Leo lernt lesen
Isabel Hurtienne
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Leo, ein 10-jähriger Schüler, besucht ein Förderzentrum mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Er ist ein fröhlicher und aufgeschlossener Junge, der gerne ausdauernde Rollenspiele spielt und nach wie vor eine große Freude an einfachen Ursache-Wirkung-Effekten zeigt, wie zum Beispiel am Öffnen und Schließen von Türen mit elektrischem Öffner, Lichteinschalten und Wasserhahnauf- und Zudrehen. Solche Beschäftigungen sind berechenbar und sie geben ihm Sicherheit. Auch auf dem iPad wählt Leo gerne Apps, bei denen die Freude am Effekt im Vordergrund steht: Er zerplatzt begeistert imaginäre Ballons mit dem Tippen seines Fingers, oder ruft verschiedene Geräusche von Tieren oder Musikinstrumenten mit der App Sound Touch auf (VO02).
Leo hat bereits andere Schulen besucht, kam dort aber nicht zurecht. Es fällt ihm schwer, Anforderungen zu erfüllen, die an ihn gestellt werden. Egal, ob er seinen Teller aufräumen, ein Arbeitsmaterial bearbeiten oder am Morgenkreis teilnehmen soll: Die Antwort lautet: „Nein!“ Je vehementer Betreuungspersonen auf die Erfüllung einer Aufgabe pochen, desto vehementer verweigert sich Leo: Auf sein fast schon rituelles „Nein!“ folgen Schreien und Weinen, Spucken, Kratzen, Treten und Beißen. Ganz anders, wenn er selbst sein Lerntempo bestimmen kann: Lässt man Leo in Ruhe, so beobachtet er seine Mitschüler:innen und äußert über kurz oder lang Interesse, etwas vielleicht doch einmal auszuprobieren.
Jahrelang wurden ihm Angebote zum Schriftspracherwerb gemacht. Sein Interesse an Buchstaben und Zahlen, seine Freude an Bilderbüchern und Geschichten ließen vermuten, dass Lesenlernen möglich sein dürfte. Klassische Methoden und Materialien des Schriftspracherwerbs lehnte Leo ab. Insbesondere die für viele Schulkinder typischen Einstiegsmethoden in den Schriftspracherwerb, die Benutzung eines Stifts und das Abmalen von Buchstaben, waren für Leo nicht geeignet. Die Einladung zum Malen, Zeichnen, Schreiben quittiert er stets mit: „Hau ab, du F***!“. Besser funktioniert das Nacherzählen bzw. Aufsagen von Bilderbuchgeschichten, die sich Leo nach wenigen Malen des Vorlesens merkt. Buchstabenlegespiele nutzt er in seinen eigenen Mustern mit wiederholendem Auflegen und Abnehmen ein und des gleichen Buchstabens. Auch hierbei steht die Freude des Tuns im Vordergrund, das Klack des Magnetbuchstabens zum Beispiel. Und dann wurde ausgerechnet eine UK-App, die eigentlich für etwas ganz anderes gedacht ist, für Leo zum Wegbereiter des Lesens.
Die App „Vocable AAC“
Die App Vocable AAC ist seit letztem Sommer in einer deutschsprachigen Version für das iPad Pro11 und alle Nachfolger und sowie das iPhone X erhältlich, die Android-Version folgte im Herbst 2020. Sie ist die erste deutschsprachige App, die sich über Kopfbewegungen steuern lässt. Das heißt, durch Kopfbewegungen können die einzelnen Felder und Funktionen ausgelöst werden, falls zum Beispiel die Hände nicht zielgerichtet eingesetzt werden können. Die Steuerung per Hand ist aber selbstverständlich genauso möglich.
Der Aufbau ist einfach: Es kann entweder ein Feld mit häufigen Wörtern und kurzen Sätzen angezeigt werden oder eine Tastatur zur Eingabe eigener Wörter und Sätze. Diese können nach Oberbegriffen sortiert in einen eigenen Wortschatz eingespeist werden. Nutzende wählen also einen Satz aus oder geben ihn Wort für Wort ein. Anschließend lösen sie über das Ausgabefeld die Sprachausgabe aus, und der Satz wird von der Stimme der Sprachausgabe ausgesprochen.
Ob die optische Gestaltung – weiße, recht schmale Schrift auf dunkelblauem Grund – für Menschen mit Wahrnehmungsschwierigkeiten noch verbessert werden kann, soll hier kein Thema sein. Dass die App sehr schlicht ist und nur das Wesentliche enthält, war für Leos Leselernprozess von Vorteil. Der Verzicht auf aufwändige Grafik oder ggf. Störende Geräusche, die in den etablierten Schriftspracherwerbs-Apps der Animation und Motivation der lernenden Kinder dienen sollen, erwies sich für Leo als geeignet.

Der Ansatz Lesen durch Schreiben
Anfang der 80er des vorigen Jahrhunderts hat der Schweizer Grundschullehrer Jürgen Reichen seinen Ansatz Lesen durch Schreiben als Alternative zum Fibellehrgang vorgestellt. Hierbei wird mit Hilfe einer Anlauttabelle zuerst das Schreiben von Wörtern und kleinen Texten geübt. Lernende hören aus einem Wort die verschiedenen Laute heraus und suchen in der Anlauttabelle den zugehörigen Buchstaben. Dann schreiben sie einzelne Wörter, kurze Sätze oder kleine Briefe. Bei dem Ansatz handelt es sich Reichen (1988) zufolge um ein lesedidaktisches Prinzip: Die Methode wurde fürs Lesenlernen konzipiert. Genutzt wird sie aber in vielen Klassen auch fürs frühzeitige eigenständige Aufschreiben eigener Gedanken. Dass die Methode später unter dem Begriff Schreiben nach Gehör für angeblich sinkende Rechtschreibleistungen von Lernenden in Deutschland verantwortlich gemacht wurde, wird an dieser Stelle nicht näher thematisiert. Wen das interessiert, kann z.B. bei Beate Leßmann – Anfangsunterricht (VO03) nachlesen, und wird dort auch auf weiterführende Literatur und Studien stoßen.
Erwachsene, die Kinder im Vorschulalter begleiten, können oft beobachten, was Grundlage von Reichens Methode ist, und wie Kinder sich Schriftsprache aneignen: Zwar ahmen viele das Vorlesen nach, indem sie Bilderbücher nacherzählen. Wenn es jedoch um bewusstes Wahrnehmen der einzelnen Buchstaben geht, beginnen die meisten mit dem Schreiben. Sie schreiben den eigenen Namen oder den ihrer Freunde, Eltern, Großeltern auf, und suchen dabei mühselig bekannte und unbekannte Buchstaben zusammen, die sie sich vorschreiben lassen oder aus Büchern abmalen.
So auch Leo: Er stellte bei vielen Gegenständen, die ihm wichtig waren, fest, mit welchem Anlaut ihr Name begann, und fragte oft nach, wie der zugehörige Buchstabe geschrieben würde. „Isabel, das ist ein Feuerlöscher. Mit F wie Feuerlöscher. Isabel, wie sieht ein F aus?“ Aber anders als viele Vorschulkinder fragte er, ohne anschließend den Buchstaben nachzumalen. So entstand mit ihm zusammen seine ganz eigene Anlauttabelle. Er hatte immer wieder Freude daran, Wörter in Einzellaute zu zerlegen und zeigte dann meist auf das richtige Graphem.
Freude hatte Leo an Buchstaben. So richtig effektiv gestaltete sich sein Leselernprozess nun allerdings leider nicht: Die gelegentlichen Lautanalysen waren einfach zu selten und zu wenig systematisch, als dass Leo sich nachhaltig die Phonem-Graphem-Zuordnungen einprägte oder gar die Synthese, das zusammenschleifende Erlesen von Buchstaben oder Sätzen, erlernen konnte.
Und dann kam Vocable AAC
Im Frühjahr 2020 wurde Leos Lehrerin durch Twitter auf die App Vocable AAC aufmerksam, und ließ sie zur Ansicht für eine Mitschülerin von Leo auf den iPads ihrer Klasse installieren. Leo entdeckte die App wenige Tage später, als er in einer kleinen Pause das iPad zum Entspannen nach einer fordernden Unterrichtsphase nutzen durfte. Zur Erinnerung: Großen Spaß hat Leo an einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen – Leo drückt, es knallt, Leo drückt, es blinkt; Leo drückt, es läuft. Und genau dies macht Vocable AAC für Leo so attraktiv: Leo drückt – und die Sprachausgabestimme redet.
Während er zuerst auf der Tastatur verschiedene Buchstaben eingab und feststellte, wie das Phonem zum Graphem klingt, entdeckte er nach einigen Minuten auch, wo sich ganze Wörter und Sätze befanden: „Ich muss aufs Klo!“ zum Beispiel hörte er sich an seinem ersten Tag mit Vocable AAC so oft an, bis eine erwachsene Begleitperson das iPad konfiszierte. In den nächsten Tagen entwickelte sich in seiner festgelegten Spielzeit Vocable AAC zur neuen Lieblingsapp. So prägte er sich zunächst Ganzwörter und kurze Redewendungen und Aufforderungen als Wort- bzw. Satzbilder ein. Wann Leo sich einen neuen Satz eingeprägt hatte, das konnten erwachsene Begleitpersonen daran feststellen, dass er den Satz ihnen gegenüber oft aussprach, bevor er das Feld antippte: „Schau mal, jetzt drücke ich „Ich habe Hunger!“, verkündete er zum Beispiel, und grinste begeistert, wenn die Stimme den Satz aussprach.
Immer öfter forderte ich Leo dazu auf, die Tastatur von Vocable AAC zu nutzen und eigene Wörter einzugeben. Zunächst testete er beliebige Buchstabenkombinationen und freute sich über den Klang der Aussprache dieser Unsinnswörter. Nach einigen Tagen probierte er immer mehr Wörter aus, die ihm gefielen: Je nach Laune waren das Wochentage, Figuren aus Bilderbüchern, die Namen von Mitschüler:innen oder erwachsenen Bezugspersonen, das Mittagessen… Leo durchlief quasi mit Hilfe von Vocable AAC einen methodenintegrierten Leselehrgang: Er prägte sich Ganzwörter ein, zerlegte Ganzwörter mit Hilfe seiner Anlauttabelle (und dann bald auch ohne sie) in ihre Einzellaute und übte mit seinen Unsinnswörtern die Synthese.

Endlich war ein Medium gefunden, mit dem Leo sich täglich(!), freiwillig(!) und mit Freude(!) mit Schriftsprache beschäftigte. Dass es nur drei Wochen dauerte, bis Leo lesen konnte, dürfte nicht weiter überraschen, zumal ihm die sehr enge intensive Betreuung in der Zeit des Wechselunterrichts zugutekam.
Daneben zeigte sich ein weiterer positiver Effekt der App in Leos Sprachpragmatik: Mit Hilfe einer Begleitperson hinterlegte er einige wichtige ganz persönliche Wünsche und Gefühle. So äußerte er die Bitte nach Müsli beim Frühstück, oder dass er Nudeln lieber ohne Soße mag. Diese gehörten schon bald zu seinen Lieblingssätzen, die in seiner freien Spielzeit immer wieder aufgerufen wurden. Und nach wenigen Wochen übernahm Leo sie tatsächlich situationsangemessen in seinen aktiven Wortschatz. Vor dem Einsatz der App saß Leo zum Beispiel beim Mittagessen immer wieder verzweifelt vor seinem Teller, wenn ihm ein:e Praktikant:in versehentlich das Falsche aufgefüllt hatte. Er war dann auf erwachsene Begleitpersonen angewiesen, die sein Zögern bemerkten und für ihn seinen Wunsch in Worte fassten. Aber nachdem Leo gefühlt 1000-mal seinen Satz „Nudeln bitte, aber ohne Soße!“ von der Sprachausgabestimme gehört hatte, gelang es ihm tatsächlich, diesen selbst auszusprechen. Die Entdeckung, dass auf seine Wünsche reagiert wird, nutzt er nun immer wieder auch in anderen Situationen, indem er ausspricht, wie es ihm geht oder was er braucht.
Was bleibt
Leo liest: den Speiseplan, den Kalender, das Geburtstagskind des Tages, kurze Sätze in unbekannten Bilderbüchern, lange Sätze in bekannten Bilderbüchern, die Endstationen auf der Busanzeige. Leo liest auch weiterhin nicht, wenn er keine Lust hat oder ausdrücklich dazu aufgefordert wird.
Leo schreibt am Laptop, indem er kurze Texte diktiert und das Schreiben seiner Assistenzperson beobachtet, kommentiert und kontrolliert. Mit Hilfe einer Schreibapp mit Autokorrektur gibt er auch kurze Texte für die Weihnachts- und Geburtstagskarten für sich und seine Mitschüler:innen ein. Dabei kommt es ihm entgegen, dass er immer nur die ersten Buchstaben eines Wortes eingeben muss; dann bietet die Wortvorhersage verschiedene Wörter an, aus denen er auswählen kann. Nicht nur angesichts dieser technischen Möglichkeit wird die Kritik an der Methode Lesen durch Schreiben völlig bedeutungslos, dass sie für spätere schlechte Rechtschreibleistungen verantwortlich sein könnte. Vermutlich wird in Leos Leben Rechtschreibung ohnehin nie wirklich eine Rolle spielen. Lesen dagegen wird für Leo nicht nur neue Bereiche der Selbstständigkeit erschließen, sondern ist einfach eine große Bereicherung.
Seine Lehrerin hat einmal mehr gelernt, dass sie Lernenden noch öfter zutrauen muss, ihren Lernweg selbst auszuwählen.
Literatur
Leßmann, B. (o.J.): Schreiben nach Hören – Schreiben nach Gehör – Lesen durch Schreiben. URL: VO06 (abgerufen am 20.10.2021)
Reichen, J. (2001): Hannah hat Kino im Kopf. Hamburg: Heinevetter.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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