Lea Schulz
In einem inklusiven Unterricht sind „Lernmethoden [gefordert], die unterschiedlichen biographischen und kulturellen Hintergründen, verschiedenen leistungsspezifischen Voraussetzungen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen, aber auch den unterschiedlichen sozialen Normen der Lernenden und Lehrenden gerecht werden.” (vgl. Avci-Werning & Lanphen 2013, S. 150). Ein lernerzentrierter Unterricht spielt eine wichtige Rolle in einem heterogenitätssensiblen Unterricht (vgl. Bornemann 2013, S. 214f.; Adl-Amini & Völlinger 2021, S. 5). Eine reine Individualisierung von Unterricht kann dem Aspekt der Teilhabe nicht gerecht werden, der sowohl Zugänglichkeit als auch Zugehörigkeit umfasst (vgl. Bosse, Kamin & Schluchter 2019, S. 36) und damit ebenfalls eine soziale Zusammenarbeit der Schüler:innen einer Klasse suggeriert. Kooperative Lernformen sollten neben der Individualisierung von Unterricht ein beständiger Teil inklusiven Unterrichts darstellen. Fischer (2002, S.119) konnte beispielsweise feststellen, dass durch kooperative Lernformen im Sinne einer gemeinsamen Wissenskonstruktion ein erhöhtes mehrperspektivisches und auch kritisches Wissen der Lernenden nachzuweisen ist. Neben kognitiven Zielsetzungen unterstützen kooperative Lernprozesse gleichwohl soziale Zielsetzungen innerhalb der Klassengemeinschaft, wie z.B. Hilfsbereitschaft, Kooperation, Kommunikation, Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft (vgl. Borsch 2010, S. 79ff.).
Kooperatives Lernen erhöht das mehrperspektivische und kritische Wissen und fördert soziale Zielsetzungen des Lernens.
Kooperatives Lernen wird aufgrund einer langen Historie in der Pädagogik sehr unterschiedlich definiert. Kooperatives Lernen findet dann statt, wenn die Ziele der Gruppenmitglieder voneinander abhängig sind und die Handlungen der Schüler:innen innerhalb der Gruppe diese Ziele beeinflusst, also das Handeln jedes Einzelnen dem gemeinsamen Erfolg dient (vgl. Johnson et al. 1994, S. 3).
Nach Hasselhorn und Gold (2013, S. 308), aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus, arbeiten beim kooperativen Lernen Schülerinnen und Schüler gemeinsam in kleinen Gruppen, um sich beim Aufbau von Kenntnissen und beim Erwerb von Fertigkeiten gegenseitig zu unterstützen. Das kooperative ist ein aktives, selbstständiges und soziales Lernen. Kooperative Lehrformen sind lernerzentriert, denn während des Lernprozesses tritt die Lehrperson im Allgemeinen in den Hintergrund. Mindestens zwei, meist aber drei bis fünf Lernende konstituieren eine Lerngruppe.” Eine Abgrenzung zur Methode der Gruppenarbeit erscheint notwendig. Martschinke und Kopp (2015, S. 424) beschreiben, dass eine Gruppenarbeit nicht zwingend von kooperativem Lernen geprägt sein muss. Unterschiede lassen sich vor allem in der Übernahme von gegenseitiger Verantwortung füreinander und für das gemeinsame Lernergebnis auf Seiten des kooperativen Lernens verorten, das nicht zwingend in jeder Form der Gruppenarbeit stattfindet.
Kooperatives Lernen bzw. andere Formen des Lernens in Kooperation liegen in Bezug auf die gemessene Effektivität zwischen d=.41 und d .59 (vgl. Hattie 2013), wobei eine Effektstärke ab d=.4 als erfolgreich bezeichnet werden kann, da sie über den üblichen Schulbesuchseffekten (zwischen d .20 und d=.40) innerhalb eines Schuljahrs zu verorten ist.
Im Zusammenhang mit digitalen Medien wird zudem häufig der Begriff kollaboratives Lernen oder Kollaboration verwendet. Roshelle und Teasley (1995, S.70) definieren Kollaboration als gemeinsamen synchronen und aktiven Lernvorgang: „Collaboration is a coordinated, synchronous activity that is a result of a continued attempt to construct and maintain a shared conception of a problem.” Im Deutschen werden die Begriffe kooperatives und kollaboratives Lernen häufig synonym verwendet (vgl. Arnold 2003, S. 33), während sie im Englischen durchaus unterschieden werden. Kooperatives Lernen geht dabei eher von einem Verständnis der Arbeitsteilung aus (vgl. Fredebeul 2007, S. 18), während kollaboratives Lernen eher die gemeinsame Wissenskonstruktion mit einem hohen kommunikativen Anteil in den Fokus nimmt (vgl. Kröger & Reisky 2005, S. 23).
Muuß-Merholz erklärt in seinem Video anhand zweier Beispiele den Unterschied zwischen kooperativem und kollaborativem Lernen.

Im Fünfebenen-Modell für eine diklusive Schule werden kooperative oder kollaborative Lernformen in der dritten Ebene (vgl. Abb. 6.1) eingeordnet. Digitale Medien besitzen ein hohes Potenzial für den lernerzentrierten Unterricht katalysatorisch zu wirken (vgl. Bornemann 2013, S. 214), da sie eine Schlüsselstelle selbstbestimmten Lernens darstellen können. Besonders hervorzuheben bei den Möglichkeiten der Kooperation oder Kollaboration mit digitalen Medien sind zwei Bereiche:
- die Erstellung von Medienprodukten, sowie
- die Kollaboration innerhalb eines Mediums unabhängig von Ort und ggf. auch Zeit
Die Erstellung eines sichtbaren Produkts in der kollaborativen Arbeit (1) der Schüler:innen (z. B. einen Blog schreiben, einen Stop-Motion-Film erstellen, ein interaktives Buch gestalten, einen Podcast produzieren, oder eine gemeinsame Präsentation vorbereiten) fördert die Ko-Konstruktion von Wissen innerhalb der Lerngruppe. Außerdem können Assistive Technologien und individuelle digitale Hilfen (z. B. im Sinne des Universal Design for Learning, vgl. Kap. 4.1) innerhalb der Gruppenarbeiten mögliche Barrieren reduzieren, sodass die Schüler:innen weitestgehend selbstständig arbeiten können (vgl. Schulz & Beckermann 2020, S. 6).
Dies ist besonders durch die verschiedenen Zugangswege, die viele Anwendungen bieten, möglich. Bei der Erstellung eines E-Books können die Schüler:innen bspw. entscheiden, ob sie einen Audioaufnahme machen, einen kleinen Film aufnehmen, handschriftlich auf dem Tablet schreiben, oder Text eintippen. Dies ermöglicht innerhalb eines Lernprodukts verschiedene Ausdrucksformen zur Präsentation der Ergebnisse, die anhand der individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen auszuwählen sind. Gleichwohl ist es möglich in digitalen Lernumgebungen unabhängig vom Ort (2) kollaborativ gemeinsam zu arbeiten. So kann bspw. eine gemeinsame Präsentation über Google Drive oder Microsoft 365 (Powerpoint) online erstellt werden, in der die Schüler:innen gleichzeitig z.B. von Zuhause aus agieren können.
Digitale Medien können damit Kollaboration auf Distanz ermöglichen, sodass nicht zwingend arbeitsteilig, sondern sogar in einer gemeinsamen Wissenskonstruktion die Lerngegenstände erfahren werden. Sie können diesbezüglich ebenfalls bei der kollaborativen Zusammenarbeit innerhalb eines Tools Barrieren mindern, wenn z.B. Schüler:innen anstatt zu schreiben, die Diktierfunktion verwenden. Im folgenden Kapitel werden Beispiele für kreative Medienproduktionen unter dem Aspekt von Heterogenität vorgestellt, sowie kollaborative Tools zur gemeinsamen Arbeit.
Eine kreative Medienproduktion im Förderzentrum Geistige Entwicklung präsentiert Harriet Kühr (vgl. Kap. 6.1). Sie hat mit ihren Schüler:innen das Buch die kleine Raupe Nimmersatt als Stop-Motion-Film (ein Film, der aus vielen einzelnen Fotos zusammengestellt wird) erstellt. Eine kollaborative Zusammenarbeit der Schüler:innen innerhalb eines Whiteboards anhand eines Comics stellt Stephanie Löw vor (vgl. Kap. 6.2). Sie lässt ihre Lernenden kreative Aufgaben zum Unterrichtsthema die Gründung Roms gemeinsam in einem Miro-Board lösen. Spannend und motivierend wird es dann beim Edubreakout, einem Escape-Room, den Stefan Schwarz anhand digitaler Tools für seine Klasse gestaltet hat (vgl. Kap. 6.3). Er beschreibt zum einen die kollaborative Arbeit der Schüler:innen und erklärt gleichfalls, welche Formen der Differenzierung in diesem kooperativen Setting möglich sind. Dorothea Wichmann präsentiert das Tool Strange.Garden und Ideen für den inklusiven Unterricht, mit dem Schüler:innen auch aus der Distanz heraus Fotos auf einem gemeinsamen Board hinzufügen können (vgl. Kap. 6.4). Im abschließenden Erfahrungsbericht stellt Steffen Jakowski eine kollaborative Unterrichteinheit, die 360° VR-Burgentour, und deren Durchführung vor (vgl. Erfahrungsbericht, Kap. 6.5). In seinem Projekt erstellten seine Schüler:innen eine virtuelle Führung durch die Burgruinen im Neckartal, die mit (360°-)Kameras und Drohne selbstständig produziert worden sind.
Literatur
Adl-Amini, K. & Völlinger, V. (2021): Kooperatives Lernen im Unterricht – wirksamer Unterricht. Band 4. IBBW. Stuttgart.
Avci-Werning, M. & Lanphen, J. (2013): Inklusion und kooperatives Lernen. In: Werning, R. (Hrsg.): Inklusion: Kooperation und Unterricht entwickeln. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 50–175.
Bornemann, S. (2013): Kooperation und Kollaboration im Bildungsbereich – Möglichkeiten individuellen Lernens durch den Einsatz schülergebundener Computer. In: Karpa, D.; Eickelmann, B. & Grafe, S. (Hrsg.): Digitale Medien und Schule – Zur Rolle digitaler Medien in Schulpädagogik und Lehrerbildung. Immenhausen: Prolog, 207-221.
Borsch, F. (2010): Kooperatives Lehren und Lernen im schulischen Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer.
Bosse, I.; Kamin, A.-M. & Schluchter, J.-R. (2019): Inklusive Medienbildung. Zugehörigkeit und Teilhabe in gegenwärtigen Gesellschaften. In: Brüggemann, M.; Eder, S. & Tillmann, A. (Hrsg.): Medienbildung für alle. Digitalisierung. Teilhabe. Vielfalt. München: Kopaed, 35-52.
Fischer, F. (2002): Gemeinsame Wissenskonstruktion – Theoretische und methodologische Aspekte. In: Psychologische Rundschau 53 (3), 119-134. DOI: 10.1026//0033-3042.53.3.119.
Fredebeul, M. (2007): Situiertes Lernen und Blended Learning. Didaktische Konzeption und methodische Gestaltungsansätze. Saarbrücken: VDM Verlag.
Hasselhorn, M. & Gold, A. (2013): Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren. 3., vollst. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. URL (abgerufen am 11.11.2021)
Johnson, D. W.; Johnson, R. T.; Holubec Johnson, E. (1994): The new circles of learning. Cooperation in the classroom and school. Alexandria, Va: Association for Supervision and Curriculum Development. URL (abgerufen am 11.11.2021).
Kröger, H. & Reisky, A. (2005): Blended Learning – Erfolgsfaktor Wissen. In: Meder, N. (Hrsg.): Wissen und Bildung im Internet, Band 6. Duisburg: Bertelsmann Verlag
Martschinke, S. & Kopp, B. (2015): Kooperatives Lernen. In: Kahlert, J.; Fölling-Albers, M.; Götz, M.; Hartinger, A.; Miller, S. & Wittkowske, S. (Hrsg.): Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt., 424–428.
Roshelle, J. & Teasley, S. (1995): The construction of shared knowledge in collaborative problem solving. In: O’Malley, C. E. (Hrsg.): Computer-Supported Collaborative Learning. Berlin: Springer-Verlag, 69-197. URL (abgerufen am 11.11.2021).
Schulz, L. & Beckermann, T. (2020): Inklusive Medienbildung in der Schule. Neun Aspekte eines guten diklusiven Unterrichts. In: Computer und Unterricht 117, 4-8.

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