Sechs Aspekte zum Lernen in der Distanz
Janneke Burgdorf
Kurzbeschreibung
Die Digitalisierungsprozesse schreiten voran. Viele Lehrkräfte haben bereits Erfahrungen gesammelt – sowohl mit den Chancen, die diese Prozesse bieten, als auch mit den Herausforderungen, die sie mit sich bringen. Um die Chancen der digitalen Teilhabe von Schüler:innen mit einer Hörschädigung zu erhöhen, muss das Augenmerk nach wie vor auf dem Primat der Pädagogik bzw. Didaktik liegen. Denn diese muss den Einsatz digitaler Medien bestimmen und nicht umgekehrt (vgl. BMBF 2019). Dafür können grundlegende Aspekte des Förderschwerpunkts Hören und Kommunikation aus dem Präsenzunterricht adaptiert werden.
Digitale Qualitätsmerkmale
Schüler:innen mit einer Hörschädigung hören anders.

Auch die frühe Diagnostik, eine optimale technische Versorgung und frühe Interventionen gleichen eine Hörschädigung nicht vollständig aus (vgl. Hintermair et al. 2014). Im Zusammenhang mit ihrem Hörverlust entwickeln sie spezifische Bedürfnisse, denen u.a. mit hörgeschädigtenspezifischen Maßnahmen begegnet werden kann. Dies gilt sowohl im Präsenzunterricht als auch beim Einsatz digitaler Medien sowie in rein digitalen Settings. Bezogen auf die letzten beiden Aspekte wird im Folgenden die Adaption sechs ausgewählter Qualitätsmerkmale im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation zur Erhöhung der digitalen Teilhabe beschrieben.
Sicherung optimaler Bedingungen zur digitalen Teilhabe
„Jede Lehrperson, die Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung unterrichtet, trägt die Verantwortung für die Sicherung möglichst optimaler Hörbedingungen“ (Stecher & Rauner 2019, S.59). Für die Schaffung optimaler akustischer sowie optischer digitaler Rahmenbedingungen ist eine verfügbare starke Internetverbindung obligatorisch, damit z. B. bei Videokonferenzen ein zuverlässiges Bild und gute Tonqualität gewährleistet ist. Ein verzerrtes Bild und lückenhafte Sprachübertragung erfordern auch unter normalen Hörvoraussetzungen bereits enorme Ergänzungs- und Kombinationsleistungen, bedingt durch eine Hörschädigung potenziert sich dieses Erfordernis jedoch hin zum Unmöglichen.
Ist im präsenten Schulkontext häufig die Rede von geeigneten Sitzordnungen und Sitzplätzen, bedeutet dies in der Adaption auf der einen Seite den geeigneten Sitzplatz der Lehrkraft vor dem Computer – genauer: gut ausgeleuchtetes Gesicht ohne Schattierungen vor einem ablenkungsarmen Hintergrund (z. B. vor einem weißen Paravent) und auf der anderen Seite für Schüler:innen mit einer Hörschädigung einen spiegelungsfreien Blick auf den Bildschirm.
Im Sinne der Übertragung zunehmender Selbstverantwortung für die Optimierung der individuellen Hörbedingungen brauchen Schüler:innen mit einer Hörschädigung auch im digitalen Kontext Unterstützung, wie sie weitere technische Hilfsmittel (z. B. Übertragungsanlage, Bluetooth-Boxen, Kopfhörer) gezielt kombinieren und einsetzen können. Der Technik-Check sollte dabei vorab durchgeführt werden. Ebenfalls im Vorfeld sollte die (schriftliche) Erklärung eines Tools erfolgen, um die Lernvoraussetzungen für eine Fokussierung auf die Inhalte zu schaffen.
Digitale Visualisierung
„Die Visualisierung bestimmter Inhalte dient der Informationsübermittlung und Verständnissicherung einerseits, andererseits unterstützt sie Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung“ (Truckenbrodt & Leonhardt 2015, S. 51) – und vor allem entlastet sie. Wesentliche Informationen (Termine, Aufgaben, Links usw.) sollten schriftlich (z.B. per E-Mail oder über ein Lernmanagement-System) übermittelt werden, damit die Möglichkeit besteht, diese in Ruhe und erneut nachzulesen. Im Distanzunterricht gilt dies für die Verwendung der Chatfunktion und die Vermittlung von Inhalten. Power-Point-Präsentationen unterstützen beispielsweise durch die gezielte Verwendung von Symbolen, Bildern und weiteren Veranschaulichungen. Auch (selbstgestaltete) Erklärfilme bieten ein großes Potenzial für Schüler:innen mit einer Hörschädigung vor allem dann, wenn es die Möglichkeit für einen Untertitel und/oder ein zusätzlich vorliegendes Transkript gibt.
Für nachhaltige Bildungsprozesse hat das kollaborative Arbeiten einen hohen Stellenwert. In digitalen Settings bieten eine Vielzahl an Tools entsprechende Möglichkeiten auch auf der Schriftebene und durch Visualisierungen an (z. B. Flinga, ZUMPad, CryptPad, Mentimeter, ONCOO).
Digitale Strukturierung
Eine klare Strukturierung hat einen sehr starken Einfluss auf den Lernerfolg (vgl. Stecher 2011), denn je strukturierter und transparenter der Unterricht, desto konzentrierter können Schüler:innen mit einer Hörschädigung diesem folgen und gezielter nachfragen (vgl. Truckenbrodt & Leonhardt 2015). Der sogenannte rote Faden mit einer vorbereiteten Lernumgebung, einem klaren visualisierten Ablauf mit Phasierung und Rhythmisierung, Sozialform- und Methodenwechsel, Transparenz sowie Verständnis- und Ergebnissicherung (vgl. Stecher & Rauner 2019; Truckenbrodt & Leonhardt 2015; Stecher 2011) bietet den Schüler:innen mit einer Hörschädigung auch im Distanzunterricht Orientierung und Sicherheit.
Realisiert werden kann dieser u. a. durch übersichtliche Wochenpläne (z. B. mittels eines Padlets oder über Taskcards), die im Sinne eines Stundenplans gestaltet sind und fest installierte Zeiten für die Erreichbarkeit der Lehrkraft (z. B. Online-Sprechstunden) beinhalten. Zu beachten ist dabei eine realistische Einschätzung des Arbeitsaufwandes auf Seiten der Schüler:innen mit einer Hörschädigung, die z. B. Erklärfilme häufig mehrfach und mit Stoppfunktion ansehen müssen. Gerade bei der Bearbeitung von Aufgaben im Distanzunterricht, die oftmals keine direkten Rück- und Nachfragen zulassen, profitieren diese Schüler:innen von übersichtlichen, gegliederten und bebilderten Arbeitsbögen und Arbeitsmedien mit einer klaren Struktur (z. B. die App Anton).
Digitale Sprachoptimierung
In jedem Unterricht spielt Sprache eine große Rolle – eine fordernde und anstrengende Situation für Schüler:innen mit einer Hörschädigung (vgl. Truckenbrodt & Leonhardt 2015). Neben den genannten zu optimierenden digitalen Rahmenbedingungen trägt auch die Minimierung des Störschalls von außen (z. B. Hintergrundgeräusche wie Telefonklingeln, Verkehrslärm, Musik, Gespräche) und die Synchronität des Sprach- und Bildsignals wesentlich zu einem besseren Verstehen bei. Besonders bei eingeschränkter Übertragungsqualität ist die Lehrkraft umso mehr gefordert, diese durch eine klare und deutliche (Gebärden-)Sprache, durch die Reduktion der Äußerungskomplexität sowie durch das gezielte Wiederholen und das Verschriftlichen wichtiger Wörter, Sätze und Äußerungen der Mitschüler:innen aufzufangen. Auch im digitalen Unterricht sind vielfältige Rückmeldefunktionen möglich, mit denen z. B. ein Signal bei Nichtverstehen vereinbart werden kann. Einige Computerprogramme ermöglichen die Einstellung der Sprechgeschwindigkeit und verschiedener Computerstimmen, so dass z. B. bei einer Hochtonschwerhörigkeit gezielt eine Männerstimme gewählt oder aber auch durch das eigene Einsprechen eine stärkere Akzentuierung erreicht werden kann (z. B. bei Simpleshow).
Wurde bereits die Bedeutung der Visualisierung und Verschriftlichung hervorgehoben, so bedeutet dies aber nicht einfach je mehr desto besser. Die Schüler:innen benötigen alle notwendigen Informationen schriftlich, um zielorientiert arbeiten und lernen zu können, und im Lernen auf Distanz auch noch ein Mehr an schriftlichen Informationen als im Präsenzunterricht. Strukturierung und Transparenz müssen dabei folglich umso mehr berücksichtigt werden, ebenso wie die Sprachoptimierung im Sinne von Fokussierung auf die wesentlichen Inhalte, Vereinfachung des Satzbaus, zusätzliche Worterklärungen, weitere Veranschaulichungen, Ausrichtung am Lebensweltbezug etc. – und dies ohne eine Überfrachtung der Arbeitsmaterialien (vgl. Abb. 4.7.2).

Digitaler Methodenwechsel
Ein lehrkraftzentrierter und somit häufig sprachlastiger Unterricht erfordert viel Aufmerksamkeit und Konzentrationsleistung. Um die Aufmerksamkeit aufrecht zu halten, eignen sich auch in digitalen Settings gezielte Methoden- und Sozialformwechsel. So kann im Rahmen einer Videokonferenz nicht nur der Fokus auf dem Zuhören liegen, sondern auch die Eigenaktivität durch visuelle Impulse und Handlungsorientierung ermöglicht werden (z. B. durch ein Zuordnungsspiel zur Aktivierung des Vorwissens). In den Aneignungsphasen bieten sich sowohl die Kombination von Online-Aufgaben (z. B. LearningApps) und Arbeitsblättern an, als auch das Grundprinzip des kooperativen Lernens Think-Pair-Share.


Abb. 4.7.3 (links) LearningApp Aufgabenstellung Benennung der Teile des Hörgerätes
Abb. 4.7.4 (rechts) LearningApp Zuordnung Fachbegriffe und Teil der Abbildung (eigener Screenshot, Rechte bei Verein LearningApps – interaktive Lernbausteine)
Diese Vorgehensweise erleichtert es zum einen Hör- und Absehpausen in den Lernphasen gezielt umzusetzen, und zum anderen Helfersysteme unter Mitschüler:innen aufzubauen und zu nutzen. Helfersysteme können sowohl die Lehrkraft entlasten als auch den Schüler:innen mit einer Hörschädigung die Möglichkeit zu einem niedrigschwelligen Absichern des Aufgabenverständnisses und zur (An-)Passung der subjektiven Konstruktionen bieten. Effektiv gestaltet sich ein Helfersystem für die Schüler:innen mit einer Hörschädigung vor allem dann, wenn die Partner:innen technisch versiert und gut ausgestattet sind und sowohl auf der Sprach- als auch auf der Schriftebene gut zu verstehen sind.
Durch diese kognitive Aktivierung kann die Qualität der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand erhöht werden. Entscheidend ist dabei aber vor allem auch der Faktor Zeit, da für die Umsetzung der einzelnen Phasen in digitalen Settings der klassische 45-Minuten-Rhythmus schwer einzuhalten ist.
Digitale Differenzierung
Grundlegende Maßnahmen zur (quantitativen und qualitativen) Differenzierung werden durch die Nutzung digitaler Medien und durch digitale Settings nicht außer Kraft gesetzt. Sie behalten ihren hohen Stellenwert zur optimalen individuellen Förderung bei. Zur Förderung der digitalen Teilhabe von Schüler:innen mit einer Hörschädigung muss dabei auch die Art der Informationsvermittlung einmal mehr ins Bewusstsein gerückt werden. Schüler:innen mit einer Hörschädigung schneiden schlechter ab, wenn Material sequenziell statt simultan präsentiert wird und verarbeitet werden muss (vgl. Hintermair et al. 2014).
Für den (Distanz-)Unterricht bedeutet dies in der Konsequenz die Anpassung der Art der Informationsvermittlung an die Wahrnehmungsvoraussetzung: simultan statt sequenziell. Entscheidend ist dabei vor allem auch, dass die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung im Unterricht reduziert wird, um einen Wechsel zwischen den simultan angebotenen Quellen zu ermöglichen (vgl. Hintermair et al. 2014).
Kommen in digitalen Settings z. B. Schriftdolmetscher oder digitale automatische Spracherkennungsprogramme zum Einsatz, muss den Schüler:innen mit einer Hörschädigung auch die Zeit gegeben werden, um die Mitschriften zu lesen und sich dann dem entsprechenden Anschauungsmaterial zuzuwenden.
Ein lern- und sachbezogenes sowie regelmäßiges Feedback hat den Zweck, die Lücke zwischen der Lernausgangslage und dem Ziel innerhalb eines Lernprozesses zu schließen und zählt somit zu den lernwirksamsten Faktoren.
Die häufige und schnelle Rückmeldung zum Lernverlauf trägt folglich wesentlich zur Verbesserung der Schülerleistung bei (vgl. Hattie 2013). Im Distanzlernen gewinnt dieser Aspekt besonders an Bedeutung, um zu vermeiden, dass sich Fehler bei Schüler:innen mit einer Hörschädigung verfestigen und um ihnen Unterstützung sowie Orientierung zu bieten. Bei der Entwicklung einer Feedbackkultur mit dem Ziel der qualitativen und wertschätzenden Rückmeldung sowohl (bidirektional) zwischen Lehrkraft und Schüler:innen als auch unter den Mitschüler:innen selbst kann zwischen direkten persönlichen und digitalen Varianten (s.o.) gewechselt werden.
Fazit
Es gibt nicht das eine herausragende Tool, welches für Schüler:innen mit einer Hörschädigung besonders geeignet ist. Viel mehr kommt es auf die (hör-geschädigtenspezifische) pädagogische Einbettung und Umsetzung an. Diesbezüglich kann die Berücksichtigung digitaler Qualitätsmerkmale maßgeblich zur Erhöhung der digitalen Teilhabe von Schüler:innen mit einer Hörschädigung beitragen.
Die Schüler:innenschaft mit einer Hörschädigung ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Heterogenität, welches sich in den sehr individuellen Auswirkungen der Hörschädigungen widerspiegelt. Entsprechend ist es unabdingbar den direkten Kontakt mit den Lernenden zu suchen und zu halten, um jederzeit Modifikationen im Lernprozess vornehmen zu können.
Anmerkung der Herausgeber:innen
Die Begrifflichkeiten Hörschädigung und -beeinträchtigung werden oftmals synonym verwandt. Bewusst wird hier der in der Fachwissenschaft genutzte Begriff Hörschädigung statt des bisher nicht gängigen Begriffs Hörbeeinträchtigung verwandt. Die Lernsituation von Schüler:innen mit Hörschädigung ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Bereich Hören und Kommunikation ist hier mitgedacht. (Anmerkung der Herausgeber:innen)
Weiterführende Hinweise
- Anton App: HK01
- CryptPad: HK02
- Flinga: HK03
- Jitsi Meet: HK04
- LearningApps: HK05
- Mentimeter: HK06
- ONCOO: HK07
- Padlet: HK08
- Simpleshow: HK09
- Worksheet Crafter: HK10
- ZUMPad: HK11
Literatur
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2019): Equalification 2020. Lernen und Beruf digital verbinden. Berlin: BMBF.
Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Hintermair, M.; Knoors, H. & Marschark, M. (2014): Was wir über Lernprozesse gehörloser und schwerhöriger Kinder wissen: Überlegungen auf der Grundlage evidenzbasierter Forschungsergebnisse. In: Hörgeschädigtenpädagogik 1, 6-16.
Jacobs, H.; Schneider, M. & Wisnet, M. (2004): Hören – Hörschädigung. Informationen und Unterrichtshilfen für allgemeine Schulen. Offenbach: Druckerei Berthold, 3. neu bearbeitete Auflage.
Stecher, M. & Rauner, M. (2019): Unterrichtsqualität im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. Heidelberg: Median-Verlag.
Stecher, M. (2011): Guter Unterricht bei Schülern mit einer Hörschädigung. Heidelberg: Median-Verlag.
Truckenbrodt, T. & Leonhardt, A. (2015): Schüler mit Hörschädigung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte. München: Ernst Reinhardt Verlag.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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