-Commons-Lizenzen sind Materialersteller:innen häufig versucht, auf restriktive Lizenzen zu setzen und beispielsweise die Abwandlung oder die kommerzielle Nutzung auszuschließen.
Ein Beispiel einer restriktiven Lizenz war das Material von wheelmap.org zur Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderungen im Unterricht, welches unter einer CC-BY-NC-ND-3.0-Lizenz zur Verfügung gestellt wurde. Hier wurde die Bearbeitung ausgeschlossen, was aber auch bedeutet, dass Lehrkräfte das Material nicht an die Bedürfnisse einzelner Schüler:innen anpassen und das Material anschließend weitergeben dürfen. Da die Anpassbarkeit und Weitergabe aber das zentrale Argument aus inklusionspädagogischer Sicht für OER sind, ist diese Einschränkung zu vermeiden. Auch der Ausschluss kommerzieller Nutzung führt ggf. zu Problemen. Eine mehrzügige weiterführende Schule könnte bei einer CC-BY-NC-Lizenz zum Beispiel nicht mit einer Druckerei zusammenarbeiten, um z.B. Logbücher oder Ganzschriften kostengünstig zu vervielfältigen.
Sinnvoll für den Einsatz in schulischen Kontexten ist daher vor allem die CC-0 oder die CC-BY-Lizenz. Neben der Lizenz ist auch die Verwendung offener Formate von Bedeutung, da dies sicherstellt, dass Lehrkräfte Inhalte tatsächlich anpassen können.
Zu den Horrorszenarien jemand verkauft das kostenlos zur Verfügung gestellte Material erfolgreich oder die ungeliebte Kollegin glänzt damit vor der Schulleitung bleibt anzumerken, dass in beiden Fällen erfreulicherweise Schüler:innen im Unterricht von dem Material profitieren können.
Alternativen zu Graswurzelinitiativen: OER als staatliche Aufgabe
Zu dem oben beschriebenen Graswurzelansatz von OER gibt es auch Alternativen. So gibt es zum Beispiel in Norwegen, seit 2006 die staatliche Plattform NDLA.no für die Sekundarstufe II. Die Counties (mit Ausnahme von Oslo) steuern 20% ihres Schulbuchetats bei und entwickeln damit OER für über 80 Fächer. Von den 20% des Schulbuchetats werden 70% wiederum über Ausschreibungen an den Markt gegeben. Die maximale Offenheit, die umfangreiche Förderung, die langfristige und nachhaltige Konzeption und die Ausrichtung an den Bedürfnissen der Schüler:innen machen die norwegische Institution zu einem Vorbild für andere Länder (vgl. Müller 2019). Gleichwohl geht es nicht um ein Entweder-Oder, vielmehr können sich staatliche OER Projekte und Graswurzelinitiativen gut ergänzen.
Abschließend kann man festhalten, dass die freie Lizenz von Materialien ein zentraler Bestandteil der Qualität von Materialien ist, da sie die Bearbeitung und Anpassung an die Bedürfnisse der Schüler:innen ermöglicht. Ob es gelingt, in den kommenden Jahren freie Lizenzen und offene Formate als verbindliche Anforderung an Materialien zu definieren, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, wird einen Einfluss haben darauf, ob die entstehenden digitalen Materialien an die Bedürfnisse aller Schüler:innen angepasst werden können. Damit steht nicht weniger als die Teilhabe aller in digitalen Lernwelten zur Diskussion.
Literatur
Borski, S. & Muuß-Merholz, J. (2016): OER leichtgemacht mit der TULLU-Regel. URL: OE03 (abgerufen am 20.12.2020).
Müller, F. J. (2019): Chancen und Herausforderungen staatlich finanzierter, frei verfügbarer Bildungsmaterialien (OER) am Beispiel der Plattform ndla.no in Norwegen – ein Weg zu mehr Inklusion? Hamburg: Verlag ZLL21 e.V. URL: OE04 (abgerufen am 14.12.2020)
UNESCO (2019): Recommendation on Open Educational Ressources (OER). URL: OE05 (abgerufen am 13.06.2021)

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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