Lea Schulz
Der Begriff Sonderpädagogischer Förderbedarf bleibt in vieler Munde bis heute häufig eine Kategorie zur Generierung von Ressourcen (vgl. Schuck 2014, S. 165) und es werden nicht automatisch Aussagen über pädagogische Maßnahmen getroffen, stattdessen findet oft eine Zuweisung der Professionsgruppe statt, die für diese Maßnahmen zuständig sei. Dies hat sich im inklusiven Kontext vielerorts nicht verändert, obwohl die überwiegende Stundenverpflichtung allgemeinbildenden Lehrkräften zukommt (ebd.). Förderbedarf kann als Passungsproblem zwischen den Anforderungen und den Leistungen der Schüler:innen betrachtet werden (vgl. bspw. Arnold & Kretschmann 2002, S. 266f.).
Eine Förderung würde diesbezüglich bedeuten, dass angestrebt wird, diese Passungsprobleme zu verringern (vgl. Schuck 2014, S. 165). Im englischsprachigen Raum wird dagegen häufig auch von special needs education gesprochen, die neben den fachlichen Zielsetzungen auch Ziele der allgemeinen Entwicklung und Erziehung, wie Autonomie, Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Identität, Persönlichkeitsentwicklung usw. umfassen (vgl. König 2013; Schuck 2014, S. 165).
Damit beschreibt Schuck unter dem Begriff Förderung „die Summe pädagogischer Handlungen […], die auf dem Hintergrund von Bildungszielen die Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten anstrebt und dabei unter einer systemischen Perspektive die Unterstützung, Anregung und Begleitung sicherstellt, die die Subjekte für die Gestaltung ihrer Entwicklung zur Zielerreichung in ihren Lebenswelten benötigen […].“ (Schuck 2014, S. 165).
Dieser Begriff soll in diesem Band ebenfalls als Grundlage eines inklusiven Unterrichts gesehen werden, der an dieser Stelle nicht einer spezifischen Zuordnung zu der sonderpädagogischen Lehrkraft erfährt, sondern im Gegenteil eine Basis der inklusiven Didaktik, die die Förderung des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, darstellen soll.
Zur Förderung des Einzelnen bedarf es einer Form von Individualisierung der Unterrichtsinhalte an die Bedarfe der Lernenden. Die Passung von Unterricht an die Lernvoraussetzungen der Schüler:innen ist notwendig, da die Entwicklung dieser sehr unterschiedlich sind. Die Unterschiedlichkeit im gleichen Alter wird bspw. von Remo Largo eindrücklich dargestellt.
Er stellte fest, dass das Entwicklungsalter von 7-jährigen Kindern im ersten Schuljahr sich um drei bis vier Jahre voneinander unterscheiden (vgl. Largo & Beglinger 2009). Die Kategorisierung nach Alter, die durch die Einschulung vorgenommen wird, ist somit nicht ausreichend, um die Passung des Unterrichts an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Unterricht vorzunehmen. Daraus erschließt sich, dass der Unterricht an einem Lehrwerk orientiert, der die Kinder im Gleichschritt durch die Lerninhalte führt, nicht den Voraussetzungen genüge tut, die im Klassenzimmer vorherrschen (vgl. Peschel 2012, S.127f.). Um der Heterogenität der Schüler:innen zu entsprechen ist eine Antwort der Didaktik die Differenzierung, z.B. nach Leistungsunterschieden innerhalb der Klasse.
Peschel (2012, S. 128) unterscheidet die Individualisierung maßgeblich von der Differenzierung: „Individualisierung beinhaltet nicht nur die möglichst stimmige Passung zwischen Lernstoff und Kind, sondern vor allem auch die Wertschätzung seiner Individualität, seiner Person. Der Lerninhalt muss für das Kind eine Bedeutung haben.”
Digitale Medien können maßgeblich einen adaptiven und auf die Bedürfnisse der Schüler:innen zugeschnittenen Unterricht ermöglichen. Visualisierungen durch Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) oder 360°Grad-Ansichten können zu einem tieferen Verständnis führen. Durch die Realitätsnähe können derartige Anwendungen zudem das Lernen mit Emotionen unterstützen. Ein Beispiel stellt die VR-App zum Anne Frank Haus dar (IF01). Die Schüler:innen werden sehr realitätsnah an die geschichtlichen Ereignisse durch einen virtuellen Rundgang durch das Haus herangeführt. Neben der Unterstützung des emotionalen Lernens können digitale Hilfsmittel, wie sprechende QR-Codes, das Aufgabenverständnis erhöhen. Individuell je nach Bedürfnis abrufbare Tipps zu Lernaufgaben können bspw. mit QR-Lernhilfen erstellt werden (IF02), sodass diese je nach Bedürfnis abgerufen werden können.
Auch (meta)-kognitive Strategien können helfen, den Lernprozess zu strukturieren. Der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Lernenden macht häufig der selbstverständliche Zugriff beim guten Lernenden auf Lernstrategien aus (vgl. zusammenfassend Hasselhorn 1992).
Die Auswahl und Kontrolle von Lernstrategien oder metakognitiven Strategien stellen einen wesentlichen Erfolgsfaktor eines guten Unterrichts (vgl. Hattie, 2013, d>0.4 ist als erfolgreich zu bewerten; metakognitive Strategien d .69, Lerntechniken d .59, interaktive Lernvideos d .52 und direkte Instruktion d .59) dar.
Besonders Aspekte der direkten Instruktion lassen sich durch automatisierte Lernsoftware verstetigen. Strukturierte Handlungsabläufe komplexer Lerninhalte können durch interaktive Bücher oder durch Software schrittweise entflechtet dargestellt werden. Zusätzlich gibt es viele Möglichkeiten der Unterstützung während eines Lernprozesses, bspw. durch die schrittweise Darstellung von visualisierten kognitiven Strategien (z. B. Lesestrategien zum sinnverstehenden Lesen, Visualisierung und/oder Übersetzung von Schlüsselbegriffen oder Vorwissensaktivierung durch kollaborative Zusammenarbeit aller Schüler:innen).
Gleichwohl lassen sich metakognitive Strategien zum Beispiel zu den Lernaktivitäten des Planens, Überwachens, Regulierens durch digitale Reminder und Zeitpläne, in Lernplattformen automatisierte Reflexionsfragen oder Hilfen zur Regulierung (z. B. Rechtschreibkorrektur, Übersetzerfunktionen, Vorschläge zur Überarbeitung durch adaptive Lernsysteme bzw. durch künstliche Intelligenz) begleiten. Insbesondere die Verbildlichung durch Piktogramme oder auch Videoaufnahmen können unterstützen, Handlungspläne selbst zu erstellen oder visuell oder auch auditiv erläutern. Dies fördert gleichzeitig auch die Selbstständigkeit der Lernenden im Lernprozess.
Im folgenden Kapitel werden Ideen, Anwendungen aus dem Unterricht und Konzepte zur Durchführung eines diklusiven adaptiven Unterrichts vorgestellt. Ein individualisiertes Bildungsangebot durch und mit digitalen Medien wird durch Thomas Beckermann und Dirk Neumann anhand ihrer fiktiven siebenstufigen Individualisierungsmaschine, dem Individualisator D7, vorgestellt. Lernstandserfassung, Erklärvideos, E-Books, Trickfilme, QR-Codes, umfangreiche Lernplattformen sowie Assistive Technologien adaptieren den Unterricht an die Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse der Schüler:innen (vgl. Kap. 5.1.1).
Aus dieser Vision heraus zeigt Martin Lüneberger ein ganz praktisches Beispiel einer Online-Pinnwand (TaskCards), um Schüler:innen individualisierte Hilfen zukommen zu lassen (vgl. Kap. 5.1.2). Anhand der drei Prinzipien des Universal Design for Learnings (vgl. Kap. 4.1) beschreibt er die verschiedenen Möglichkeiten der Präsentation von Informationen über die multiplen Optionen zur Verarbeitung von Optionen bis hin zur Förderung von Lernengagement und Motivation beim didaktischen Einsatz digitaler Pinnwände mit TaskCards. Vanessa Henke erläutert ebenfalls die Nutzung von Online-Pinnwänden für das Lernen in der Distanz (vgl. Kap. 5.1.3).
Besonders für asynchrone Unterrichtsformate oder für einen individualisierten Zugriff auf weitere Erklärungen zu einem Thema können Schüler:innen auf Erklärvideos zurückgreifen. Traugott Böttinger erklärt die Erstellung und Nutzung von individualisierten H5P-Erklärvideos für inklusive Settings, die aufgrund ihrer Interaktivität und ihrem Aufforderungscharakter die Schüler:innen konzentriert am Lerninhalt arbeiten lassen (vgl. Kap. 5.1.4).
Mit der App Quizmaker lassen sich ebenfalls im Handumdrehen einfache Quiz für die jeweiligen Schüler:innen je nach aktuellem individuellen Lernstand durch die Lehrkraft erstellen. Katja Lauther zeigt auf, wie man besonderen Bedürfnissen von Schüler:innen mit der Quizmaker App begegnen kann (vgl. Kap. 5.1.5).
Selbstlernmaterialien, die sich an die Interessen oder auch am Vorwissen der Schüler:innen orientieren können mit der Anwendung Twine 2.0 erstellt werden. Mit dem Programm können nicht-lineare interaktive Selbstlerninhalte konzipiert werden, bei denen die Schüler:innen nicht die gleichen Lernschritte durchlaufen müssen. Traugott Böttinger zeigt auf, wie man das Material so entwickeln kann, dass sich das Programm adaptiv an die Vorkenntnisse der Schüler:innen anpasst (vgl. Kap. 5.1.6).
Karin Reber greift den Aspekt der sonderpädagogischen Förderung in der Fachrichtung Sprache auf und expliziert die Verwendung digitaler Lernapps und Software für die Sprachebene Grammatik (vgl. Kap. 5.1.7).
Eine Vielfalt an Praxisbeispielen für den diklusiven Unterricht sammelt Thomas Moch in seinem umfassenden Lernsachen.blog. Er berichtet von einzelnen Beiträgen und zeigt Beispiele für die Umsetzung eines diklusiven Settings auf (vgl. Kap. 5.1.8).
Im abschließenden Erfahrungsbericht beschreibt eine Schülerin mit dem Förderschwerpunkt Lernen, die an dieser Stelle bewusst namentlich nicht genannt wird, ihr individuellen digitalen Erfahrungen im Distanzunterricht (vgl. Erfahrungsbericht, Kap. 5.1.9).
Weiterführende Hinweise
Das Anne Frank Haus in Virtual Reality. URL: IF01 (abgerufen am 11.11.2021).
Gestufte Lernhilfen. URL: IF02 (abgerufen am 11.11.2021).
Literatur
Arnold, K.-H. & Kretschmann, R. (2002): Von der Eingangsdiagnose zu Förderungs- und Fortschreibungsdiagnosen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, H. 7, 266-271.
Hasselhorn, M. (1992): Metakognition und Lernen. In: Nold, G. (Hrsg.): Lernbedingungen und Lernstrategien: welche Rolle spielen kognitive Verstehensstrukturen? Tübingen: Narr, 35-63.
Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
König, L. (2013): Die Bedeutung bindungstheoretischer Aspekte im Kontext der Frühen Bildung. In: Sonderpädagogische Förderung heute 58, H. 4, 383-396.
Largo, R. H. & Beglinger, M. (2009): Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. München: Piper.
Peschel, F. (2012): Individualisierung, Inklusion und Offener Unterricht. In: Balliet, M. & Kiebisch, U. W. (Hrsg.): LehrerHandeln. Kompetenz, effizient, kongruent. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 124-139.
Schuck, K. D. (2006): Fördern, Förderung, Förderbedarf. In: Antor, G. & Bleidick, U. (Hrsg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik – Schlüsselbegriff e aus Theorie und Praxis. Überarb. u. erw. Aufl . Stuttgart: Kohlhammer, 84-88.
Schuck, K. D. (2014): Individualisierung und Standardisierung in der inklusiven Schule – ein unauflösbarer Widerspruch? Die Deutsche Schule, 2, 162-174.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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