Igor Krstoski & Lea Schulz
Harvighurst bezeichnet alterstypische Herausforderungen, „deren Realisierung die Gesellschaft von den Jugendlichen erwartet und die die Jugendlichen auch […] akzeptieren“ (Seiffge 2007, S. 204f.) als Entwicklungsaufgaben. Typische Aufgaben im Jugendalter sind u.a. emotionale Unabhängigkeit vom Elternhaus, angemessenes Körperkonzept, Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen sowie Vorbereitung auf einen beruflichen Werdegang (vgl. Oerter & Dreher 2002, S. 270). Diese Übergänge vom Jugend- ins Erwachsenenalter kann man auch als normative Entwicklungsaufgaben bezeichnen. „Sie gehen mit entwicklungsbezogenen, kontextuellen Aufgaben und Erwartungen von Familie, Freunden und Gesellschaft sowie mit veränderten internalen Ansprüchen einher“ (Beyer & Lohaus 2007, S. 12).
Daher sollten im Unterricht verschiedene Lebensbereiche angesprochen werden, die spezifisch für die/den einzelne:n Schüler:in von unterschiedlicher Bedeutung sind. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Sexualerziehung, selbstständige Lebensführung (vgl. Bergeest 2002), lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2018), Freizeit (vgl. Markowetz 2014), aber auch das Thema Berufliche Bildung und Erwerbsarbeit (vgl. Lelgemann 2005), bei denen sonderpädagogische Expertise (vgl. Kap. 3.6) im Übergang zum Beruf eine wichtige Rolle spielt.
Die Transitionsprozesse von Schule in das Arbeitsleben/Beruf erweisen sich als komplexes Unterfangen. Insbesondere in Bezug auf Inklusion in der beruflichen Bildung gab es seit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) Ausläufer der schulischen Veränderungen gleichfalls in die Berufsbildung. Das Recht auf chancengleiche Bildung, Arbeit und Beschäftigung werden in der UN-BRK gefordert, für die die Vertragsstaaten die Voraussetzungen im Bildungssystem herstellen müssen (vgl. Art. 24 und 27 UN-BRK 2008).
Im Jahr 2011 wurde dann durch den Nationalen Aktionsplan beschlossen: „Im Rahmen des NAP wurden insbesondere mit der „Initiative Inklusion“ sowie der „Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung“ auch Aktivitäten auf den Weg gebracht, die das Ziel verfolgen, dass sich der Anteil der betrieblichen bzw. möglichst betriebsnahen Ausbildung von jungen Menschen mit Behinderungen erhöht“ (vgl. BMBF 2017, S. 79). Dennoch wurden die Vorgaben besonders in der beruflichen Bildung zunächst nicht oder nur teilweise in die Umsetzung gebracht (vgl. Biermann 2015, S. 19), findet sich jedoch zunehmend auch in den Schulgesetzen der Länder wieder (vgl. Zoyke 2016, S. 1).
Das Verständnis von Inklusion ist ebenso in der beruflichen Bildung nicht eindeutig – sodass die Maßnahmen sich teilweise auf Menschen mit Behinderung oder andererseits auf alle Menschen im Sinne des weiten Inklusionsbegriffs beziehen (vgl. Zoyke 2016, S. 1).
Exemplarischfür den enggefassten Begriff sei hier der Bereich Körperlich und motorisch Entwicklung, z.B. durch Moosecker (2008, S. 154) zu nennen: „Das Feld der Berufsvorbereitung und die Situationen der Arbeitswelt für Menschen mit einer Körperbehinderung umfassen keine einfachen Bedingungen und Konstellationen. Sowohl von Menschen mit Körperbehinderung, als auch von Lehrkräften und Eltern, Rehaberatern und Mitarbeitern nachschulischer Rehaeinrichtungen wird das zu Recht immer wieder beklagt“). Strukturelle Bedingungen wie beispielsweise verschiedene Zuständigkeiten unterschiedlicher Institutionen können zu Schwierigkeiten führen (vgl. Heger & Laubenstein 2014, S. 194).
Nach dem eng gefassten Inklusionsbegriff lässt sich im folgenden Schaubild (vgl. Abb. 10.1) das Spektrum der Bildungspläne der Schüler:innen von Förderschulen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und deren weitere Bildungsverläufe wiederspiegeln. Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, „dass die vollständige statistische Erfassung von Förder- bzw. Integrationsschüler/innen als eigenständige Gruppe nach Abschluss ihrer Pflichtschulzeit endet“ (Jochmaring 2019, S. 342), was zum einen natürlich dem der Umsetzung von Inklusion zugute kommt, jedoch auch hier gleichzeitig das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma (vgl. Füssel & Kretschmann 1993) wieder aufgreift und verdeutlicht, da ohne eine Zuweisung (Etikettierung) die Ressourcen für die Förderung in der Berufsbildung schwer zugewiesen werden können, da von einer flächendeckenden Versorgung durch Sonderpädagog:innen in der Berufsbildung nicht zwingend ausgegangen werden kann. Dies hat auch zur Folge, dass Bildungsverläufe der genannten Personengruppe nicht leicht nachvollziehbar sind. „Zur Nachverfolgbarkeit in Sekundärstatistiken und den weiteren Erhalt spezieller Fördermaßnahmen ist die Kategorisierung als Schwerbehinderte(r) oder Rehabilitand:in notwendig, da ansonsten die Betroffenen in den Segmenten Berufsvorbereitung und Berufsausbildung als Kategorielose aus den Statistiken verschwinden und nicht mehr auffindbar sind.“ (vgl. ebd.).
Für die Gruppe der Schwerbehinderten im Sinne des SGB IX gibt es Erhebungen. Dank dieser Statistiken können Benachteiligungen aufgezeigt werden. Hierbei ist die Erwerbsquote ein geeigneter Parameter, um auf die Bedeutsamkeit einer beruflichen Ausbildung aufmerksam zu machen. „Die tatsächliche Ausgrenzung wird erst deutlich, wenn man sich die Erwerbsbeteiligung behinderter und nichtbehinderter Menschen (Herv. d. Verf.) im Vergleich anschaut. […] 2005 lag die Erwerbsquote von schwerbehinderten Frauen bei 23% im Vergleich zu 53% bei nicht behinderten Frauen, bei schwerbehinderten Männern bei 30% im Vergleich zu 71% bei nicht behinderten Männern“ (Doose 2012, S. 87).
Auf nachfolgenden Schaubild fehlen als mögliche nachschulische Institutionen Tagesförderstätten, bzw. Förder- und Betreuungsbereich, Tagesstätten oder auch Arbeitsfördergruppen genannt. Zielgruppe sind „Menschen mit Behinderungen […], die nicht im Arbeitsbereich der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen beschäftigt werden können […] wenn ein außerordentlicher Pflegebedarf besteht und kein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbracht werden kann“ (BAGüS 2021, S. 45). Hierunter fallen Absolvent:innen von Förderschulen mit den Schwerpunkten geistige oder körperlich-motorische Entwicklung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe nennt in aktuellen Statistiken ca. 316 000 Personen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen oder in Tagesförderstätten beschäftigt sind, davon ca. 37 500 Personen in letztgenannten Institutionen (vgl. ebd., S. 31f.).

Des Weiteren sollte das Spektrum der Berufsvorbereitung sich gleichwohl auf den weitgefassten Inklusionsbegriff beziehen. Sowohl die berufliche Ausbildung und vorherige Berufsorientierung sollten diversitätssensibel stattfinden und benachteiligte junge Menschen besonders in den Fokus nehmen, sie unterstützen und Barrieren vermindern. Im Fachdiskurs wird eine notwendige System- und Strukturveränderung gefordert, z.B. um Bildungsketten zu etablieren oder das regionale Übergangsmanagement auszubauen, um allen Menschen vielfältige Wege zu einer anerkannten Berufsausbildung zu ermöglichen. Die Berufsausbildung trägt einen wichtigen Part zur Teilhabe an der Gesellschaft und für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit bei (vgl. zusammenfassend Bylinski 2015, S. 10f.).
Hierfür sollte ebenfalls ermöglicht werden, dass es eine am Individuum orientierte Ausgestaltung von Bildungswegen geben sollte, um allen Menschen Zugänge zu einer Berufsausbildung und damit zur Arbeitswelt zu ermöglichen (ebd., S. 11). Ein Perspektivwechsel ist vonnöten, um den Blick von dem jeweiligen Merkmal (einer Behinderung, Migrationshintergrund, Lernbeeinträchtigung, psychische Beeinträchtigung, …) hin zum Individuum zu lenken und einen Paradigmenwechsel in der Berufsausbildung zu erlangen und den jungen Menschen „Bildungsstrukturen und -angebote herzustellen, die allen Menschen die gleichen Chancen eröffnen, ohne eine notwendige spezifische Unterstützung und Förderung außen vor zu lassen.” (Bylinski 2015, S. 14).
Im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung gibt es viele methodisch-didaktische Herangehensweisen: Gestaltung diverser Praktika, Schüler- bzw. Übungsfirmen sowie Experteninterviews (vgl. Lelgemann 2005). Darüber hinaus hat sich die persönliche Zukunftsplanung mit Unterstützerkreisen als gute Methode etabliert, um den Übergang von Schule ins Arbeitsleben zu gestalten. Unter Unterstützerkreisen werden neben den betroffenen Schüler:innen in der Berufsschulstufe auch deren Freunde, Eltern sowie Vertreter:innen beteiligter Institutionen verstanden. „Wichtig für die Angehörigen ist eine Übersicht über Organisationen und Institutionen und Informationen darüber, wo welche Information zu finden ist“ (Adler & Wicki 2012, S. 211).
Wie bereits aufgezeigt wurde, kann sich der Übergang Schule – Beruf sehr komplex gestalten. Im Rahmen der persönlichen Zukunftsplanung können digitale Medien eingesetzt werden. Gleichzeitig dienen jedoch auch die unterrichtlichen Funktionen z.B. als Assistive Technologien oder zur Individualisierung oder Kollaboration im Lernprozess der Unterstützung der benachteiligten Schüler:innen bei der beruflichen Ausbildung oder Orientierung. In einem kurzen Aufriss soll im folgenden Kapitel der Bereich der Diklusion in der Beruflichen Bildung dargestellt werden.
Auch in der Forschung wurde Inklusion und Digitalisierung im Rahmen der Förderrichtlinie „Inklusion durch digitale Medien in der beruflichen Bildung” durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt, um Menschen mit Behinderung beim Erlernen und Ausführen einer langfristigen beruflichen Tätigkeit zu unterstützen. Hieraus sind zahlreiche Projekte entstanden, die einen Eindruck zukünftiger Optionen von Technik im Rahmen von Benachteiligung zur Verfügung stehen werden.
Nils Lion (vgl. Kap. 10.1) zeigt in seinem Beitrag, wie eine barrierefreie und digitale Möglichkeit der Praktikumsbegleitung aussehen kann. Mit der App Book Creator dokumentieren und reflektieren Schüler:innen Erlebnisse in ihrem Betriebspraktikum durch Fotos, kurzen Texten, Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten und Audioaufnahmen. Leila Mekacher arbeitet an der SRH in Neckargmünd. Dort können berufliche Ausbildungen an einem Berufsbildungswerk absolviert werden. In ihrem Beitrag werden die Potenziale immersiver Lernumgebungen im Sinne von Augmented und Virtual Reality an einem Berufsbildungswerk vorgestellt (vgl. Kap. 10.2).
Literatur
Adler, J. & Wicki, M. (2012): Die Zukunftsplanung von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrer Angehörigen unterstützen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 5, 208-214.
Bergeest, H. (2002): Die Balance von Stabilität und Instabilität - Didaktische Grundlagen des Unterrichts mit körperbehinderten Kindern. In: Boenisch, J. & Daut, V. (Hrsg.): Didaktik des Unterrichts mit körperbehinderten Kindern. Stuttgart: Kohlhammer, 3-19.
Beyer, A. & Lohaus, A. (2007): Konzepte zur Stressentstehung- und Stressbewältigung im Kindes- und Jugendalter. In: Seiffge-Krenke, I. & Lohaus, A. (Hrsg.): Stress und Stressbewältigung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe, 11-30.
Biermann, H. (2015): Berufliche Teilhabe – Anspruch und Realität. In: Biermann, H. (Hrsg.): Inklusion im Betrieb. Stuttgart: Kohlhammer, 17-56.
Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) (2021): Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe 2021. URL (abgerufen am 06.11.2021)
Bylinski, U. (2015): Vielfalt als Ressource und Chance für gemeinsames Lernen und Entwicklung. In: Bylinski, U.; & Vollmer, K. (Hrsg.): Wege zur Inklusion in der beruflichen Bildung, Wissenschaftliche Diskussionspapiere, 162. Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn, 7-30, URL (abgerufen am 06.11.2021).
Doose, S. (2012): Unterstützte Beschäftigung: berufliche Integration auf lange Sicht. Theorie, Methodik und Nachhaltigkeit der Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine Verbleibs- und Verlaufsstudie. Marburg: Lebenshilfe-Verlag.
Europäische Kommission (2018): Empfehlung des Rats am 22. Mai 2018 zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen. URL (abgerufen am 11.11.2021).
Füssel, H.-P. & Kretschmann, R. (1993): Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Bonn: Witterschlick.
Heger, M.; Laubenstein, D. (2014): Berufliche Bildung und Arbeit. In: E. Fischer (Hrsg.): Heilpädagogische Handlungsfelder. Grundwissen für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer (Heil- und Sonderpädagogik), 186–205.
Lelgemann, R. (2005): Vorbereitung auf die nachschulische Lebenssituation und das Arbeitsleben – eine komplexe Herausforderung für die Schule. In: Bieker, R. (Hrsg.): Teilhabe am Arbeitsleben. Wege der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 100-116.
Markowetz, R: (2014): Freizeit im Leben von Menschen mit Behinderungen. In: Fischer, E. (Hrsg.): Heilpädagogische Handlungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer, 230-250.
Moosecker, J. (2008): Berufsvorbereitung und Arbeitswelt. In: Jennessen, S. (Hrsg.): Leben geht weiter. Neue Perspektiven der sozialen Rehabilitation körperbehinderter Menschen im Lebenslauf. Weinheim, München: Juventa, 154–176.
Oerter, R. & Dreher, E. (2002): Jugendalter. In: Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz, 258-318.
Jochmaring, J. (2019): Übergänge von Schüler*innen mit sonderpädagogischem
Förderbedarf in die Berufsausbildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 65(3), 335-354
Seiffge, I. (2007): Alltagsbewältigung und chronische Krankheit. In: Seiffge-Krenke, I. & Lohaus, A. (Hrsg.): Stress und Stressbewältigung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe, 204-217.
Zöller, M.; Srbeny, C. & Jörgens, J. (2016): Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42m HwO für Menschen mit Behinderung und ReZA-Qualifikation für das Ausbildungspersonal Eine Sachstandsanalyse. Bonn. URL (abgerufen am 11.11.2021)

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Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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