Lea Schulz & Igor Krstoski
Im letzten Jahrhundert wurden in der sonderpädagogischen Arbeit Leitbilder entwickelt, die heute noch Gültigkeit haben und Anwendung finden. In diesem Zusammenhang werden neben dem Normalisierungsprinzip (vgl. Franz & Beck 2016, S.102ff.) und der Selbstbestimmung (vgl. Schuppener 2016, S. 108ff.) auch das Konzept des Empowerments genannt. Rezipiert wurde dieser Begriff durch viele wissenschaftliche Disziplinen, weshalb es keine eindeutige Definition dieses Begriffs gibt. „Ein allgemein akzeptierter Begriff von Empowerment, der sowohl den wissenschaftlichen Diskurs als auch die psychosoziale Praxis verbindlich anleiten könnte, existiert nicht“ (Herriger 2014, S. 13).
Eine Annäherung an den Begriff und dessen Bedeutsamkeit kann über die Zielgruppe erfolgen. Als Ursprung des Empowerments werden Bürgerrechtsbewegungen ab den 1950ern in den USA genannt (vgl. Kulig & Theunissen 2016, S. 113f.). Hierbei standen marginalisierte Gruppen im Mittelpunkt (vgl. Kulig et al. 2011, S. 7). Das Empowerment-Konzept wendet sich ähnlich wie das Selbstbestimmungsprinzip gegen Praktiken der Fremdbestimmung, „ist aber ein umfassenderes Konzept“ (Weiß 2000, S. 251). Es wendet sich gegen paternalistische Entmündigungstendenzen durch wohlwollende Betreuungsmodelle.
„Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein kritisches Bewusstsein gegenüber einer einseitigen „Bedürftigkeits-Perspektive”, die Menschen ausschließlich mit ihren Nöten und Defiziten wahrnimmt und einordnet; denn damit würden ihre Rechte und — möglicherweise verdeckten — Kompetenzen und Selbstgestaltungskräfte leicht übersehen. Gerade sie gelte es im Sinne der Selbsthilfe und selbstbestimmten Gestaltung eigener Lebensräume zu stärken“ (ebd., S. 252).
Das Empowerment-Konzept wendet sich ähnlich wie das Selbstbestimmungsprinzip gegen Praktiken der Fremdbestimmung, „ist aber ein umfassenderes Konzept“ (Weiß 2000, S. 251).
Das heißt, dass man Empowerment als Praktiken der Selbstbemächtigung beschreiben kann, in denen einzelne Personen oder marginalisierte Gruppen „ihr Leben in die eigene Hand nehmen (Herv. d. Verf.) können“ (ebd., S. 251). Konkretisierend bedeutet dies, dass „Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen“ (Herriger 2011, S. 20).
Häufig werden mit dem Empowerment-Konzept drei Werte genannt, welche sich historisch entwickelt haben (vgl. Kulig & Theunissen 2016). Zu nennen ist hierbei die Selbstbestimmung auf der individuellen Ebene. „Im Sinne von Empowerment können sie umschrieben werden mit: Kontrollbewusstsein in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebens haben oder wieder erlangen, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln, um Ziele auch gemeinsam mit anderen — zu verwirklichen, mit Selbstrespekt und Selbstwürde in schwierigen Situationen wieder Boden unter die Füße kriegen und mit „aufrechtem Gang” weitergehen“ (Weiß 2000, S. 255).
Auf der Gruppenebene ist die kollaborative und demokratische Partizipation zu nennen. Im Kern geht es darum, dass Betroffenen in persönlich relevanten Entscheidungen Mitbestimmungsmöglichkeiten gewährt werden (vgl. Kulig & Theunissen 2016, S. 116).
Als letzter Wert ist die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit zu nennen. Hierbei geht es um eine faire und gerechte Verteilung von Ressourcen und Lasten. Damit ist die politische Dimension von Empowerment angesprochen (vgl. Weiß 2000, S. 255). Unter Ressourcen kann man materielle Mittel verstehen. Es geht aber auch um Zugangsmöglichkeiten zu Informationen (vgl. Kulig & Theunissen 2016, S. 116).
Digitale Medien sowie das Social Web können Empowermentprozesse initiieren. Insbesondere das Internet bietet hierbei neuartige Teilhabe- und Gestaltungspraktiken sowie Interaktionen, wie sie von Rappaport gefordert wurden. „Für ihre Bedürfnisse müssen wir neue Vorstellungen, Ideale und Konzepte entwickeln“ (Rappaport 1985, S. 269). Aufgrund der technologischen Weiterentwicklungen ergeben sich Möglichkeiten des Empowerments, welches auch als E-Empowerment (Amichai-Hamburger et al. 2008) bezeichnet wird.
Die Kultur der Digitalität kann Bedingungen schaffen, um ein E-Empowerment und daraus folgend Diklusion (E-Inklusion) zu ermöglichen.
Laut Schluchter und Niesyto kann die Arbeit mit digitalen Medien sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene Veränderungsprozesse freisetzen:
- „auf einer individuellen Ebene kann der aktive Umgang mit Medien vor allem im Bereich der Persönlichkeitsbildung wirksam werden, z. B. im Erkennen von Selbstwirksamkeit, von eigenen Stärken und Schwächen, im Entdecken und Erkunden neuer Handlungs-, Kommunikations- und Erfahrungsräume;
- auf einer gruppenbezogenen Ebene können über digitale Medien gemeinsame Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge geschaffen werden (…)
- auf einer sozialstrukturellen Ebene können digitale Medien dazu genutzt werden, aktiv an öffentlichen Kommunikationsprozessen teilzunehmen, um eigene Bedürfnisse, Themen, Befindlichkeiten zu artikulieren“ (Niesyto & Schluchter et al. 2013, S. 30f.).
Durch die Web-2.0-Technologie, bzw. das Social Web, auch Mitmachweb genannt, ergeben sich auch für Menschen mit Beeinträchtigungen Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks aber auch der kollaborativen bzw. politischen Partizipation. Insbesondere soziale Medien werden auch von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen für aufklärerische Zwecke genutzt und können ähnlich Betroffenen Handlungsoptionen bzw. Alternativen im Umgang mit (Alltags-)Belastungen etc. bieten.
In diesem Buch finden sich zwei Protagonistinnen, die über die sozialen Medien vertreten sind: Luisa Székely (vgl. Kap. 4.9) sowie Kathrin Lemler (vgl. Kap. 12). „Soziale Medien mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, sich zu vernetzen und Inhalte zu veröffentlichen und zu teilen, haben eine eigene Kultur des Empowerments und Austauschs befördert, eine disability culture online(Herv. d. Verf.), die sich in vielen Blogs, Twitter-Accounts und -hashtags (z. B. #behindernisse), YouTube-Kanälen und Facebook-Seiten niederschlägt, in denen nicht nur Aktivist*innen ihre Themen und Anliegen transportieren und so den öffentlichen Diskurs über Behinderung auf vorher nicht gekannte Art und Weise prägen“ (Bosse & Haage 2020, S. 531). Zu ergänzen sind noch Homepages von Eltern und Betroffenen als Experten in eigener Sache, aber auch Facebook-Gruppen, in welchen Empowermentprozesse stattfinden. Das Internet bietet für die Netzwerkarbeit einen niederschwelligen Zugang, jedoch haben nicht alle Personengruppen gleichermaßen Zugang zur teilnahmeermöglichenden Technologie. „Die angedeuteten Potenziale für Empowerment, mehr Teilhabe und Inklusion durch digitale Medien sind in der Realität bisher aber nur zum Teil eingelöst. (…) Digitale Technologien allein sind kein Schlüssel zur Inklusion, wenn nicht gleichzeitig strukturelle Barrieren angegangen werden“ (ebd., S. 532).
Besonders für die Lehrer:innenbildung existieren bisher kaum Konzepte oder Praktiken für die Umsetzung von Inklusion in der Kultur der Digitalität. Dazu gehört gleichwohl eine Netzwerkarbeit zum Aufbau von diklusiven Kompetenzen untereinander für die zunehmend komplexeren unterrichtlichen Herausforderungen. Außerdem ist ein Grundlagenwissen zur Arbeit mit digitalen Medien im heterogenitätssensiblen Unterricht auf allen Ebenen (vgl. Kap. 3.3 Ebenenmodell) eine wichtige Voraussetzung für alle Lehrämter.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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