Gestaltung neuer Ausbildungsangebote für Lehramtsstudierende
Elizabeth Watts & Clemens Hoffmann
Kurzbeschreibung
Eine zentrale Anforderung an Lehrende in den Naturwissenschaften war es schon immer, komplexe und abstrakte Konzepte zu vermitteln. Diese Herausforderung wird durch eine weitere ergänzt, wenn es um die Vermittlung dieser Inhalte in immer heterogeneren Lerngruppen geht. Dies erfordert die Entwicklung differenzierter Lehrpläne und die Schaffung individueller Lernzugänge, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden und sie dabei unterstützen, Autonomie beim Lernen zu entwickeln (European Agency for Development in Special Needs Education, 2012). Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und adaptiven Technologien (AT), welche häufig auch als interaktive Medien, digitale Werkzeuge und digitale Lernumgebungen bezeichnet werden, ermöglicht es Lehrkräften, personalisierte Lernangebote zu gestalten und trägt gleichzeitig zur Entwicklung von digitalen Kompetenzen bei allen Lernenden bei. Um dies zu gewährleisten, ist eine adäquate Lehramtsausbildung notwendig, die angehende Lehrkräfte darauf vorbereitet, nicht nur digitalen, sondern auch differenzierten Unterricht zu gestalten.
Ausgangslage
Die Bildungslandschaft verändert sich rasant und wird immer komplexer. Die bestehende Heterogenität in Lerngruppen wird dabei immer bewusster wahrgenommen. Dementsprechend muss im Unterricht immer stärker differenziert werden, damit Lernende unabhängig von ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, ihrer Muttersprache, ihrer kulturellen Herkunft u. a. m. gleichberechtigten Zugang zu Bildung haben. Gerade digitale Werkzeuge können Lehrende dabei unterstützen, ihren Unterricht leichter zu differenzieren.
Obwohl auf Landesebene an einem inklusiven und digitalen Bildungssystem gearbeitet wird (UNESCO Resolution for Inclusive Education in Germany, 2017; Digital Pakt Schule, 2019), sind die Themen Inklusion und Digitalisierung in aktuellen Lehramtsstudiengängen – gerade in den Naturwissenschaften – noch immer zu wenig berücksichtigt. Hier müssen entsprechende Lehr-Lern-Angebote geschaffen werden, die nicht nur an beiden Themen arbeiten, sondern diese auch zusammenführen. Zur Anpassung der Ausbildungsstrukturen stellen sich damit zwei Fragen. Inwieweit fühlen sich angehende Lehrkräfte tatsächlich in der Lage, digitale Werkzeuge zur Gestaltung eines differenzierten Unterrichts einzusetzen? Wie müssen Lehr-Lern-Angebote gestaltet sein, damit sie Lehramtsstudierende auf die Umsetzung digitaler und inklusiver Lehre vorbereiten sowie ihre Selbstwirksamkeit in diesem Bereich stärken?
Digital
Die Vorstellung, dass alle Studierenden sogenannte Digital Natives sind, hat sich als Mythos entpuppt (Kirschner & De Bruyckere, 2017). Darüber hinaus wird eine echte Digitalisierung im Sinne einer digitalen Transformation des Lehrens und Lernens nicht immer erreicht. Vielmehr wird sie häufig unter einer Art Digitalität verschleiert, die aber nur den Erwerb neuer Technologien beschreibt. Echte Digitalisierung erfordert hingegen eine angemessene Schulung der Lehrenden und der Lernenden im Umgang mit neuen Technologien bzw. digitalen Werkzeugen sowie die Implementation in didaktische Lernszenarien. So beschreibt es auch Hans-Jürgen Elschenbroich: „Zu einer erfolgreichen schulischen Digitalisierung gehört mehr als Geräte, PDFs und WLAN, es müssen die schulischen Lern- und Lehrprozesse neu gedacht und neu gestaltet werden.“ (Elschenbroich 2019). Dies ist besonders für Lehrkräfte des MINT-Bereichs wichtig.
„Der digitale Wandel vollzieht sich jedoch als gesamtgesellschaftliche Veränderung. MINT-Lehrkräfte sind daher gefordert, mit den rasanten technologischen Entwicklungen in der jeweiligen Fachwissenschaft, mit zunehmend vielfältigen Lehr-Lerntechnologien, aber auch mit sich wandelnden Informations- und Kommunikationswegen der Heranwachsenden Schritt zu halten.” (Huwer et al. 2019)
Inklusiv
Ähnlich verhält es sich beim Thema Inklusion. Trotz des weit verbreiteten Interesses am inklusiven Lehren und Lernen melden Lehramtsstudierende zurück, dass sie sich für das Unterrichten in einer „Schule der Vielfalt“ (KMK, 2015) nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Dabei ist bereits seit mehreren Jahren bekannt, dass der Erfolg von Inklusionsbestrebungen nicht nur von finanziellen Mitteln und Infrastruktur in den Schulen abhängt, sondern auch davon, wie gut Aus- und Weiterbildungsprogramme zukünftige Lehrer auf die Arbeit in inklusivem Unterricht vorbereiten (Demmer-Dieckmann 2007, Greiten et al. 2017). Es sind tiefgreifende Veränderungsprozesse mit dem Ziel inklusiver Bildung verbunden (Greiner et al., 2020). Der Erfolg dieser Prozesse hängt maßgeblich von der Umsetzungsbereitschaft der schulischen Akteur:innen ab (vgl. Langner 2015).
Gestaltung neuer Ausbildungsangebote
Deutschlandweit sind Kurse, die Themen schulischer Inklusion adressieren, nur für Lehramtsstudierende bestimmter Ausbildungsprogramme obligatorisch. Es ist daher zwingend erforderlich, neue Kurse zu entwickeln und zu testen, die zukünftige Lehrkräfte gezielt in der Anwendung digitaler Werkzeuge zur Differenzierung von Unterricht schulen.
Pilotstudie
Ein erster Versuch zur Stärkung des Lehramtsstudiums in Biologie, Chemie und Physik war die Durchführung des Kurses „Angewandte Naturwissenschaftsdidaktik“ im Wintersemester 2019/20. Teil dieses Kurses waren auch zwei Einheiten (je 90 min) zum digitalen sowie zum inklusiven Lehren und Lernen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Interviews mit Studierenden im Anschluss zeigten, dass: (1) sich die Studierenden einheitlich unvorbereitet fühlten, einen differenzierten Unterricht zu gestalten, und (2) zwei Einheiten nicht ausreichen, um Lehramtsstudierende angemessen auf diese Herausforderungen vorzubereiten. Was ihnen dabei am wichtigsten erschien, war die praktische Anwendung des erarbeiteten theoretischen Wissens. Daher wurden Mittel eingeworben, um ein anwendungs- und praxisorientierten Kurs-Angebot im Umfang von insgesamt 30 Stunden zu entwickeln.
Neues Lehr-Lern-Angebot
Finanziert durch die Akademie für Lehrentwicklung der Friedrich-Schiller-Universität Jena konnte ein digitales Klassenzimmer mit Smartboard (SurfaceHub) und Tablet-PCs (SurfaceGo) geschaffen werden. Parallel wurde ein Kurs-Angebot entwickelt, das Lehramtsstudierende im Umgang mit verschiedenen digitalen Werkzeugen schult. Dabei sollten die Studierenden eigenständig Möglichkeiten erkunden, wie diese Werkzeuge eingesetzt werden können, um den individuellen Bedürfnissen einer heterogenen Lerngruppe gerecht zu werden.
Schwerpunkte des Lehr-Lern-Angebots bildeten die kollaborative Nutzung von Smartboards und das Erstellen sowie der Einsatz digitaler 3D-Modelle und 360°-Videos in Kombination mit Virtual-Reality-Brillen. Diese Technologien bieten das Potential, den Zugang zu und die Visualisierung von komplexen naturwissenschaftlichen Inhalten für Lernende erheblich zu erleichtern. So können bspw. anatomische, zelluläre und molekulare Strukturen „greifbar“ gemacht werden.
Darüber hinaus ermöglicht der Einsatz digitaler Werkzeuge auch die Differenzierung von Arbeitsaufträgen hinsichtlich des Inhalts, des Prozesses und/oder des Produkts des Lernens. Im Kurs lernten die Studierenden deshalb nicht nur den Umgang mit digitalen Werkzeugen kennen, sondern setzten sich auch mit den Möglichkeiten auseinander, die ihr Einsatz zur Gestaltung eines interessanten, differenzierten, individualisierten und inklusiven Naturwissenschaftsunterrichts bietet.
Das Kursprogramm umfasste eine mehrwöchige Projektarbeit, bei der die Lehramtsstudierenden das erarbeitete, theoriebasierte Wissen sowie ihre ersten Erkenntnisse aus der eigenen Erprobung verschiedener Werkzeuge in konkreten Lernsituationen anwendeten. Dabei entstanden virtuelle Rundgänge, digitale Tool-Boxen und erste Unterrichtskonzepte, die die Studierenden in einer Abschlusspräsentation vorstellten. Über das Peer-Feedback konnten die Produkte noch weiter ausgeschärft und verbessert werden. Über den Link (NW01) sind alle Informationen zu einem studentischen Projekt (The Greatest Show on Earth) zu finden, in dem ein zweisprachiger virtueller Rundgang durch das örtliche Naturkundemuseum (phyletisches Museum) für Schüler:innen mit unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen entwickelt wurde.
Fazit
Digitale Bildung für Lehrer:innen der Naturwissenschaften ist nicht nur notwendig, um sie auf die zunehmende Digitalisierung ihrer Arbeitswelt vorzubereiten, sondern sie bietet auch neue Möglichkeiten, naturwissenschaftlichen Unterricht zu gestalten. Im Bereich der Digitalisierung liegt das Potenzial, Zugänge zum Lernen zu verändern und personalisiertes, individuelles Lernen zu ermöglichen, das an die Bedürfnisse jedes einzelnen Lernenden angepasst werden kann. Digitalisierung in diesem Sinne kann zu einem gerechteren und zugänglicheren Unterricht in den Naturwissenschaften beitragen.
Literatur
Bosse, S. & Spörer, N. (2014): Erfassung der Einstellung und der Selbstwirksamkeit von Lehramtsstudierenden zum inklusiven Unterricht. In: Empirische Sonderpädagogik 4, 279-299.
Demmer-Dieckmann, I. (2007): „Aus Zwang wurde Interesse”. Eine Studie zur Wirksamkeit von Seminaren zum Gemeinsamen Unterricht in Berlin. In: Demmer-Dieckmann, I. & Textor, A. (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. 20. Jahrestagung der Integrationsforschung im Februar 2006 in Rheinsberg bei Berlin. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 153-162.
Elschenbroich, H.-J. (2019): Digitalisierung oder Digitalität? In: MNU, 5.
Greiner, F.; Taskinen, P. & Kracke, B. (2020): Einstellungen und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Lehramtsstudierenden bezüglich inklusiven Unterrichts: Zusammenhänge mit Kontakterfahrungen und Grundlagenkenntnissen über schulische Inklusion. In: Unterrichtswissenschaft, 48(2), 273–295. URL (abgerufen am 04.11.2021).
Greiten, S.; Geber, G.; Gruhn, A. & Köninger, M. (2017): Lehrerausbildung für Inklusion. Fragen und Konzepte zur Hochschulentwicklung (Beiträge zur Lehrerbildung und Bildungsforschung, Band 3). Münster, New York: Waxmann.
Huwer, J.; Irion, T.; Kuntze, S.; Schaal, S. & Thyssen, C. (2019): Von TPaCK zu DPaCK – Digitalisierung im Unterricht erfordert mehr als technisches Wissen. In: MNU Journal, 72(5), 356–364.
Junker, R.; Zeuch, N.; Rott, D.; Henke, I.; Bartsch, C., & Kürten, R. (2020): Zur Veränderbarkeit von Heterogenitäts-Einstellungen und -Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Lehramtsstudierenden durch diversitätssensible hochschuldidaktische Lehrmodule. In: Empirische Sonderpädagogik 1, 45-63.
Kirschner, P. A., & De Bruyckere, P. (2017): The myths of the digital native and the multitasker. Teaching and Teacher Education, 67, 135-142. URL: NW03 (abgerufen am 01.11.2021)
KMK (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz. In: Kultusministerkonferenz & Hochschulrektorenkonferenz. Germany.
Koehler, M. J. & Mishra, P. (2009): What Is Technological Pedagogical Content Knowledge? In: Contemporary Issues in Technology and Teacher Education, 9(1), 60-71.
Langner, A. (2015): Kompetent für einen inklusiven Unterricht. Eine empirische Studie zu Beliefs, Unterrichtsbereitschaft und Unterricht von LehrerInnen. Wiesbaden: Springer VS. URL (abgerufen am 04.11.2021)

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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