Oder wie hochschulübergreifende Lehre Horizonte erweitern kann
Stephanie Wolf & Belinda Berweger
Betrachtet man die Herausforderungen, denen die Lehrer:innenbildung gegenübersteht, dann kann von neu oder aktuell eigentlich keine Rede mehr sein, wenn wir über – Digitalisierung und Inklusion sprechen. Sie sind fester Bestandteil des Bildungsauftrags für eine inklusive Gesellschaft in der Kultur der Digitalität. Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland und die bildungspolitische Wegweisung der KMK „Bildung für eine digitale Welt“ aus dem Jahr 2016 sind zwar vielzitierte Boten des Aufbruchs in eine neue Zeit, – kommen allerdings vielerorts mit einer ausbleibenden Durchschlagskraft in die umfassende curriculare Neugestaltung der Studiengänge im Lehramt daher.
Wenn der Rahmen für die universitäre Lehrer:innenbildung blinde Flecken in diesen Themenbereichen aufweist und zum Teil nur durch die Haltung und die persönlichen Interessen der Lehrenden Eingang in das Studienangebot findet, dann ist das Gebot der Stunde, diese Lücken zu nutzen und gemeinsam mit den Studierenden den Weg zu neuen Ufern zu beschreiten. Die Autor:innen arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie des Instituts für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gemeinsam entwickelten Sie als Lehrenden-Tandem das Seminarkonzept „digital und inklusiv: differenziert Unterrichten mit digitalen Medien“.
Das Seminar als inklusiver Erprobungsraum: Gemeinsam lernt es sich besser
Lehrer:innenbildung verstanden als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Professionsverständnis bedeutet für Studierende, wie auch für die an der Ausbildung beteiligten Hochschullehrenden aus Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften und Sonderpädagogik, Erfahrungsräume zu öffnen und zu betreten. Zum Herausbilden eines inklusiven Professionsverständnisses und einer auf Kollaboration ausgerichteten Arbeitsweise sollten Studierende im Lehramt bereits im Rahmen der universitären Ausbildung die Chance erhalten, schulformübergreifend Lehrveranstaltungen zu besuchen. Gemeinsam zu bearbeitende praxisnahe Aufgaben fördern das Verständnis für die Expertise des Gegenübers und verhindern Fehlvorstellungen in Bezug auf die fremde Profession.
Im Hinblick auf den Arbeitsalltag gilt die Kooperation verschiedener Professionen als unabdingbar, um der Diversität der Lernenden gerecht zu werden und inklusiven Unterricht zu gewährleisten (vgl. Lütje-Klose et al. 2018). In diesem Sinne können schulformübergreifende Lehr-Lernsettings in der universitären Lehrer:innenbildung als Fundament für eine gemeinsame Schulentwicklung zum Wohle der Schüler:innen verstanden werden.
Das in diesem Beitrag vorgestellte hochschulübergreifende Seminarprojekt bot sowohl Lehramtsstudierenden der Universität Jena (Lehramt für Regelschule und Gymnasium) als auch Studierenden der Universität Erfurt (Grundschullehramt und Sonderpädagogik) die Möglichkeit sich jenseits der eigenen Schulform zu orientieren. In zwei Semestern begaben sich insgesamt mehr als 50 Studierende auf den Weg, ein gemeinsames Verständnis inklusiver Lehr-Lernangebote zu entwickeln und dieses in der Praxis an selbst gewählten Unterrichtsthemen entsprechend der Thüringer Lehrpläne umzusetzen.
Das Seminar als digitaler Erprobungsraum: Online Lernen und Lehren
Das Seminarprojekt „digital und inklusiv: differenziert Unterrichten mit digitalen Medien“ wurde nicht nur wegen der räumlichen Trennung der Lernenden als digitaler Erprobungsraum konzipiert (zwischen den Universitäten Jena und Erfurt liegen 40 km), sondern auch, weil es nicht ausreicht über digitale Tools und deren Einsatz zu reden. Praktiken einer Kultur der Digitalität zu erproben und zu reflektieren bedarf einer Auseinandersetzung im virtuellen Raum. Die Studierenden sollten Chancen und Herausforderungen zeit- und ortsunabhängiger digitaler Lehr-Lernangebote aus der Perspektive der Lernenden erfahren und aus der Perspektive der Lehrenden reflektieren.
Aus diesem Grund war das Seminarprojekt bereits als Blended Learning Angebot angekündigt, bevor die durch die Corona-Pandemie erfolgte Schließung von Schulen und Universitäten und der erforderlichen Umstellung der Lehr-Lernszenarien auf rein digitale Angebote erfolgten. Inhaltliches Ziel des Seminarprojekts war es, digitale Tools auf den Prüfstand zu stellen und ihren Einsatz als Werkzeug zur Individualisierung und Differenzierung von Unterrichtseinheiten zu erproben, wie auch zu beurteilen. Unter Individualisierung und Differenzierung werden unterrichtsmethodische Maßnahmen verstanden, mit denen die Lernsituation so gestaltet wird, dass sie unterschiedlichen Lernbedürfnissen einzelner Schüler:innen oder Gruppen gerecht wird und ihre Potenziale bestmöglich fördert (vgl. Schaumburg & Prasse 2018).
Die Studierenden sollten nicht nur die Chance erhalten, sich neues Wissen zu den Themen Digitalisierung und Inklusion anzueignen, sondern auch digitale Arbeitstools zur kollaborativen Zusammenarbeit zu erproben. Neben den „neuen Standards“ wie virtuellen Meetings per Zoom, Arbeit in Breakout-Sessions und kollaborativer Textarbeit wurden durch das Lehrenden-Tandem Tools wie Oncoo, Conceptboard, Cryptpad, Mailnudge und wonder.me vorgestellt sowie didaktisch eingebunden.
Das Seminar als didaktischer Erprobungsraum: Toolfeuerwerk vs. Kompetenzerweiterung
Die Studierendengruppen wählten zu Beginn des Seminars ein digitales Tool aus und erhielten den Auftrag, eine Unterrichtseinheit unter Berücksichtigung von inklusionstheoretischen (z.B. Bereitstellung unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen der Aufgaben) und mediendidaktischen (z.B. Ermöglichung eines multimodalen Zugangs von Lerninhalten) Fragen zu gestalten. Insbesondere sollten die Studierenden hierbei mit ihrer Tool-Brille prüfen, ob der Einsatz des digitalen Tools differenzierten Unterricht ermöglicht und wie das realisierbar ist. Anders als bei der herkömmlichen Unterrichtsplanung, bei der didaktische Fragen im Vordergrund stehen, sollten die Studierenden ihr Tool austesten und Chancen sowie Herausforderungen für den Einsatz in heterogenen Lerngruppen reflektieren. Dabei standen Tools wie z.B. simpleshow, thinglink, padlet, bettermarks, LearningApps, Quizlet sowie H5P-Anwendungen wie Flashcards, Interactive Book, Essay und Interactive Video zur Auswahl.
Als theoretisches mediendidaktisches Bezugsmodell diente das 4K-Modell, das die Förderung kritischer, kollaborativer, kommunikativer und kreativer Kompetenzen von Lernenden ins Zentrum stellt (vgl. Muuß-Merholz 2017). Das 4K-Modell war einerseits für die Studierenden Ausgangspunkt und Maßstab zur Erarbeitung ihrer praktisch zu erprobenden digitalen Unterrichtseinheiten, gleichzeitig war es aber auch für das Lehrenden-Tandem handlungsleitend zur Gestaltung des Seminars (z.B. für die Planung der Gruppendiskussionen und –arbeiten).
Nach den theoretischen Inputs, die in Selbstlernangeboten asynchron erarbeitet und im Rahmen der 14-tägigen virtuellen Präsenztreffen diskutiert wurden, begann die Arbeit der Studierenden, die sich in Dreier- bis Viererteams sowohl auf ein Unterrichtsfach als auch ein Themengebiet, sowie die Lernziele für den Einsatz der zu erstellenden digitalen Unterrichtseinheit, einigen mussten. Ziel des Seminars war es demnach nicht, jede Woche ein neues Tool zu erproben und das Semester mit einem unüberschaubaren Werkzeugkasten zu beenden. Vielmehr lag der Fokus darauf, dass die Studierenden durch die Beschäftigung mit ein- und demselben Tool und der Erstellung der digitalen Unterrichtseinheit das theoretische Wissen in die Praxis umsetzen und dadurch das theoretische Verständnis vertiefen.
In Abbildung 11.1.1 ist eine Übersicht des Seminarplans dargestellt und zeigt wie das Seminarprojekt aufgebaut ist.

Das Seminar als prozessbegleitender Erprobungsraum: Feedback als Wegweiser
Im Sinne eines Feedforward-Verständnisses (Hattie 2013, S.210), das prozessbegleitend Einfluss auf die weitere Ausgestaltung des Lernprozesses hat, stand formatives Feedback im Fokus der didaktischen Planung. Als transparentes Vorgehen haben wir die Rückmeldungen der Studierenden zu unserer Seminarkonzeption immer wieder aktiv eingefordert und gemeinsam mit ihnen digitale Tools zur Erhebung dieser Rückmeldungen erprobt und reflektiert. Besonders vor dem Start in die gemeinsame Gruppenarbeitsphase war es für uns wichtig zu wissen wo sich die Studierenden individuell verorten. Hierfür haben wir die Zielscheibe des Tools Oncoo, eingesetzt (vgl. Abb. 11.1.2).

Die Entwicklung der digitalen Unterrichtseinheiten wurde außerdem durch einen zweiteiligen Feedbackprozess begleitet. Als formatives Feedback haben die Studierenden das Tool „Gegenseitige Beurteilung“ im Rahmen des Lernmanagement-Systems Moodle genutzt, um erstens Rückmeldungen zu den entwickelten Unterrichtseinheiten zu geben. Zweitens erstellten Studierende Blog-Beiträge, die als Reflexionsprodukt dienten. Auch hierzu erhielten sie Rückmeldungen. Jede Studierendengruppe erhielt auf diese Weise zu jeder Seminarleistung bis zu sechs Peer-Feedbacks und zwei Lehrenden-Feedbacks. Beide Seminarleistungen konnten im Anschluss von den Studierenden noch einmal überarbeitet werden, bevor das Projektergebnis eingereicht werden musste.
Das hochschulübergreifende Seminar als Chance des Austauschs
Das Durchlaufen der unterschiedlichen Erprobungsräume und der prozessbegleitende Charakter des Seminars haben dazu beigetragen, dass das gemeinsame schulformübergreifende Lernen einen intensiven Austausch im Hinblick auf inklusive Haltungsfragen und die spezifischen Expertisen der Studierenden ermöglicht hat. Die Studierenden betonten, wie wichtig es für sie war, bereits in der universitären Ausbildung das Potenzial der multiprofessionellen Kooperation erleben zu können, denn „allein kann man es nicht schaffen”. Der Fokus auf eine prozessbegleitende Feedbackkultur hat uns als Lehrende aber auch die Studierenden entlastet und gleichzeitig zu einer qualitativen Steigerung der Projektergebnisse beigetragen. Außerdem bot das Seminarprojekt die Möglichkeit eines „pädagogischen Doppeldeckers“ (vgl. Wahl 2013), der Lehramtsstudierende einerseits in die Rolle der Lernenden versetzt, aber andererseits immer wieder die Perspektive eröffnet: was heißt das für mich als zukünftig lehrende Person? Frei nach dem Motto „Practice what you preach” erscheint uns für zukünftige Lehrformate zu den Rahmenbedingungen Digitalisierung und Inklusion wichtig, offen für Neues zu sein und im Sinne der Kongruenz im Seminar selbst umzusetzen, was man den Studierenden vermittelt. Damit ergibt sich die Chance Erprobungsräume zu eröffnen, in denen wir alle voneinander lernen können.
Reingehört: Wenn Sie mehr über das Seminar erfahren wollen – dann hören Sie Belinda Berweger im Gespräch mit Marcus Berger in Folge 13 der #werkstattgespräche (TO13), dem Podcast der Erfurter Lernwerkstatt.
Literatur
Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Schneider: Hohengehren.
Lütje-Klose, B.; Neumann, P.; Gorges, J. & Wild, E. (2018): Die Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements (BiLieF) – Zentrale Befunde. DDS – Die Deutsche Schule, 110(2), 109–123. URL (abgerufen am 05.10.2021)
Muuß-Merholz, J. (2017): Die 4K-Skills. Was meint Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration, Kommunikation? URL (abgerufen am 6.9.2021)
Schaumburg, H. & Prasse, D. (2018): Medien und Schule. Theorie – Forschung – Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Wahl, D. (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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