Wer spricht hier eigentlich?
Gabi Herberich & Christine Becker
Projektbeschreibung
An der Eugen-Neter-Schule, einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Mannheim, stehen zwei Lehrerinnen vor der Herausforderung durch den Lockdown bedingt gemeinsam mit ihrer UK-Klasse neue Wege zu gehe. UK ist das Akronym für Unterstützte Kommunikation, einem Teilgebiet der Sonderpädagogik, in welcher Personen im Fokus stehen, die nicht über Verbalsprache kommunizieren. In folgendem Beitrag wird erläutert, wie Online-Unterricht mit nicht sprechenden Schüler:innen umgesetzt wurde. Durch Input des Umfelds mittels verschiedener Formen der UK lernen UK-Nutzende zu kommunizieren – dies nennt man Modelling. Bezüglich Distancelearning wurden neue Wege zum Online-Modelling gesucht und gefunden. In der Umsetzung hatte die Klasse viel Spaß.
Zur Klasse
Seit acht Jahren unterrichten wir gemeinsam in der Berufsschulstufe eine Uk-Klasse mit sieben Schüler:innen, die alle eine elektronische Kommunikationshilfe mit Sprachausgabe und einer symbolbasierten App MetaTalk benutzen. Umgangsprachlich werden diese Kommunikationshilfen auch Talker genannt. Begleitend hierzu nutzen wir in der Klasse weitere Formen der UK, wie Gebärden und Symbole. Bis auf einen Schüler können sich unsere Schüler:innen nicht verbal ausdrücken und befinden sich auf der Ebene des Situations- bzw. des Bildzeichenlesens. Da mit dem Schulende nach der 12. Klasse oft auch die Förderung in Unterstützter Kommunikation endet, legen wir in unserem Unterricht den Schwerpunkt auf die Vermittlung der kommunikativen Funktionen mittels Modelling.
Die Reise beginnt
Zu Beginn des Lockdowns im Mai 2020 telefonierten wir mit den Eltern, gestalteten Briefe und brachten Material zu den Schüler:innen vor die Haustür. Von einigen Schüler:innen bekamen wir daraufhin Videos, auf denen sie uns zeigten, wie sie mit dem Material zu Hause arbeiteten. Wir schickten den Schüler:innen Video-botschaften zurück, teilweise filmten wir dazu den Bildschirm mit den Botschaften in MetaTalk ab. Nun erwuchs auch die Idee, Online-Unterricht anzubieten.
Doch, wie wir alle in der Corona-Zeit gelernt haben, war die Umsetzung nicht so einfach wie gedacht! Wir mussten zuerst mit der Technik vertraut werden und standen vor Herausforderungen, mit denen wir bisher nicht konfrontiert waren: Wie führt man eine Videokonferenz durch? Wie teilt man ein Video? Wie teilt man den Bildschirm für die Präsentation? Nicht nur die Suche nach der geeigneten Plattform beschäftigte uns, sondern auch ausgeschaltete Mikrofone, WLAN-Ausfälle und neugierige Schüler:innen, die zu Hause gerne mal auf eine neue Taste drückten.
Dabei war immer wichtig, einen telefonischen Notkontakt mit der Familie zu haben (und sei es zur deutschsprechenden Nachbarin). Unsere Schüler:innen brauchten auf jeden Fall jemanden, der sie in diesen Fällen unterstützen konnte. Der Unterricht funktionierte nur, wenn alle ihre Kameras und Mikrofone eingeschaltet hatten. Als UK-Klasse (Klasse zur Unterstützung von Kindern mit Unterstützter Kommunikation) hat uns auch immer wieder das Problem ereilt zu erkennen, welche Schülerin oder welcher Schüler gerade spricht. Da unsere fünf jungen Männer alle mit der gleichen Stimme auf ihren Talker sprechen, ist es im Schulalltag schon schwer zu erkennen, von wem die Äußerung gerade kommt. Über die Mikrofone fiel auch noch das Richtungshören weg – ganz abgesehen davon, dass man nicht einfach zum Talker hingehen konnte, um nachzuschauen, wer gerade gesprochen hat!
Das Thema Zuspätkommen forderte einen erheblichen zeitlichen Tribut, sod ass sich Unterricht häufig verzögerte und nach hinten ausdehnte. So verbrachten wir am Anfang die Hälfte der Zeit damit, zu warten, bis sich alle zugeschaltet und Kamera und Mikrofon angeschaltet hatten. Zunächst boten wir den Eltern an, gemeinsam mit ihren Kindern teilzunehmen und etablierten dreimal die Woche verbindliche Zeiten, zu denen die Eltern sich abmelden sollten, wenn eine Teilnahme nicht möglich war.
Struktur und wiederkehrende Abläufe
Nachdem alle viel Freude daran hatten sich endlich wieder zu sehen, entwickelten wir den Anspruch, richtigen Unterricht anzubieten. Analog zum gewohnten Ablauf in der Schule, etablierten wir mit Hilfe einer Präsentation einen ritualisierten Stundenablauf. Nach einer ausführlichen Begrüßung besprachen wir Wochentag und Datum. Das Wetter wurde verglichen und manchmal gab es in Heidelberg Regen und in Mannheim schien die Sonne. Mit dem iPad gingen wir nach draußen und konnten die Schüler mittels Live-Bilder über die unterschiedlichen Wetterlagen aufklären. Dabei gelang einem Schüler auch der große Schritt zum Zwei-Wort-Satz. Auf die Frage Wie ist das Wetter antwortete er zunächst immer Sonne. Im Laufe des Online-Unterrichts lernte er den Unterschied zwischen ich möchte Sonne und es gibt Sonne richtig einzusetzen.
Ein wichtiges Thema in unserer Klasse ist die ritualisierte, tägliche Frage: Was gibt es zum Mittagessen? Da dies im Online-Unterricht wegfiel, unterhielten wir uns darüber, was wir gefrühstückt hatten. Ein Schüler beschwerte sich dabei häufig, dass er noch nichts zum Frühstück bekommen hatte. Bei einer anderen Schülerin wanderte das Handy, auf dem sie den Unterricht verfolgte, an den morgendlichen Frühstückstisch der Großfamilie. In den jetzigen Präsenzunterricht haben wir übernommen das Ritual, dass wir uns mit unseren Frühstückstassen zuprosten. Dies hatte ein Schüler im Online-Unterricht initiiert.
Themen
Mit der Zeit steigerten wir uns und erweiterten den Ablauf um ein konkretes Unterrichtsthema. Nach den offensichtlichen Themen (Corona, Geburtstage, Ferien) knüpften wir an die Erfahrung mit unserem Lehrerkollegen Merlin, dem Hund einer Kollegin, an und entschieden uns für das Thema Mein Lieblingstier. Dabei war für uns ausschlaggebend, dass Merlin vor allem auch unseren Schüler mit dem größten Unterstützungsbedarf faszinierte.
Wie funktioniert UK-online?
Das haben wir uns vor über einem Jahr gefragt und wollen im nun Folgenden davon berichten, um am Ende unser Fazit darzulegen.
Als Botschaft vorab: Gemeinsam mit unseren Schüler:innen haben wir gelernt. Wir haben gemeinsam die Technik verflucht und haben über unsere Gebärden gelacht. Wir haben uns als Team gefühlt und es war wunderbar.
Online-Unterricht und die Talker
Den Talker in die Kamera zu halten, so dass alle Teilnehmer:innen das Gesagte hören UND sehen konnten war sowohl für uns als auch für die meisten Schüler:innen schnell erlernt. So konnten einige Prinzipien des Modellings relativ zügig verwirklicht werden. Die Vorbildfunktion (wir nutzen selbst den Talker, wenn wir etwas erzählen wollten) konnten wir uns zunutze machen, da unsere Schüler:innen damit bereits aus dem Präsenzunterricht vertraut waren. Das Wiedergeben und Umformulieren von getätigten Äußerungen konnten wir direkt umsetzen und die einzelnen Schüler:innen imitierten bzw. spiegelten unsere Aussagen. Es gelang uns (wie auch im Präsenzunterricht) an Äußerungen der Schüler:innen anzuknüpfen, es entstanden Gespräche und die Bearbeitung eines Unterrichtsthemas kam in Gang. Auch auf die Versprachlichung von Schüler:innen-Aktionen und -reaktionen konnten wir achten und dadurch Befindlichkeiten, Fragen sowie Unverständnis kommentieren. Unterstützend zu den spontanen Äußerungen setzten wir in der Präsentation Folien mit Wortpfaden ein, um den Schüler:innen die Suche besser zu veranschaulichen.
Neben den Talkern nutzen wir die bereits bekannten Gebärden. Dies hatte ungewollt noch den Vorteil, dass bei Tonausfall (und das kam relativ häufig vor) der Unterricht weiter stattfinden konnte und wir zudem noch lustige Missverständnisse hatten. Besonders bereichernd waren thematisch passende YouTube-Videos von Claudio Castañeda und Jette (Familie von Deetzen) – siehe weiterführende Hinweise. Unsere Schüler:innen waren damit bereits aus dem Präsenzunterricht vertraut und zeigten eine hohe Aufmerksamkeit beim Zuschauen. Die Kombination aus Vertrautheit – und somit auch Sicherheit – und der den Schüler:innen bekannten Versprachlichung und Nutzung von Talker und Gebärden, gewährte eine rege Beteiligung am Gespräch.
Ein Wort zur Vertrautheit: Da wir bei allen regelmäßig im Wohnzimmer bzw. in der Küche saßen, entstand eine besondere Art von Nähe, die uns bis in den Präsenzunterricht bewahrt blieb. Beim Schritt zurück in die Schule erleichterte der selbstverständliche Umgang mit der Kamera den Hybrid-Unterricht. Nachdem unsere Schüler:innen teilweise wieder vor Ort in der Schule unterrichtet wurden, schalteten wir die daheim gebliebenen stundenweise dazu. Wie selbstverständlich gingen sie zum Laptop und hielten ihre Talker in die Kamera.
Fazit
Mit technischen Problemen aller Art hatten sowohl Lehrkräfte als auch Schüler:innen am Anfang zu kämpfen. Im Laufe der Zeit gewöhnten wir uns daran und fanden einen entspannten Umgang damit.
Die Rollenverteilung und Absprache (wer spricht wann, wer modellt, wer gebärdet, etc.) unter den Lehrer:innen war Voraussetzung für ein Gelingen des Unterrichts mit dieser besonderen Schülergruppe. Die Bedeutsamkeit und Relevanz der verlässlichen Teilnahme am Online-Unterricht (zu Zeiten, als kein Präsenzunterricht möglich war) kam nur langsam bei den Familien unserer Schüler:innen an.
Die Bespaßung reifte dann allerdings zum Unterricht und wurde von den meisten sehnlichst erwartet. Die Schüler:innen brauchen zu Hause die Begleitung der Eltern/Geschwister/Erzieher:innen, denn schnell war ein Knöpfchen oder ein Schalter gedrückt – und das Bild war weg. Hier waren unsere Schüler:innen auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Andererseits profitierten auch die Eltern und Geschwister davon, Modelling im Unterricht mitzuerleben und konnten so einen besseren Einblick in die Anwendung bekommen, als dies bei jeder Fortbildung der Fall gewesen wäre!
Für kurzfristige Infos oder für den technischen Support hatte unsere Elternvertreterin eine Messenger-Gruppe eingerichtet. Dies hat uns viele Male geholfen und den Unterricht nach individuellen Schwierigkeiten doch noch ermöglicht. Hier konnte schnell und direkt Unterstützung von uns oder untereinander geleistet werden.
Der Einsatz von externen Videos bereicherte den Online-Unterricht und half dabei, das Gefühl zu vermitteln, Teilhabe an der Welt zu haben. Technische Kompetenzen sind keine Grundvoraussetzung bei Lehrer:innen, aber nach einem Jahr Online-Unterricht definitiv vorhanden und erweitert.
Als großen Vorteil nahmen wir die bereits vorhandene Gruppenstruktur und Peergroup-Bildung innerhalb der Klasse wahr. Bestehende Freundschaften und gemeinsame Interessen traten auch online deutlich hervor und konnten ausgedrückt und gegenseitig wahrgenommen werden (z.B. beim Thema Mein Lieblingstier). Durch das Wiederholen bekannter Abläufe, das die bereits oben erwähnte Vertrautheit und Sicherheit vermittelte, konnten neue Inhalte vermittelt und verknüpft werden. Somit konnte bereits Gelerntes behalten und geübt und manchmal sogar erweitert werden. Idealerweise unterrichteten wir zu zweit. Oft hatten wir das Glück, dass eine Studentin, die gerade ihr Praktikum bei uns absolvierte, dabei war und Aufgaben, bzw. Rollen (Sprecher, Modell, Gebärden) optimaler verteilt werden konnten. Unser Erfahrungsbericht basiert diesbezüglich auf sehr guten Rahmenbedingungen und wir konnten unseren Schwerpunkt der Unterstützten Kommunikation und Modelling entsprechend umsetzen.
Und unser Co-Lehrer Merlin hatte die Funktion des Pausenfüllers. Pausen entstanden immer wieder – sei es aus technischen Gründen oder weil wir auf das Ankommen der Schüler:innen warteten, oder weil eine Aussage etwas mehr Zeit in Anspruch nahm (UK braucht ja bekanntlich Zeit – und nicht alle können geduldig warten). Merlin saß immer dabei und wurde sehr vermisst, wenn er ausnahmsweise nicht im Bild war. Er zog die Aufmerksamkeit nur durch seine Anwesenheit auf sich und verbreitete gute Laune mit seinen Aktionen.
Wir schauen gerne zurück! Unser wichtigstes Fazit zum Schluss: Online-Modelling klappt!
Weiterführende Hinweise
- Zahlreiche Aufrufe des YouTube-Kanals von Claudio Casteñeda erfolgte während des Lockdowns. Er erstellte verschiedene Videos, in denen er auf der App MetaTalk modellt. URL: UK01
- Auch die Familie von Deetzen erfuhr viele Aufrufe während Corona. Auf deren YouTube-Kanal stehen Gebärden als Kommunikationsform im Vordergrund. URL: UK02
- Die Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation setzt sich für die Belange der Personen ohne Lautsprache sowie deren Umfeld ein. URL: UK03
Anmerkung der Redaktion
Dieser Beitrag beider Autorinnen basiert auf dem Artikel Modelling und Online-Unterricht erschienen in: Zeitschrift für Unterstützte Kommunikation 3/2021, 20-23.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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