AVIVA und SAMR – Modelle für eine erste Einordnung
Thorsten Groß
Studierende wie Referendar:innen bringen bereits unterschiedliche Vorerfahrungen mit zahlreichen digitalen Tools für den Präsenzunterricht ebenso wie für das Distanzlernen mit. In Begleitseminaren, die zeitweise ebenfalls in der Distanz stattfanden, lernten sie exemplarisch weitere Tools kennen; auch das vorliegende Buch bietet eine breite Palette an Ideen. Bei der Fülle von möglichen Tools sollten Seminare deshalb auch theoriebasiert Orientierung hinsichtlich der Fragen vermitteln, in welchen Phasen des Lernprozesses welche Tools geeignet sind und welches didaktische Potential sie beinhalten. Im Folgenden wird eine Seminarsitzung vorgestellt, die mit Studierenden im Praxissemester und mit Referendar:innen erprobt wurde.
Prozess-Struktur von (digitalen) Lernprozessen: Das AVIVA-Modell
Städeli et al. (2020) haben mit dem AVIVA-Modell eine kompetenzorientierte Phasenstruktur für die Unterrichtsplanung beschrieben, die auch für die Strukturierung digitaler Lernprozesse hilfreich erscheint und vielen Lehramtsstudierenden bereits aus Seminaren bekannt ist. Es bietet sich an, die fünf Phasen daraufhin zu untersuchen, wie ihre Funktion im Lernprozess durch digitale Tools abgebildet oder erweitert werden kann.
A – Ankommen und Einstimmen: Der Unterrichtsbeginn hat – insbesondere in sonderpädagogischen und inklusiven Settings – die Aufgabe, günstige motivationale und emotionale Voraussetzungen für den Lernprozess (wieder-)herzustellen. Meyer (2020) bezeichnet dies als Arbeitsbündnis zwischen Lehrkräften und Lernenden, das zu Beginn des Lernprozesses immer wieder aktualisiert werden muss. Im Präsenzunterricht geschieht dies beispielsweise durch Rituale, die eine Struktur und eine günstige Lernatmosphäre schaffen. Nach Meyer ist dieses Arbeitsbündnis insbesondere in Distanzlernprozessen fragil. Werden Lernangebote als (analoge oder digitale) Lernpakete oder Lernpfade gestellt, so erscheint es als wesentlich, zu Beginn des Lernangebots ein Beziehungsangebot zu machen. Im E-Learning wäre dies beispielsweise durch eine aufgezeichnete Audio- oder Videobotschaft der Lehrkraft möglich, welche die Schüler:innen zunächst auf einer persönlichen Ebene anspricht, bevor sie zu den Inhalten überleitet. Findet Unterricht als Videokonferenz statt, so sollte auch hier nach digital umsetzbaren Ritualen gesucht werden.
V – Vorwissen aktivieren: Lernen findet in einem konstruktivistischen Verständnis immer dergestalt statt, dass neue Inhalte mit dem Vorwissen verknüpft werden und neues Wissen damit aktiv konstruiert wird. Daher ist zu Beginn des Lernprozesses eine Einordnung und Kontextualisierung erforderlich, etwa durch die Konstruktion eines kognitiven Widerspruchs oder eines Lernproblems, das daraus entsteht, dass eine neue Fragestellung sich noch nicht mit dem Vorwissen beantworten lässt. In Präsenz hat diese Phase immer auch eine diagnostische Funktion, da die Lehrkraft hier Erkenntnisse über die Vorkenntnisse und mögliche Fehlvorstellungen von Lernenden erhält. Im Distanzlernen ist diese Phase ebenso erforderlich, jedoch ist hier eventuell die unmittelbare Rückkopplung mit der Lehrkraft erschwert. In der Umsetzung bieten sich für Schüler:innen, die über Schriftsprache verfügen, beispielsweise Tools an, mit denen sie ihr Vorwissen in einer Mindmap erfassen können. Aufgaben ohne Schriftsprache können z.B. darin bestehen, dass Schüler:innen im Distanz- oder im Präsenzunterricht mit digitalen Endgeräten Fotos vom Unterrichtsgegenstand aufnehmen und sammeln. Im Sachunterricht könnten sie zum Beispiel die Aufgabe erhalten, Frühblüher in ihrer Umgebung zu suchen und zu fotografieren. Die Fotos können dann in einer Lernplattform gesammelt werden.
I – Informieren: Im nächsten Schritt werden neue Informationen entweder von der Lehrkraft präsentiert oder von den Lernenden selbst gesammelt. Ersteres kann in digitalen Lernsettings beispielsweise durch Erklärvideos oder aufgezeichnete Präsentationen geleistet werden, für letzteres bietet das Internet frei zugängliche Informationen, für deren Nutzung die Schüler:innen gegebenenfalls erst die notwendigen Methodenkompetenzen erwerben müssen und ein Scaffolding benötigen.
V – Verarbeiten: Die so gesammelten Informationen werden nun mit dem aktivierten Vorwissen in Verbindung gesetzt, beispielsweise um eine gemeinsame Problemfrage zu beantworten. Digitale Medien erweitern hierbei das Spektrum möglicher Präsentationsformen erheblich, so könnten Schüler:innen beispielsweise einen Podcast aufnehmen, ein Erklärvideo selbst erstellen oder Lernplakate digital mit Tools wie Padlet oder Flinga gestalten. Gerade die beiden letztgenannten Tools eignen sich auch im Distanzlernen, um kooperativ in kleinen Gruppen Ergebnisse zu erstellen.
A – Auswerten: Diese Phase dient dazu, Ergebnisse zu präsentieren, zu diskutieren und Feedback zu geben, aber auch, den gemeinsamen Lernprozess zu reflektieren. Findet Distanzlernen asynchron statt, könnte hier beispielsweise eine Peer-Feedback-Funktion genutzt werden, wie sie in Lernmanagement-Systemen wie itslearning vorhanden ist. Gleichzeitig zeigen sich nach Auffassung des Verfassers hier aber auch Grenzen des asynchronen Distanzlernens – eine Diskussion in einem Internetforum ist nicht gleichwertig mit einer Diskussion, in der sich die Beteiligten (zumindest virtuell) in die Augen sehen können.
Die Darstellung zeigt, dass sich das AVIVA-Schema neben der Unterrichtsplanung auch eignet, um den zeitlichen Ablauf von digitalen und Distanz-Lernprozessen zu strukturieren und um digitale Tools nach möglichen Zeitpunkten für ihren Einsatz zu sortieren.
Didaktische Zugewinne durch digitale Tools
Neben dieser zeitlichen Struktur stellt sich die Frage der Qualität von digital gestalteten Lernprozessen. Eine Orientierung kann hier das SAMR-Modell nach Puentedura (2006) geben, das vier Qualitätsstufen der Nutzung digitaler Medien im Unterricht diskutiert.
Substitution: Auf der ersten Stufe der Umsetzung ersetzen technische Hilfsmittel bisherige Unterrichtsmedien, ohne dass dabei eine funktionale Verbesserung gegeben ist. Allein die Repräsentation ändert sich, wenn beispielsweise ein Buch auf dem Tablet statt auf Papier gelesen wird, oder wenn Schüler:innen im Distanzunterricht ein eingescanntes Arbeitsblatt per E-Mail statt per Post erhalten.
Augmentation: Fast bei allen digitalen Tools zeigt sich, dass selbst wenn sie lediglich eine zuvor auf Papier gestellte Aufgabe ersetzen, auch ein funktionaler Zugewinn vorhanden ist. Wenn Schüler:innen einen Text mit einem Textverarbeitungsprogramm verfassen, können sie ihn beispielsweise immer wieder überarbeiten oder eine Rechtschreibprüfung verwenden, was beim Arbeiten mit Papier und Stift nicht möglich wäre. Ähnliches gilt, wenn Arbeitsblätter in bearbeitbarer statt gescannter Form vorliegen, oder Texte als Hypertext aufbereitet werden. Dennoch bleiben bei diesem Einsatz digitaler Medien die Aufgabenformate zunächst unverändert, sodass der Zugewinn hier auf einer eher methodischen Ebene liegt und weniger auf der didaktischen Ebene.
Modification: Aufgaben werden so umgestaltet, dass sie den Einsatz digitaler Medien erfordern und dass deren Möglichkeiten explizit genutzt werden. Wenn eine Klasse im Fremdsprachenunterricht per E-Mail oder Chat mit Native Speakers in Kontakt tritt, entstehen beispielsweise reale Kommunikationsanlässe, die ohne Medien nur schwer möglich wären.
Redefinition: In der höchsten Entwicklungsstufe entstehen Aufgabenformate, die ohne den Einsatz digitaler Medien undenkbar gewesen wären. Digitale Simulationen oder digitale Medien, die von Schüler:innen selbst als Produkt des Unterrichts erstellt werden, sind an dieser Stelle als Beispiele zu nennen.

Zusammenfassend können nach Puentedura zwei Modi des Unterrichtens mit digitalen Medien unterschieden werden, unabhängig davon, ob dies im Distanz- oder im Präsenzunterricht geschieht. Werden Medien im Sinne der Substitution oder der Augmentation eingesetzt, werden bisher gekannte und bewährte Methoden durch digitale Medien nachgebildet und ggf. funktional verbessert. Im Bereich der sonderpädagogischen Förderung kann diese Stufe eine Teilhabe an einem ansonsten unveränderten Unterricht überhaupt erst ermöglichen, wenn zum Beispiel im Rahmen der Inklusion Lernhindernisse durch den Einsatz von Medien überwunden werden (z. B. durch einen Screenreader). Demgegenüber stellen die Stufen der Modification und Redefinition Chancen für eine sehr viel weitergehende Unterrichtsentwicklung dar, die auch neue Möglichkeiten für differenzierende und individualisierende Aufgaben für die Umsetzung der Inklusion bietet.
Umsetzung im Seminar
Die beiden dargestellten Modelle waren Inhalt von Seminaren für Studierende im Praxissemester sowie für Referendar:innen. Beide Lerngruppen waren Anfang 2021 bereits sowohl aus eigenen Lernprozessen wie auch aus eigenen Unterrichtserfahrungen mit vielen Formen digitalen Lehrens und Lernens vertraut. Die Seminare fanden als Videokonferenzen statt, die durch kollaborative Tools unterstützt wurden. Die Seminargestaltung folgte den Phasen des AVIVA-Modells.
Durch das längerfristige Wegfallen von Präsenzveranstaltungen seit Frühjahr 2020, blieben auch bei den erwachsenen Lernenden das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Möglichkeiten des Austausches unbefriedigt, wenn nicht im Rahmen der Onlineveranstaltungen explizit Möglichkeiten dazu geschaffen wurden. In der Phase des Ankommens der Seminare wurden hierzu zum Beispiel Blitzlichtrunden und themenoffene Breakout-Rooms genutzt.
Das Vorwissen der angehenden Lehrkräfte wurde durch ein ungeordnetes Brainstorming zu digitalen Tools aktiviert, das durch Tools wie Padlet oder Flinga kooperativ visualisiert wurde. Die Phase des Informierens erfolgte in diesem Fall durch eine kurze Folienpräsentation der Inhalte des vorliegenden Buchkapitels. In der Phase des Verarbeitens erhielten die angehenden Lehrkräfte die Aufgabe, die bereits bekannten digitalen Tools anhand der beiden vorgestellten Modelle zu systematisieren. Das Ergebnis sollte ein Lernplakat sein, das in einem beliebigen Format erstellt werden durfte, z.B. PowerPoint, easynote, Padlet, Flinga und ZUMPad. In der Phase des Auswertens wurden die Plakate in einer Videokonferenz vorgestellt und diskutiert, außerdem wurden sie in der Lernplattform hochgeladen und standen damit als Arbeitsmittel auch weiterhin zur Verfügung.
Das folgende Beispiel fasst unterschiedliche Arbeitsergebnisse zusammen und verdeutlicht, dass die Studierenden bzw. Referendar:innen mit den vorgestellten theoretischen Bezugspunkten eine Systematisierung des Vorwissens erreichen konnten. Die Tabelle soll es ermöglichen, in Abhängigkeit von didaktischen Absichten geeignete digitale Medien für die einzelnen Unterrichtsphasen auszuwählen und jeweils bewusst eine bestimmte Stufe des SAMR-Modells umzusetzen. Der Vergleich der Einordnung der verschiedenen Tools war darüber hinaus ein Diskussionsanlass im Seminar, der deutlich machte, dass ein bestimmtes Tool je nachdem, wie es eingesetzt wird, durchaus unterschiedlichen Qualitätsstufen digitalen Unterrichtens genügen kann.
Beispiel für ein Ergebnis
Modification / Redefinition | Moodboard | digitale Umfragen oder Quizzes, z.B. mentimeter oder kahoot! kollaborative Mindmaps oder Kartenabfragen | Sofatutor Recherche im Internet Lernapps wie bettermarks | Erstellen digitaler Medien, z.B. Blogs, Videos, Podcasts interaktive Simulationen | Peer Reviews in Lernplattformen Veröffentlichen von Projektergebnissen, Austausch mit Lerngruppen aus anderen Schulen |
Substitution / Augmentation | Rituale in Videokonferenzen Begrüßungsvideos Breakout-Rooms zum Austausch | Bilder, Audios und Videos als Impulse | Erklärvideos Digitale Quellen, Texte, Abbildungen | interaktive Arbeitsblätter Mediennutzung beim Erstellen von Texten | digital unterstützte Präsentationen von Ergebnissen, Videokonferenzen, PowerPoint/Keynote |
Ankommen | Vorwissen aktivieren | Informieren | Verarbeiten | Auswerten |
Die Fülle der digitalen Werkzeuge, die für den Distanz- und Präsenzunterricht zur Verfügung stehen, macht eine Systematisierung erforderlich, um sie gezielt und theoriegeleitet einsetzen zu können. Die Erfahrung in Seminaren der Lehrkräfteausbildung hat gezeigt, dass das AVIVA-Modell (Städeli et al. 2020) und das SAMR-Modell (Puentedura 2006) gut handhabbare Modelle sind, die diesen Zweck erfüllen. In inklusiven Settings sind dabei Kriterien guter sonderpädagogischer Förderung als Querschnittsaspekt grundsätzlich mitzudenken, wie hier exemplarisch in der Phase des Ankommens oder in der Umsetzung der Augmentation aufgezeigt wurde.
Literatur
Meyer, H. (2020): Didaktische Maßstäbe für Homeschooling in Corona-Zeiten. Unterricht gestalten, URL (abgerufen am 25.08.2021)
Puentedura, R. (2006): Transformation, Technology, and Education. URL (abgerufen am 25.08.2021)

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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