Das diklusive Universal Design for Learning
Lea Schulz & Traugott Böttinger
Übersicht
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Zusätzliche Informationen: Diese sind auf der Webseite zum Thema Diklusion (DB02) aufgeführt
Kurzbeschreibung
In allen Unterrichtssettings, die üblicherweise durch eine breite Heterogenität der Schülerschaft gekennzeichnet sind, ist ein adaptiver und individualisierter Unterricht von Bedeutung, um alle Schüler:innen in ihrem Lernen zu unterstützen. Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, Lernzugänge zu ermöglichen, Lernwege aufzuzeigen und Lerninhalte so aufzubereiten, dass ein Lernen am (möglichst) gleichen Lerngegenstand gelingt. Digitale Medien können hierbei Unterstützung bieten, um Barrieren abzubauen und Lernmöglichkeiten zu eröffnen. In diesem Zusammenhang ist es zielführend, das Universal Design for Learning (DB03, CAST 2018), ein auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse durch eine gemeinnützige Forschungs- und Entwicklungsorganisation im Bildungsbereich in Boston (USA) erstellter Rahmenplan zur Verbesserung des Lehrens und Lernens, für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu adaptieren.
Digitale Medien und individualisiertes Lernen
Im Vorfeld ist zudem die Frage zu klären, warum digitalen Medien zugetraut wird, beim adaptiven und individualisierten Lernen eine Rolle zu spielen. Von Bedeutung sind vor allem die drei Bereiche Multimedialität, Interaktivität und Adaptivität (vgl. Petko 2010, S.9). Multimedialität bezieht sich darauf, dass digitale Medien zum einen multimodal beschaffen sind, d.h., sie unterstützen eine parallele Informationsverarbeitung über mehrere Sinneskanäle (v.a. visuell, auditiv). Zum anderen verfügen sie über eine multicodale Darstellung, indem Inhalte über verschiedene Repräsentationsformen (z.B. Video, Animation, Text etc.) vermittelt werden.
Interaktive Medien können von Nutzer:innen bezüglich ihrer Präsentation und Interaktion gezielt nach eigenen Absichten gesteuert werden (z.B. über die bewusste Auswahl bestimmter Inhalte). Adaptivität umfasst neben der Makroadaption als Anpassung der digitalen Medien an individuelle Bedürfnisse, z.B. zum Umfang oder zur Darstellung der Inhalte, die Mikroadaption. Diese bezeichnet die automatische Anpassung an verschiedene Inputs, z.B. indem ein Lernprogramm den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben selbstständig anpasst – auf Basis bisher bearbeiteter Aufgaben.
Durch die Multimedialität digitaler Medien können also verschiedene Kanäle zur Informationsverarbeitung genutzt werden, um so die Rezeption von Inhalten zu ermöglichen bzw. diese zu vertiefen. Durch die Interaktivität digitaler Medien kann selbstständiges Lernen unterstützt werden, indem Lerninhalte oder Aufgabenformate gezielt ausgewählt werden können, auch auf Basis unmittelbar erfolgender Rückmeldungen an die Nutzer:innen. Durch die Adaptivität digitaler Medien können Zugänglichkeit und Nutzbarkeit erhöht werden, indem z.B. für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen spezielle Einstellungen zu Kontrast, Schriftgröße oder Vorlesefunktion vorgenommen werden. Zudem wird durch Mikroadaption die Anpassung der Lerninhalte an individuelle Lernvoraussetzungen und -fortschritte einzelner Schüler:innen möglich.
Insgesamt können digitale Medien adaptives und individualisiertes Lernen unterstützen – nämlich durch ein Angebot an möglichst passgenauen Aufgabenstellungen und Inhalten mit möglichst optimaler Komplexität. Allerdings soll an dieser Stelle betont werden, dass kein automatischer Zusammenhang mit einer besseren Lernleistung besteht – der Einsatz digitaler Medien allein ist nicht zielführend.
Das Universal Design for Learning
Das Universal Design for Learning (UDL) entstand aus den Ideen des Universal Design, das bereits vor knapp 70 Jahren zum Ziel hatte, das öffentliche Leben möglichst zugänglich zu gestalten und Teilhabe zu ermöglichen. Dazu wurden Prinzipien formuliert, wie Umgebungen, Produkte, Dienstleistungen und vieles mehr ohne weitere Anpassungen verfügbar gemacht werden können (vgl. Pilgrim & Ward 2017, S.283).
Das UDL (CAST, 2018) selbst stellt die interindividuellen Unterschiede beim Lernen in den Mittelpunkt und formuliert auf Basis einer Vielzahl an Forschungsstudien neun evidenzbasierte Grundprinzipien mit insgesamt 31 Unterpunkten, um im inklusiven Unterricht Lernbarrieren abzubauen (vgl. Hall, Meyer & Rose 2012). Vor dem Hintergrund eines weiten Inklusionsverständnisses soll auf differente Lernvoraussetzungen mit dem flexiblen Einsatz von Methoden und Medien reagiert werden. Zum einen, um die Lernmöglichkeiten aller Schüler:innen (und nicht einzelner Gruppen, z.B. mit sonderpädagogischem Förderbedarf) zu vergrößern, zum anderen, um den Unterricht adaptiv an die Lernvoraussetzungen anzupassen. Dahinter steht die Überzeugung, dass alle Lernenden von barrierefreier Unterrichtspraxis profitieren (vgl. Böttinger & Schulz 2021, S. 437).
Säule I: Multiple Möglichkeiten der Förderung von Lernengagement | Säule II: Multiple Mittel der Repräsentation von Informationen | Säule III: Multiple Mittel für die Informationsverarbeitung und die Darstellung von Lernergebnissen | |
Zugang | Mache verschiedene Angebote, um Lerninteresse zu wecken. | Biete Wahlmöglichkeiten bei der Perzeption. | Ermögliche unterschiedliche motorische Handlungen. |
Entwicklung | Biete Optionen für die Aufrechterhaltung von Anstrengung und Ausdauer. | Biete Wahlmöglichkeiten für Sprache und Symbole. | Biete verschiedene Optionen für Ausdruck und Kommunikation. |
Verinnerlichung | Biete Möglichkeiten und Unterstützung für selbstreguliertes Lernen. | Biete Wahlmöglichkeiten für das Verständnis. | Biete Wahlmöglichkeiten zur Unterstützung der exekutiven Funktionen. |
Digitale Barrieren abbauen – Das UDL diklusiv
In der schulischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass aktuelle Umsetzungen digitaler Lernumgebungen viele Schüler:innen einem Exklusionsrisiko aussetzen bzw. diese kategorisch ausschließen. Dies gilt zum Beispiel für Kinder und Jugendliche, die Unterstützung beim Aufrechterhalten der Motivation oder des selbstregulierten Lernens benötigen, deren Perzeption oder Informationsverarbeitung eingeschränkt ist, oder auch hinsichtlich sprachlicher und kommunikativer Fähigkeiten. Deutlich wird die Notwendigkeit einer digitalen barrierefreien Unterrichtspraxis in Verbindung mit der Chance, der Heterogenität der Schülerschaft begegnen zu können.
Hier kann ein diklusiver (digital-inklusiver) Ansatz als programmatische und systematische Verbindung von digitalen Medien und Inklusion zur Ermöglichung von Teilhabe durch, mit und an Medien in einem digital-inklusiven Unterricht (vgl. Böttinger & Schulz, 2021; Schulz, 2018) hilfreich sein. Im Fokus stehen dabei nicht die technischen Mittel, sondern die Schüler:innen sowie Fragen nach Passung und Anwendung im Unterricht.
Vor diesem Hintergrund wurde das oben beschriebene UDL von den Autor:innen dieses Artikels diklusiv interpretiert und für den Einsatz digitaler Medien im (inklusiven) Unterricht adaptiert. Für die drei Grundsäulen (vgl. Tab. 4.1.1) stehen jeweils die Frage nach den Chancen des Lernens mit digitalen Medien sowie nach Umsetzungsmöglichkeiten für digitale Medien im Rahmen des UDL im Fokus (vgl. Abb. 4.4.1).
Auf das Vorstellen konkreter Umsetzungsbeispiele oder das Nennen jeweils passender Apps wird in diesem Artikel verzichtet. Eine solche Sammlung findet sich in unserem Padlet zur Lernförderung mit digitalen Medien, das im Rahmen eines Workshops einer wissenschaftlichen Tagung entstanden ist und fortlaufend erweitert und aktualisiert wird. Das Padlet kann hier zum UDL diklusiv hier (DB01) aufgerufen werden.
Konkrete Einsatzmöglichkeiten des UDL diklusiv
Das UDL diklusiv folgt einem präventiv orientierten didaktischen Grundgedanken: Eine Intervention der Lehrkraft erfolgt nicht erst, wenn im Verlauf einer Unterrichtseinheit konkrete Hilfestellungen benötigt werden. Vielmehr liegt der Fokus von Beginn an auf verschiedenen Voraussetzungen, Zugängen und Bedürfnissen der Schüler:innen sowie unterschiedlichen Lern- und Aufgabenmöglichkeiten. Bereits bei der Planung und Vorbereitung von Einheiten und Einzelstunden sollen mögliche Stolpersteine identifiziert und umgangen werden. Die Leitfrage ist, was den Schüler:innen im Unterricht angeboten werden muss, damit alle erfolgreich teilnehmen und am Lerngegenstand arbeiten können. Dabei ist das UDL diklusiv als eine Art Bausatz zu verstehen: Für die Unterrichtsplanung können bei Bedarf einzelne Elemente bzw. Unterpunkte ausgewählt werden, es müssen aber keinesfalls alle Säulen bzw. Prinzipien berücksichtigt werden. Denn auch im herkömmlichen bzw. analogen Unterricht gibt es Möglichkeiten der Adaption und Individualisierung. Das UDL diklusiv soll einen herkömmlichen Unterricht nicht ersetzen, sondern diesen sinnvoll ergänzen, damit alle Schüler:innen Zugang zu Lerninhalten finden. Gleichzeitig dient es der Reflexion der eigenen Unterrichtspraxis.
Wie ein exemplarischer Einsatz in der Unterrichtspraxis aussehen kann, soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden. Ausgangspunkt ist das in der Grundschule häufig anzutreffende Thema Schreiben von Fabeln im Fach Deutsch. Im Folgenden werden einige mögliche Hilfestellungen aus dem UDL diklusiv näher beschrieben. Diese sind keinesfalls ausschließlich für den Primarbereich gedacht. Gerade in höheren Klassen erlaubt die in der Regel größere Selbstständigkeit der Schüler:innen eine breite Anwendung des UDL diklusiv.

Beispiele zum konkreten Einsatz des UDL diklusiv im Unterricht:
Hilfreich für alle Schüler:innen einer Klasse und/oder hilfreich für einzelne Schüler:innen und ihre Lernvoraussetzungen!
Selbstreguliertes Lernen unterstützen | Den Lernprozess durch den Einsatz von E-Portfolios und Feedbackmethoden im Sinne einer Selbstreflexion und durch das Darstellen des Lernfortschritts reflektieren (Säule I) Beispiel: Die Schüler:innen vermerken nach jeder Lerneinheit ihre selbst erkannten Fortschritte in einem interaktiven Buch. Aufgrund des Formates ist es möglich, neben textlichen Einträgen auch Fotos, Video- und Audioformate zur Dokumentation zu hinterlegen. |
Anstrengung und Ausdauer aufrecht erhalten | Transparenz der Lernziele und der Lernorganisation über Lernmanagement-Systeme erhöhen (Säule I) Beispiel: Das Lernziel „Ich schreibe eine eigene Fabel” wird für eine Schülerin in kleine Schritte geteilt. Diese Lernziele mit geringerem Umfang werden in eine digitale To-Do-Liste eingepflegt (z.B. To-Do-List oder ein Kanban-Board bei Cryptpad). Die Schülerin kann die einzelnen Schritte (z.B. “Überlege dir, welche Figuren vorkommen sollen.”) abhaken. |
Wahlmöglichkeiten für das Verständnis bieten | Hintergrundinformationen zur kognitiven Aktivierung und zum Bereitstellen weiterer Inhalte anbieten (Säule II) Beispiel: In einem Padlet (oder besser über TaskCards) werden Zusatzinformationen zu Fabeln zur Verfügung gestellt (Beispiel: DB04). |
Wahlmöglichkeiten für Sprache und Symbole bieten | Visualisierungen zum Erkennen von Syntax und Textaufbau einbauen (Säule II) Beispiel: Eine Fabel wird in Form eines interaktiven Inhalts angeboten. Eine Schülerin hat noch bedeutende Schwierigkeiten, Nebensätze zu verstehen. Aus diesem Grund werden ihr die Nebensätze in einem interaktiven Buch farbig hervorgehoben. Außerdem können die Konjunktionen (weil, dass, …) angeklickt werden, um eine nähere inhaltliche Erklärung zu erhalten. |
Wahlmöglichkeiten für Ausdruck und Kommunikation bieten | Verschiedene Arten von Kommunikation (unterschiedliche Darstellungen von Informationen und Antworten) zulassen sowie vielfältige Hilfen beim Erstellen einer Antwort anbieten (Säule III) Beispiel: Die Schüler:innen können sowohl eine Fabel selbst schreiben, als auch diktieren, nachspielen und zur Dokumentation videografieren oder ein Hörspiel erstellen. Die Schüler:innen können so ihre verschiedenen Kompetenzen unabhängig von ihren Schreib- und Lesekenntnissen einbringen. |
Wahlmöglichkeiten zur Perzeption bieten | Alternativen für visuelle sowie für auditive Informationen bereitstellen (Säule II) Beispiel: Es wird ein Hörspiel einer Fabel im Unterricht präsentiert. Das Hörspiel wird gleichzeitig in textlicher Form dargeboten, um diesem besser folgen zu können und es ggf. nochmals zur weiteren Bearbeitung im Nachhinein nachlesen zu können. |
Fazit
Das UDL diklusiv zielt zum einen auf die Erweiterung des Methodenspektrums zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht, ist aber zugleich eine Beschreibung von Unterstützungsmöglichkeiten. Außerdem ist es der Reflexion innerhalb eines eigenen digital-inklusiven Unterrichts dienlich. Zudem bietet es Möglichkeiten für die Unterrichts- und Schulentwicklung, da auch weiterhin neue, innovative Technologien ihren Weg in die Schule finden werden und ihren Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten können. Dass es notwendig ist, diese aufzugreifen, zeigen verschiedene Studien zur Nutzungsforschung (u.a. ICILS, Eickelmann et al. 2019), da der Umgang mit digitalen Medien für Kinder und Jugendliche Normalität und Teil der Lebenswirklichkeit geworden ist.
Schule kann und darf diese Aspekte nicht ignorieren, da ihr Auftrag auch darin besteht, Schüler:innen zu befähigen, selbstständig und gestaltend an der Gesellschaft teilzunehmen, die sich zunehmend mediatisiert und digitalisiert präsentiert. Nichtsdestotrotz ist eine gute digital-inklusive Didaktik (und damit auch der Einsatz des UDL diklusiv) in starkem Maße abhängig von der Lehrkraft, sowie deren Unterrichtsplanung, -evaluation und -anpassung. Wird dies berücksichtigt, bietet das vorgestellte Konzept eine Rahmung, um digitale Medien im Unterricht einzusetzen und zu reflektieren – nicht als Mittel zum Zweck, sondern als sinnvolle Erweiterung zu bereits erprobten Möglichkeiten.
Literatur
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021): Diklusive Lernhilfen – Digital-inklusiver Unterricht im Rahmen des Universal Design for Learning. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, 436-450.
CAST – Center for Applied Special Technology (2018): Universal Design for Learning Guidelines, Version 2.2. URL: DB05 (abgerufen am 03.06.2021)
Eickelmann, B.; Bos, W.; Gerick, J.; Goldhammer, F.; Schaumburg, H.; Schwippert, K.; Senkbeil, M. & Vahrenhold, G. (Hrsg.) (2019): ICILS 2018 #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster: Waxmann.
Hall, T.; Meyer, A. & Rose, D. H. (2012): An Introduction to Universal Design for Learning. Questions and Answers. In: Hall, T.; Meyer, A. & Rose, D. (Hrsg.): Universal Design for Learning in the Classroom. Practical Applications. New York: The Guilford Press, 1-8.
Petko, D. (2010): Lernplattformen, E-Learning und Blended Learning in Schulen. In: Petko, D. (Hrsg.): Lernplattformen in Schulen. Ansätze für E-Learning und Blended Learning in Präsenzklassen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 9-27.
Pilgrim, J. & Ward, A. K. (2017): Universal Design for Learning: A Framework for Supporting Effective Literacy Instruction. In: Curran, C.M. & Petersen, A.J. (Hrsg.): Handbook of Research on Classroom Diversity and Inclusive Education Practice. Hershey: IGI Global, 282-310.
Schulz, L. (2018): Digitale Medien im Bereich Inklusion. In: Lütje-Klose, B.; Riecke-Baulecke, T. & Werning, R. (Hrsg.): Basiswissen Lehrerbildung: Inklusion in Schule und Unterricht. Grundlagen in der Sonderpädagogik. Seelze: Klett/Kallmeyer, 244-367.