Der „Individualisator D7” (die digitale, 7-stufige Individualisierungsmaschine, die es (nicht) gibt)
Thomas Beckermann & Dirk Neumann

Wäre es nicht ein Traum, man hat eine Maschine, in die man ein Thema hineingibt und es kommen Lernangebote in sieben verschiedenen Differenzierungsstufen mit vielfältigen Lernmöglichkeiten heraus?
7 Möglichkeiten, wie man sie erfinden könnte…
„Die Entwicklung eines inklusiven Bildungsangebotes in der allgemeinen Schule verfolgt die Ziele, den bestmöglichen Bildungserfolg für alle Schü- lerinnen und Schüler zu ermöglichen, die soziale Zugehörigkeit und Teilha- be zu fördern und jedwede Diskriminierung zu vermeiden. […] Dabei gilt es, die verschiedenen Dimensionen von Diversität zu berücksichtigen. Das schließt sowohl Behinderungen im Sinne der Behindertenrechtskonvention ein, als auch besondere Ausgangsbedingungen z. B. Sprache, soziale Le- bensbedingungen, kulturelle und religiöse Orientierungen, Geschlecht so- wie besondere Begabungen und Talente.“ (Hochschulrektorenkonferenz & Kultusministerkonferenz 2015, S. 2)
Die Empfehlung der KMK verweist in diesem Zitat auf die Kernaufgabe von Lehrenden (nicht nur) in inklusiven Bildungseinrichtungen: Wie lassen sich Lernangebote so arrangieren, dass eine Partizipation aller Lernenden unabhängig vom Förderort am Lernprozess trotz unterschiedlichster Vor- aussetzungen möglich ist?
Es steht außer Frage, das eine Voraussetzung für pädagogische Arbeit im inklusiven Unterricht eine Haltung der Lehrenden ist, die Heranwachsende als kompetent handelnd auf ihrer jeweiligen Stufe der Entwicklung ein- schätzt und jede Leistung wertschätzt (vgl. Prengel 2015). Doch genau darin liegt eine große Herausforderung bei der Gestaltung inklusiven Un- terrichts: Lehrende müssen Lernarrangements schaffen, die – unter Be- rücksichtigung verschiedener Diversitätsdimensionen, Lernniveaus und Kerncurricula – allen Lernenden individuelle Lernwirksamkeitserfahrungen ermöglichen.
Kompetenzraster, kognitive Landkarten, auch von Schüler:innen durchge- führte Selbsteinschätzungsverfahren können Individualisierungsprozesse maßgeblich und insbesondere im Bereich der Diagnostik unterstützen (vgl. Helmke 2013, S. 34). Der Aufwand solcher Verfahren ist jedoch oft immens und bringt Lehrende nicht selten an die Grenze der Belastbarkeit.
Auf den ersten Blick entspricht der wachsende Bereich der sog. Learning Analytics dem Traum der oben erwähnten Individualisierungsmaschine, die bei der Bewältigung der Herausforderungen des Lehrens und Lernens in inklusiven Schulen hilft: automatisiert messbare Fertigkeiten werden mit Hilfe personalisierter Lernprogramme, die sich dank künstlicher Intelligen- zen dem individuellen Lernfortschritt der Lernenden anpassen, eingeübt und automatisiert getestet.
Dass solche Verfahren Schüler:innen in ihrer individuellen Persönlich- keits-Entwicklung gerecht werden oder Kompetenzen im Sinne der 4K- Skills (Muuß-Merholz 2017) abbilden, erscheint fraglich. Erste Studien zei- gen zudem, dass insbesondere „leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler […] zusätzliche Unterstützung benötigen“ (Schaumburg 2020, S. 12). Vielmehr liegt der Nutzen adaptiver Lernumgebungen in der Einbin- dung in einen kompetenzorientierten, schüler:innenzentrierten Unterricht. Ein solcher hat auch den Anspruch schüler:innengesteuerte Formen der In- dividualisierung zu unterstützen.
Die folgenden Beispiele versuchen Unterrichtsszenarien zu beschreiben, die mit digitaler Unterstützung lehrer:innen- und schüler:innengesteuerte Personalisierung ermöglichen und eigenständiges sowie kooperatives Ler- nen fördern. Um mit Helmke zu sprechen, sind die anschließenden 7 Bei- spiele 7 Schritte „weg vom »klassischen« 7G-Unterricht (Alle gleichaltrigen Schüler haben zum gleichen Zeitpunkt beim gleichen Lehrer im gleichenRaum mit den gleichen Mitteln das gleiche Ziel gut zu erreichen), dem vielzitierten »Lernen im Gleichschritt«, in Richtung individualisiertes Ler- nen“ (Helmke 2013, S. 37) – ergänzt um die digitalen Möglichkeiten zur Unterstützung individualisierten Unterrichts.
Individualisator Nr. 1: Plattformen zur Lernverlaufsdiagnostik
– oder, wie man mit Levumi individuelle Lernfortschritte feststellt
Die Rückmeldungen aus der Lernverlaufsdiagnostik bilden eine wichtige Informationsbasis, auf dessen Grundlage die Lehrkraft pädagogische Ent- scheidungen treffen kann. (vgl. Markus Gebhardt, Kirsten Diehl & Andreas Mühling unter Mitarbeit von DFK-Lehrkräften Christine Engert-Seitz et al., 2016, S. 3).
Diese Informationsbasis kann dafür genutzt werden, Schüler:innen mit individuellen Materialien oder Aufgabenstellungen zu versorgen und indi- vidualisierte Arbeits- oder Förderpläne zu entwickeln. „Der Vorteil einer computergestützten Lernverlaufsdiagnostik gegenüber einer papierbasier- ten Version ist, dass der Computer alle organisatorischen Aufgaben über- nimmt und mehrere Möglichkeiten der Darstellung und Auswertung anbie- tet.” (ebd., S. 4)
Die hier vorgestellte Plattform zur Lernverlaufsdiagnostik Levumi (LErn- VerlaUfsMonItoring) bietet drei Bereiche und zwei unterschiedliche Abfra- getypen für die formative Evaluation. Das Programm enthält Tests in den Bereichen Deutsch, Mathematik und Verhalten/Empfinden, die von der Lehrkraft oder von den Schüler:innen selbst durchgeführt werden können.
Zur Vorbereitung der Testungen muss man sich einen kostenlosen Ac- count auf der Onlineplattform anlegen. Anschließend werden die Klassen, Schüler:innengruppen oder Schüler:innen im sogenannten Klassenbuch angelegt (vgl. Abb. 5.1.1.2).

Sind die Schüler:innen angelegt, kann auch mit den Testungen begonnen werden. Bei den Testungen wird erhoben, wie viele Items in einer bestimmten Zeitspanne richtig gelöst werden. Übungen, die die Schüler:innen selbstständig durchführen, müssen von der Lehrkraft unter dem Reiter Diagnostik aktiviert werden (—> „wöchentliche Testung aktivieren”). Nach dem Austeilen der Zugangsdaten können die Mitglieder der Klasse einmal pro Woche diese Testung selbstständig durchführen. Alle laufenden Testungen werden nach dem Einloggen angezeigt und können gestartet werden (vgl. Abb. 5.1.1.3).

Vorteil bei diesen Verfahren ist die automatisierte Auswertung. Alle Schüler:innen einer Klasse können den Test parallel durchführen (vgl. Abb. 5.1.1.4, links), was wesentlich ressourcenschonender ist. Bei den Tests, bei deren Durchführung eine Lehrkraft notwendig ist, muss diese:r die Auswertung der mündlichen Schüler:innenantwort vornehmen und entscheiden, ob das Item richtig oder falsch gelöst wurde (vgl. Abb. 5.1.1.4, rechts). Hierzu begleitet die Lehrkraft die Schüler:innen in einer Einzelsituation am Rechner. Es hat sich dabei die Nutzung einer externen Tastatur bewährt, damit die Schüler:innen direkt vor dem Bildschirm sitzen können und keinen direkten Blick auf die Tasteneingabe haben.
Übersicht über unterschiedliche Tests:

Sind ein oder mehrere Tests durchgeführt, kann man mit Hilfe der Auswertung zum einen Bezüge zu den Kompetenzen der Schüler:innen herstellen (vgl. Abb. 5.1.1.5), zum anderen aber auch einen Überblick über die Klassen- bzw. Gruppenkonstellation erhalten (vgl. Abb. 5.1.1.6). Levumi bietet den Lehrer:innen verschiedene Optionen an, sich die Auswertungen der Tests anzeigen zu lassen: Von der Übersicht der Ergebnisse der gesamten Lerngruppe bis zur Betrachtung der einzelnen fehlerhaften Items einzelner Schüler:innen.


Auf Basis der durch die Auswertung gewonnen Erkenntnisse können nun Maßnahmen zur Förderung, Differenzierung oder Individualisierung abgeleitet werden. Durch regelmäßige Wiederholungen der Tests kann dann der Lernverlauf aufgezeigt werden, was wiederum einen direkten Einfluss auf die Maßnahmen hat. Eine Entscheidungsgrundlage für den Individualisator ist geschaffen!
Individualisator Nr. 2: Lehren und Lernen mit Videos
– oder wie ein Video mit Tonlücken zum aktiven Lernen anregt.
Ist ein Erklärvideo eine Individualisierungsmaschine? Seidel (2020, Kap. 5.1.1) stellt in einem praxisnahen Forschungsprojekt für die Klassenstufen 4 bis 6 fest, dass Erklärvideos eher für leistungsstärkere Schüler:innen geeignet scheinen. Gleichzeitig findet er heraus, dass weniger leistungsstarke (Grund-)Schüler:innen selbst erstellte Erklärvideos zu einer vielfältigen inhaltlichen Auseinandersetzung anregen. Eine andere Untersuchung zeigt, dass sich gerade Schüler:innen, die sprachliche Defizite oder weniger Interesse am Lesen haben, von digitalen Werkzeugen mit audiovisuellen Aufnahmemöglichkeiten angesprochen fühlen (vgl. Lund und Reiske 2020).
Für das Lernen und Lehren mit Videos findet man in der aktuellen Literatur eine Vielzahl an Formaten, Methoden und Konzepten. Im Schaubild sind die Argumente für die Arbeit mit Videos im inklusiven Unterricht (vgl. Schulz 2020) veranschaulicht (vgl. Abb. 5.1.1.7).

Das folgende Unterrichtsbeispiel bietet Lernenden aller Schulformen individuelle Möglichkeiten des Wissenserwerbs sowie vielfältige Formen des Übens und Lernens mit einem Lernvideo.
Das Lernvideo als Ausgangsformat
Ausgangspunkt und zugleich Lerngegenstand dieses Unterrichtsbeispiels ist ein klassisches Lernvideo. In diesem Fall wurde die über das örtliche Kreismedienzentrum bereitgestellte Lizenz eines Medienanbieters genutzt, um die Schüler:innen möglichst vielfältig mit dem Film arbeiten zu lassen. Ebenso könnte mit einem von Lehrenden oder Lernenden im Vorfeld selbst erstellten Erklärvideo gearbeitet werden. Diese müssen selbstverständlich auf sachliche und fachliche Richtigkeit geprüft sein. Auch die Nutzung anderer Lehr-Filme ist möglich, sofern die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020) beschriebenen urheberrechtlichen Vorgaben zur Nutzung von Werken in Schule und Unterricht beachtet werden (vgl. dazu auch ID01). Im Laufe der Einheit verändern die Lernenden das Ausgangsvideo entsprechend der Aufgabenstellung und ihrer individuellen Fertigkeiten. Die Möglichkeiten der Veröffentlichung dieser veränderten, neu entstandenen Werke muss ebenfalls nutzungs- und datenschutzrechtlich überprüft werden.
Impuls: Aktives Handeln am Beispiel von „Tag und Nacht” (Sachunterricht)
Die Entstehung von Tag und Nacht ist für alle Lebewesen ein Phänomen mit großem Lebensweltbezug. Gleichzeitig setzt das Verständnis für die Erklärung ein gewisses Abstraktionsniveau voraus. Vielfach wird im Unterricht mit Modellen gearbeitet, um den Lernenden den notwendigen Blick von außen auf unser Sonnensystem zu ermöglichen. Lehrkräfte finden zudem eine große Auswahl an didaktischen Medien mit Animationen, Schaubildern o.ä. zur Veranschaulichung der Drehbewegung der Erde in unterschiedlichen Abstraktionsniveaus.
Handelnde Erfahrungen werden auch an den Anfang dieser Unterrichtssequenz gestellt. Die Lernenden der 5. Klasse experimentieren mit Taschenlampe und Globus (Styroporkugeln), um der Problemstellung auf die Spur zu kommen und Ideen für die Erklärung des Phänomens zu sammeln. Ihre Ideen dokumentieren sie entsprechend ihren Möglichkeiten mit handschriftlichen Aufzeichnungen, Skizzen, Fotos, Audioaufnahmen oder kurzen Videosequenzen. Für Bild- und Tonaufnahmen nutzen sie die schuleigenen Tablets. Bei der Präsentation der Ergebnisse wird Wert daraufgelegt, dass alle Dokumentationsformen gezeigt werden können. Verschiedene Lösungsansätze werden in einem wissenschaftlichen Dialog wertgeschätzt.
Aus dem Stummfilm wird ein persönliches Erklärvideo
In der darauffolgenden Stunde wird den Lernenden das o.a. Lernvideo Tag und Nacht ohne Ton als stummer Impuls gezeigt. Einige Schüler:innen versuchen mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Stunde zuvor einzelne Teile des Filmes in der Gruppe mitzusprechen. Die anschließende Arbeitsphase am Tablet kann kooperativ in Kleingruppen oder in Einzelarbeit und je nach individueller Lernentwicklung durchgeführt werden. Die Schüler:innen erhalten die Aufgabe, dem Film eine neue Tonspur einzusprechen. Dazu nutzen die Schüler:innen die Filmsequenz als Videodatei und ein Schnittprogramm (iMovie) auf dem Tablet (iPad). Sowohl der Umgang mit dem Tablet als auch der mit der App ist allen vertraut. Viele der erforderlichen Arbeitsschritte sind über Symbole erkennbar und somit textfrei zu erreichen. Auf den Tablets von Schüler:innen, die den gesamten Inhalt noch nicht sicher wiedergeben können, hat der Film eine nur an einigen Stellen unterbrochene Tonspur. Für einen Schüler wurde die ursprüngliche Spur zudem im Film belassen. Er hat den Auftrag, Teile des Films mitzusprechen. Zwei Schülerinnen machen von der Möglichkeit Gebrauch, eigene Filmsequenzen und Bilder aus der Stunde zuvor in das Video einzusetzen. Die Tonspur des Originalfilms liegt für alle als Audiodatei zum Nachhören und als freiwillige Selbstkontrolle bereit.
Zum Abschluss der Einheit vergleichen die Lernenden ihre Ergebnisse untereinander, indem einzelne ihren Film der Klasse präsentieren und alle ihr Ergebnis im geschützten Messenger des schuleigenen Lernmanagement-Systems teilen. Mit Emoji-Symbolen haben auch die Lernenden mit geringen Lese-/Schreibkenntnissen dort die Möglichkeit, ein wertschätzendes Feedback zu geben.
Resümee
Der Unterricht mit dem Lehrfilm als personalisiertes Lernprodukt hat in dieser Einheit viele individuelle Lernprozesse bei den Schüler:innen angestoßen. Neben einer gesteigerten Schüler:innenaktivität bei allen Lernenden wurde ein intensiver fachlicher Austausch beobachtet. Die Ansteuerung und audiovisuelle Eingabe im Schnittprogramm waren für die Lernenden, die in einem anderen Fach schon Erfahrungen mit dem Programm gemacht hatten, kaum noch eine technische Herausforderung. Einige Schüler:innen hatten einen Wissensvorsprung bei der Nutzung einzelner Werkzeuge und unterstützten ihre Mitschüler:innen. Die beschriebene (Um-)Nutzung von Lehrfilmen ermöglicht ein vielfältig veränderbares Lernangebot, das den Ansprüchen einer schülerzentrierten Personalisierung gerecht wird und viele Funktionen eines Individualisators erfüllt.
Individualisator Nr. 3: E-Books
– oder, wie man mit dem Book Creator interaktive, barrierearme Lehr-/Lernübungen erstellt
Auch wenn manche bei dem Wort E-Book vermutlich zunächst an digital bereitgestellte Buch-Bestseller denken, wissen viele Lehrende E-Books als Lehr-/Lernmittel über alle Fächer und Schulformen hinweg zu schätzen. Dabei sind es meist nicht die, von immer mehr Verlagen umgesetzten, digitalen Ausgaben ihrer Schulbücher. Die Möglichkeiten, in aktuellen digitalen Schulbuchumgebungen individualisierte Angebote zu erstellen bzw. Lernenden barrierearm zur digitalen Bearbeitung zur Verfügung zu stellen, bleiben trotz einiger Bemühungen noch immer sehr beschränkt. Vielmehr sind es die von Lehrenden wie Lernenden selbst erstellten interaktiven Lernangebote, die Unterricht im Sinne schüler:innen zentrierter Personalisierung ermöglichen. Die Möglichkeiten solcher Bücher gehen weit über das barrierearme Präsentieren und Dokumentieren von Lerninhalten hinaus. Im Folgenden wird eine Unterrichtssequenz beschrieben, in der ein interaktiver E-Book-Arbeitsauftrag zum Einsatz kommt.
Das hier beschriebene Beispiel nutzt die populäre iPadOS-App Book Creator (vgl. Kap. 5.2.1 oder Kap. 10.1). Mit ihr lassen sich intuitiv interaktive E-Books erstellen und bearbeiten. Im Gegensatz zu der Webapp bookcreator.com speichert die App (bei ausgeschalteter iCloud) Inhalte nur lokal auf dem iPad und entspricht damit den datenschutzrechtlichen Vorgaben aller deutschen Kultusministerien. Mit Autor:innenprogrammen, die das Erstellen, Bearbeiten und Teilen interaktiver Inhalte ermöglichen, lässt sich das hier beschriebene Lernangebot grundsätzlich ebenso umsetzen. Bei der Auswahl des Programms sollte jedoch stets auf die Barrierefreiheit und Usability der App sowie die individuellen Nutzungs-Möglichkeiten der Lernenden geachtet werden (vgl. Krstoski 2018).
Praktisch handelnd Lernen
In der ersten Stunde der Einheit Stromkreis lernen die Schüler:innen im handelnd praktischen Umgang, wie man ein Glühlämpchen mit einer Flachbatterie zum Leuchten bringt. Die erfolgreichen Versuche werden mit Hilfe der Kamera-App des iPads als Foto oder Video dokumentiert. Auch die App PuppetPals (vgl. Individualisator Nr. 4) kommt bei einigen Lernenden zum Einsatz. In der Bilderstrecke wird deutlich, wie vielfältig die Lernenden in den beiden folgenden Stunden selbstständig arbeiten konnten (vgl. Abb. 5.1.1.8). Zum Video: ID02

Auch wenn das Material im Grunde nur die Inhalte eines klassischen Arbeitsblattes in digitaler Form abbildet, zeigen sich bei der Bearbeitung im inklusiven Unterricht viele Unterschiede gegenüber der Arbeit mit einem Arbeitsauftrag in Papierform:
- Die Lernenden sind motivierter, weil sie ihre oder die Beiträge der Mitschüler:innen zur Weiterarbeit nutzen (emotionale Aktivierung).
- Die in der App intuitiv und textfrei erreichbaren audiovisuellen Ein- und Ausgabemöglichkeiten des Tablets sowie die systemeigene Vorlesefunktion reduzieren schriftsprachliche und visuelle Barrieren.
- Interaktive Elemente erweitern die Möglichkeiten der Veranschaulichung und verbinden diese mit aktivem Handeln, (fein-)motorische Barrieren gegenüber dem Hantieren mit dem Lämpchen und der Batterie werden reduziert.
- Jede:r lernt in seinem eigenen Tempo, ortsunabhängig und mit den individuellen Möglichkeiten der Eingabe (Audio, Video, Freihand, Text)
ndividualisator Nr. 4: Trickfilme
– oder, wie man mit Puppet Pals und ScanThing (nicht nur) Geschichten erzählen kann
Storytelling ist eine narrative Unterrichtsmethode, bei der die Lernenden neben dem kognitiven auch einen affektiven Zugang zu dem Lerninhalt aufbauen können. Mit ihren Ursprüngen im Fremdsprachenunterricht, kann sie aber auch gut für die Vermittlung von Sachthemen eingesetzt werden (vgl. Schekatz-Schopmeier 2010).
In diesem Beispiel geht es um die Erstellung eines Trickfilms mit der App Puppet Pals, bei dem in Gruppenarbeit die Geschichte Freunde von Helme Heine ins Englische übersetzt wurde. Die Vorgehensweise ist aber auf verschiedenste Unterrichtsinhalte übertragbar. Die Herausforderung hierbei besteht in der richtigen Zusammensetzung der Arbeitsgruppen und in Formulierung der Arbeitsaufträge. Diese sollten so konzipiert werden, dass alle Kinder sie verstehen, sie bearbeiten können.
Am Anfang steht das Erstellen der Materialien und Texte für den Trickfilm. Hierbei müssen die Figuren und Hintergründe der Geschichte gemalt oder gezeichnet und die Texte in das Englische übersetzt werden. Sind diese Vorbereitungen abgeschlossen, üben die Sprecher:innen ihre Texte und die Puppenspieler stimmen die Bewegungen der Figuren ab.
Für die Umsetzung im Klassenzimmer ist Puppet Pals eine sehr niederschwellig zu bedienende App, mit der Schüler:innen nach kurzer Einweisung selbständig arbeiten können. Nach dem Abfotografieren der Figuren müssen diese noch freigestellt werden. Die App bietet hierzu eine entsprechende Funktion an. Mit dem Finger wird die Figur umfahren, so dass der äußere Rand um die Figur entfernt wird. Wesentlich schneller und genauer wird es, wenn man die App Scan Thing einsetzt. Diese scannt reale Objekte oder Motive in Zeichnungen und stellt diese dann automatisch frei. Importiert man diese Bilder, können die Schüler:innen sofort loslegen. Bei den Szenen-Hintergründen ist ein Freistellen nicht notwendig.
Nun werden je nach Szene Figuren und Hintergrund ausgewählt und die Schüler:innen können anfangen zu spielen (vgl. Abb. 5.1.1.9). Jede Szene wird in einem Stück durchgespielt, um aufwendiges Schneiden am Ende zu vermeiden. Aber ganz kommt man um den Filmschnitt nicht herum. Nachdem die Szenen gespielt und gespeichert sind, müssen diese in der richtigen Reihenfolge arrangiert werden. Hierfür bietet sich die kostenfreie App iMovie an.

Die gemachten Erfahrungen in der Grundschule zeigen, dass die Gruppen die Aufgaben – ohne viel Steuerung der Lehrer:innen – angepasst an die Kompetenzen der Gruppenmitglieder verteilen. Somit können- alle aktiv am Prozess beteiligt werden.
Filmprojekt im Englischunterricht einer vierten Klasse: ID03
Der Individualisator Nr. 5: QR-Codes
– oder, wie man mit einem kleinen Zeichencode ganze Unterrichtsvorhaben gestalten kann
QR-Codes sind nahezu magisch, denn hinter den kleinen oder großen Pixelbildern können die unterschiedlichsten Dinge stecken. Ein QR-Code verknüpft über eine besondere Anordnung von Zeichen eine Vielzahl an Inhalten: Visitenkarten, Adressen, WLAN-Zugangsdaten, Orte oder Texte. Das Auslesen erfolgt über die Kamera des mobilen Endgerätes und benötigt in der Regel keine gesonderte App.
Meistens werden QR-Codes im schulischen Kontext dazu benutzt, Schüler:innen ohne das fehleranfällige Tippen von langen, manchmal auch kryptischen Adresszeilen, Inhalte aus dem Internet zur Verfügung zu stellen. Die QR-Codes können im Klassenraum ausgehängt, über ein Projektionssystem angeboten oder auf Arbeitsblätter gedruckt werden. Für das Erstellen von QR-Codes gibt es verschiedene QR-Code-Generatoren im Internet. Empfehlenswert für den Einsatz in Schule sind datensparsame und werbefrei zu nutzende Generatoren, wie z. B. Kits Blog (ID04). Aber auch die kostenfreien Generatoren kommerzieller Anbieter kommen in Schulen oft zum Einsatz, z. B. qrcode-monkey (ID05) oder der Generator in Classroomscreen (ID06).
Bei einigen Lernplattformen benötigt man keinen zusätzlichen QR-Code-Generator. So wird bei dem Erstellen von Lernangeboten bei learningapps.org automatisch ein QR-Code für die Übung mit erzeugt.
Viele Lernplattformen, wie Anton oder auch Leseludi benutzen QR-Codes für die Anmeldung der Schüler:innen. Auch hier besticht wieder der Vorteil, dass die Benutzerdaten sehr schnell, textfrei erfasst werden und kaum Eingabefehler auftreten, da die Eingabe von Benutzername und Passwort entfällt. Auch das Bereitstellen von Unterrichtsmaterialien erfolgt in verschiedenen Systemen über QR-Codes. Filme bei MERLIN oder Lernmaterial von Sofatutor (z. B. ID07) können so einfach zugänglich gemacht werden.
Eine besonders spannende Funktion findet sich bei dem QR-Code-Generator auf der bereits erwähnten Seite kits.blog. Hier kann ein eingegebener Text in einen QR-Code umgewandelt werden, der dann beim Scannen vorgelesen wird. Dazu nutzt das Programm im Hintergrund das Text-To-Speech-Angebot von Google. Das ermöglich z. B. Schüler:innen, die keine Möglichkeit haben, deutsche Schriftsprache zu lesen, die eigenständige Er- und Bearbeitung unterschiedlichster Lernangebote.
Die QR-Codes im Bild verlinken zu einer mit kits.blog erstellten Audioausgabe eines Arbeitsblattes (vgl. Abb. 5.1.1.10).

Die Textlänge ist bei kits.blog auf 100 Zeichen begrenzt. Längere Texte lassen sich wie folgt als Tondatei über einem QR-Code bereitstellen:
- Umwandeln der Schriftsprache in eine Audiodatei, z. B. mit dem kostenlosen Windows Programm Any Text to Voice, online auf der Webseite fromtexttospeach (ID08) oder – noch besser als Tonaufnahme der Lernenden bzw. Lehrenden.
- Upload der Datei auf eine Austauschplattform (z. B. das schuleigene LMS), Link erstellen
- Mit QR-Code-Generator QR-Code für den Dateilink erstellen.
Der Individualisator Nr. 6: Lernplattformen
– oder, wie man mit Hilfe von Lernpattformen schnell und unkompliziert individualisierte Materialien für Schüler:innen erstellen und anbieten kann.
Die Anton-App erfreut sich großer Beliebtheit, da sie digitale Lernübungen für Lernende in fast allen Fächern für fast alle Jahrgänge bereithält. Die Lernumgebung kann sowohl als App auf Android und iOS als auch geräteunabhängig im Internet genutzt werden. Lehrkräfte erstellen in einem Lehrkräfte-Bereich differenzierte Lerngruppen und können dort Übungen an angelegte Schüler:innen oder Lerngruppen verteilen (anpinnen). Das funktioniert sowohl bei der Nutzung eines kostenlosen Lehrer:innenaccounts, als auch bei einer kostenpflichtigen Schullizenz. Lernlisten (im Frühsommer 2021 noch in der Betaphase) bieten die Möglichkeit, eigene Inhalte zu erstellen und bereitzustellen.
Bei Nutzung eines kostenlosen Accounts, erstellt die Lehrkraft eine Gruppe mit Schüler:innen die auf einem Lernniveau arbeiten, bzw. üben möchten. Bestehende Schüler:innenaccounts können mit diesen neu angelegten Accounts der Lerngruppe verknüpft werden. Wie das funktioniert, ist hier beschrieben: ID09
Sind alle Schüler:innen in den Lerngruppen angelegt bzw. aktiviert, dann müssen die Aufgaben für diese Gruppen nur noch gepint werden. Nutzt man den kostenpflichtigen Account einer Schullizenz, ist das Verteilen von differenzierten Materialien noch einfacher. Hier besteht die Möglichkeit, innerhalb der Klassen Untergruppen anzulegen. Aufgaben können dann für die Klassen, für die Untergruppen oder auch für die einzelnen Schüler:innen gepinnt werden
Ähnlich verhält es sich bei anderen kostenpflichtigen Lernplattformen wie z. B. bei Leseludi und Lernrudi. Auch diese bieten die Möglichkeit, Übungen für ganze Klassen, Gruppen oder einzelne Schüler:innen freizuschalten.

Während die eben erwähnten Lernplattformen nahezu ausschließlich mit vorbereiteten Inhalten arbeiten, überzeugt die Onlineplattform LearningApps.org nicht nur durch die Bereitstellung einer Vielzahl an von Nutzer:innen erstellten Übungen, sondern auch durch die Möglichkeit mittels seines Editors sehr einfach und niederschwellig eigene Übungen zu erstellen, die sich dann auch mit ein paar wenigen Klicks individualisieren lassen.
In dem Autorensystem ist eine gute Text-To-Speech-Funktionalität implementiert. Wählt man beim Erstellen einer Übung Text zu Audio aus, so wird der dort eingegebene Text den Schüler:innen bei der Durchführung der Übung vorgelesen.

Häufig ist es allerdings angebracht, eine Übung sowohl für lesende, als auch für nichtlesende Lernende zu erstellen. In diesem Fall kann man bei einigen Vorlagen auf das Feld Hinweis zurückgreifen. Man schreibt die Antwort als Text, kopiert diesen dann in den Hinweis. Durch Anklicken des Lautsprechers am rechten Ende des Hinweis-Eingabefeldes kann dieses aktiviert werden. Ist es aktiviert, wird der Hinweis beim Mouseover, der Öffnung eines Anzeigebereichs durch Überfahren mit der Mouse, oder berühren der Hinweismarkierung vorgelesen. Hier geht es zu einer Beispielübung: ID10
Individualisator Nr. 7: Assistive Hilfen im individualisierten Unterricht
– oder, wie man das Tablet mit dem Kopf steuert.
Insbesondere die erwähnte schüler:innenzentrierte Personalisierung im Unterricht setzt ein gewisses Maß an Entscheidungs- und selbstbestimmter Handlungsfähigkeit der Lernenden voraus. Individuelle technische Hilfen können einen erheblichen Beitrag dazu leisten, selbstständiges Lernen Einzelner im gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen. Der im Folgenden beschriebene Schüler nutzt einen, an seinem Kopf befestigten, Tabletstift zur Bearbeitung von personalisierten Lernangeboten. Dieses Beispiel steht stellvertretend für alle digitalen Teilgabewerkzeuge, die Kompensationsmöglichkeiten erweitern. Dazu zählen Screenreader, Augensteuerungen, digitale Sprachassistenten, systemeigene Bedienungshilfen und viele weitere Assistive Technologien.

Tim ist aufgrund einer komplexen motorischen Beeinträchtigung auf intensive Assistenz angewiesen. Rumpfnahe Bewegungen kann er deutlich gezielter ausführen als bspw. gezielte Arm- und Handbewegungen. Eine gezielte Auge-/Handkoordination ist ihm nicht möglich. Die Bearbeitung von schriftlichen Arbeitsaufträgen bedarf intensiver Unterstützung. Zusammen mit einem Ergotherapeuten hat das Klassenteam eine Befestigung für einen Tabletstift an einem Helm konstruiert. Seitdem arbeitet Tim im Unterricht selbstständig an seinen Arbeitsaufträgen. Dabei steuert er mit dem Stift Buchstaben, Zahlen oder Steuerelemente auf dem Touch-Screen des iPads an, um Texte zu verfassen, Mathe-Aufgaben zu lösen oder auf dem iPad bzw. in Apps zu navigieren. Auch Foto- und Filmdokumentationen von Unterrichtsinhalten sind so möglich und unterstützen Tims Teilhabe (nicht nur) im Schulalltag. Anmerkung: Auch wenn dieses Beispiel ein besonders gelungenes Projekt interdisziplinärer Zusammenarbeit ist und zeigt, wie kreative Lösungen schnell Teilhabe ermöglichen können, soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass ein solcher Kopfstab auch über Hilfsmittelfirmen vertrieben wird (ID11).
7 tolle Erfindungen, aber…
Die Beispiele haben es gezeigt: Auch wenn es noch keinen Algorithmus gibt, der automatisiert nach allen Bedürfnissen differenzieren kann, muss ein Individualisator kein Traum bleiben! Mit etwas Erfinder:innengeist lassen sich noch viele neue (weitere) seiner Art konstruieren. Dennoch werden Lehrende bei der Umsetzung der Beispiele schnell feststellen: Die hier vorgestellten Konstruktionen liefern nicht mehr als Ideen für den Nach- oder Weiterbau. Damit der Individualisator im Unterricht richtig rund läuft, alle Lernenden in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit lernen können, braucht es viel mehr als eine Maschine: Abgesehen davon, das Lernen ein sinnlicher, analoger Prozess mit Kopf, Herz und Hand ist, wird er von allen Lehrenden und Lernenden in ihrer Vielfalt gestaltet. Damit wird schnell deutlich, dass ein Individualisator ein zwar (digitales) Hilfsmittel im inklusiven Unterricht sein kann, der In- und Output aber von den Menschen, ihren Beziehungen zueinander, ihren Haltungen, Gefühlen und Träumen bestimmt wird.
Weiterführende Hinweise
In den Praxisbeispielen erwähnte Tools (in der Reihenfolge der Nennung):
- Levumi: ID12
- iMovie: ID13
- Book Creator App für iOS: ID14
- Puppet Pals HD Directors Pass: ID15
- Scanthing: ID16
- kits.blog: ID04
- QR Code Monkey: ID05
- Classroomscreen: ID06
- Merlin: ID17
- Sofatutor: ID07
- Any Text To Voice: ID18
- Fromtexttospeech: ID08
- ANTON: ID19
- Leseludi:ID20
- Lernrudi: ID21
- LearningApps: ID22
Literatur
Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF (2020): Urheberrecht in der Schule. URL: ID23 (abgerufen am 01.07.2021)
Gebhardt, M. & Diehl K. & Mühling A. et al (2016): Lern-Verlaufs-Monitoring LEVUMI Lehrerhandbuch Version 1.1. URL: ID24 (abgerufen am 01.07.2021)
Hochschulrektorenkonferenz & Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz. URL: ID25 (abgerufen am 01.07.2021)
Helmke, A. (2013): Individualisierung: Hintergrund, Missverständnisse, Perspektiven. In: Zeitschrift Pädagogik 2, 24 – 37. URL: ID26 (abgerufen am 01.07.2021)
Krstoski, I. (2018): Potenziale der BookCreator-App für heterogene Lernsettings. URL: ID27 (abgerufen am 01.07.2021)
Prengel, A. (2015): Inklusive Bildung. Grundlagen, Praxis, offene Fragen. In: Häcker, Th. & Walm, M. (Hrsg.): Inklusion als Entwicklung. Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 27-47.
Schaumburg, H. (2020): Inklusion durch Personalisierung? Computer+Unterricht, 117, 9-13.
Schekatz-Schopmeier, S. (2009): Storytelling – Eine narrative Methode zur Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte im Sachunterricht der Grundschule. URL: ID28 (abgerufen am 01.07.2021)
Schulz, L. (2020): Erklärvideos im diklusiven Unterricht. URL: ID29 (abgerufen am 01.07.2021)
Seidel, T. (2020): Lernvideos schon in der Grundschule? In: Dorgerloh, S. & Wolf K. D. (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos. Weinheim, Basel: Beltz, 88-93.