Die fürsorgliche Fee und die drei selbstbestimmten Wünsche
Kathrin Lemler
„Dieser fiese Sonnenstrahl“ denke ich. Er kitzelt mich in der Nase und nimmt keine Rücksicht darauf, was für ein voller Tag vor mir liegt. Jetzt bin ich jedenfalls wach und werfe einen Blick auf den Kalender an der Wand:
8:00-9:30h | Seminar an der Universität zu Köln – Einführung in die Unterstützte Kommunikation |
10:00-13h | Teamsitzung mit meiner Kollegin Anna – Aktueller Stand im Forschungsprojekt |
14:00-15:30h | Fbzuk – UK-Erstberatung für ein vierjähriges Mädchen mit schwerer Cerebralparese |
16:00-17:00 | Jogging mit Kolleginnen |
17:30-18:00h | Dienstplanung für AssistentInnen – Juni |
18:15h | Erinnerung: Mail an UK-Quasselstrippen bez. nächstem Austausch-Chat |
18:30h-? | Kochen und Gin trinken mit Sara |
Trotz der frühen Stunde muss ich schmunzeln: „Es wird heute ein verdammt cooler Tag!“
Ich räkele mich und drehe mich auf die andere Seite. Mitten in der Bewegung halte ich verblüfft inne. Auf meinem Schreibtisch sitzt etwas. Ungläubig reibe ich mir die Augen, träume ich etwa noch.
Das Etwas oder halt, ich erkenne nun, dass es sich wohl um eine Sie handelt, lässt die Beine über die Schreibtischkante baumeln, stützt lässig ihren Kopf auf die Hände und starrt mich direkt an: „Na, auch endlich wach?“
Ich zucke vor Schreck zusammen.
„Nein, du träumst nicht.“ beantwortet das kleine Wesen meine Gedanken.
„Und ja, ich kann deine Gedanken lesen.“
Sie springt auf und läuft an der Schreibtischkante entlang, während sie weiterspricht: „Mein Name ist Lucy, gerade habe ich an der Feen-Akademie mein theoretisches Examen mit Bravour bestanden. Nun fehlt mir zum Abschluss nur noch eine praktische Prüfung. Herzlichen Glückwunsch, das Bewertungskomitee hat für den Test meiner Feenfertigkeiten dich ausgewählt.“
Ich bin und bleibe verwirrt: „Halluziniere ich? Eins steht fest – ich habe heute keine Zeit für sowas.“ Sofort rufe ich meine Assistentin. Wie jeden Tag steht die Morgenroutine an. Zunächst geht’s ins Bad. Fast habe ich Lucy schon wieder vergessen.
Gerade lasse ich mir von meiner Assistentin die Zähne putzen, als ich Lucy auf dem Badezimmerschränkchen entdecke: „Ich habe dir noch nicht erklärt, was für unglaubliches Glück du hast. Die praktische Prüfung besteht nämlich darin dir die drei berühmten Wünsche zu erfüllen. Es geht bei dir ja ganz schnell.“
Lucy spricht weiter, während sie ihren Daumen in die Höhe reckt: „Wunsch 1 – Laufen können.“
Ihr Zeigefinger schnellt hoch: „Wunsch 2 – sprechen können.“
Finger Nummer drei richtet sich auf: „Wunsch 3 – Dinge selbst machen können. Und ehe wir uns Versehen sind wir beide froh: du hast ein ganz normales Leben. Und ich, ich habe endlich mein ersehntes Feenexamen, kann raus in die Welt und Menschen glücklich machen.“
Lucy hüpft vor Freude in die Höhe und stößt dabei den Zahnpastadeckel vom Schränkchen.
„Huch“, ruft meine Assistentin, „spukt’s hier etwa?“
Zunächst grinse ich, dann begreife ich Lucys Worte und schüttele energisch meinen Kopf: „WAS? Laufen? Sprechen? Alles machen? Habe ich da noch ein Vetorecht?“
Nervös rutsche ich in meinem Rollstuhl hin und her und versuche mich krampfhaft zu erinnern, wie das mit den Feenwünschen in Märchen so war. Soweit ich weiß, hat die Fee nicht über die Wünsche zu entscheiden.
„Wie du wünscht dir nicht laufen, sprechen und alle Dinge selbst tun zu können?“ entrüstet stemmt Lucy ihre Hände in die Hüften. „Das glaube ich dir einfach nicht. Du möchtest etwa weiterhin in diesem Wagen durch die Gegend geschoben werden?“ Sie hüpft auf die Armlehne meines Rollstuhls.
Ich nicke.
„Du möchtest etwa weiterhin deinen Mitmenschen mühsam Buchstabe für Buchstabe alles, was du sagen möchtest, übermitteln?“
Wieder nicke ich – diesmal heftiger.
Die Fee fällt in sich zusammen, schüttelt frustriert ihren Kopf und seufzt: „Und du möchtest auch nicht so Dinge wie Zähneputzen selbst machen können?“
Ich sehe Lucy in die Augen und nicke sehr langsam. „Auch wenn das jetzt sehr leicht wäre – ich möchte mir meine Behinderung nicht wegwünschen.“
Aus vor Wut funkelnden Augen schaut mich Lucy an: „Das fasse ich nicht! Du schlägst diese einmalige Chance aus!? Du wählst lieber ein Leben voll körperlicher Probleme, Abhängigkeit von anderen und alltäglichen Herausforderungen, als mich drei Mal Schnipsen zu lassen?“
Während mich meine Assistentin an meinen Arbeitsplatz schiebt und meine Augensteuerung hochfährt, erkläre ich Lucy: „Mein Leben besteht nicht nur aus Problemen, Abhängigkeiten und Herausforderungen! Klar, manche Dinge sind für mich nicht so einfach, wie für andere. Dennoch: Ich mag dieses Leben – mein Leben – nicht gegen ein anderes eintauschen! Meine Behinderung hindert mich jedoch nicht daran das Leben zu führen, das ich gerne möchte. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass ich ohne Behinderung ein ganz anderer Mensch geworden wäre. Die Kathrin, die jetzt existiert, hätte es nie gegeben – wie schade!“
Ungläubig runzelt Lucy die Stirn. Plötzlich erstarrt sie und lässt traurig den Kopf hängen: „Ich hab’s vermasselt!“
Meine Assistentin bringt mir eine dampfende Tasse Kaffee: „Möchtest du schon?“
Ich nicke abwesend und frage Lucy: „Was hast du vermasselt?“
„Na, meine praktische Abschlussprüfung.“ Seufzend zitiert sie: „Feengesetz §3 Absatz 1/2: Es ist unabdingbar die Selbstbestimmung des Wünschlings zu respektieren. Das bedeutet, dass die Wünsche vom Wünschling selbst geäußert und formuliert werden müssen. Die Fee ist dazu angehalten den Wünschling bei der Formulierung der Wahl seiner Wünsche nach Besten Wissen und Gewissen zu unterstützen. Jedoch ist es der Fee ausdrücklich untersagt eigenmächtig Wünsche für den Wünschling zu äußern – auch wenn die Fee damit fürsorgliche Absichten verfolgt.”
Wütend stampft das kleine Wesen mit dem Fuß auf: „Wie konnte ich nur? Auf diesem Gesetz fußt das gesamte professionelle Feen-Business. Vielleicht ist das hier alles doch nichts für mich. Vielleicht gehöre ich doch in das verstaubte Weihnachtsmannbüro und bin Tag ein Tag aus dazu verdammt Wunschzettel zu digitalisieren…“
Aus Lucys Auge kullert eine Träne. Jetzt habe ich Mitgefühl. „Ach, ich glaube ja noch nicht, dass du eine schlechte Fee bist. Du bist in einer Prüfungssituation, da tut man schon mal komische Dinge… Außerdem verstehe ich, dass du dachtest, ich würde mir meine Behinderung wegwünschen – das tun nämlich fast alle Leute, die mich das erste Mal treffen.“
„Du bist mir also nicht böse, dass ich deine Wünsche fremdbestimmen wollte?“ Lucy hebt den Kopf und wischt sich mit dem Handrücken die Träne weg.
„Solange ich dich noch davon abhalten konnte dir diese Wünsche für mich zu wünschen… Schwamm drüber!“
Sichtbar erleichtert atmet Lucy auf.
„Kann ich dir denn irgendwie helfen deine Prüfung doch noch zu bestehen?“ frage ich sie.
„Kannst du mir zunächst erklären, warum du dir nicht das wünschst, was ich gedacht habe? Ich möchte diesen Fehler nicht noch einmal machen!“
„Also,“ fange ich an. „Ein Leben ohne Behinderung wäre anders. Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich immer: Hätte ich so viel Geduld mit anderen Menschen? Bestimmt würde ich ständig ungeduldig an die Decke gehen. Hätte ich so viel Optimismus, Mut zum Kämpfen und Durchhaltevermögen? Wohl weniger, ich würde diese Fähigkeiten einfach nicht in dieser Form brauchen. Würden mich dieselben Menschen begleiten?“
Bei dieser Frage schüttelt Lucy langsam und nachdenklich den Kopf: „Es wären andere Menschen gewesen, die du getroffen hättest. Es wären andere Geschichten, die du erlebt hättest. Es wäre ein anderes Leben gewesen, das du gelebt hättest.“
Ich schmunzele und nicke leicht: „Ob ein Leben ohne Behinderung gut gewesen wäre? Das weiß ich nicht. Jedoch wird mir jetzt klar, dass es etwas gibt, was ich beurteilen kann: Mein jetziges Leben. Ich denke an all die tollen Erfahrungen, die ich machen durfte. Ich denke an meine Arbeit für die Unterstützte Kommunikation. Mit diesem Bereich habe ich eine Nische gefunden, in der meine Behinderung kein Nachteil ist, sondern mir eine zusätzliche Perspektive bietet. Mehr kann ich mir doch nicht wünschen!“
„Stimmt.“ gibt Lucy zu. „Aber die Arbeit ist doch nicht alles. Wie sieht es mit anderen Lebensbereichen aus? Was ist mit deiner Freizeit? Möchtest du dich nicht mal so richtig beim Sport so richtig auspowern?“
„Ist Paragliding in den österreichischen Alpen nicht aufregend genug?“ frage ich grinsend.
„Eigentlich schon. Und was ist mit deinem Alltag? Möchtest du nicht mal alleine einkaufen, kochen… Halt ganz normale Dinge tun?“ Lucy geht auf meiner Armlehne hin und her.
„Ich kann ganz normale Dinge tun. Ich brauche dafür nur Unterstützung. Entscheiden tue ich alles so selbst. Das ist mir wichtig.“
Ich halte einen Moment inne, dann gluckse ich: „Und auf so Dinge wie Klo putzen oder bügeln kann ich getrost verzichten.“
Nun muss Lucy auch Lachen: „Du bist wirklich glücklich, oder?“
Ein Strahlen huscht über mein Gesicht: „Oh ja, ich bin glücklich. Genauso wie ich bin. Ich bestimme über mein Leben. Ich habe Menschen um mich, die mich schätzen – einige von ihnen lieben mich sogar. Mein Leben macht für mich rundum Sinn – ich will daran nichts verändern!“
„Oh, da hätte ich dich tatsächlich mit meinen fürsorglichen Wünschen unglücklich gemacht?“ nachdenklich setzt sich Lucy.
„Du hättest mir einen Teil meiner Persönlichkeit genommen. Aber es ist ja nochmal alles gut gegangen… Hey, Kopf hoch! Wie kann ich dir jetzt helfen deine Prüfung zu bestehen?“
„Naja,“ druckst Lucy herum. „Eigentlich ist es ja ganz einfach! Ich muss dich nur dazu kriegen dir drei Sachen zu wünschen, die wirklich von dir kommen.“
„Drei selbstbestimmte Wünsche also… Ich wünsche mir erstens, dass ich kein Einzelfall mehr bin – jeder Mensch mit Bedarf an Unterstützter Kommunikation sollte selbstverständlich von klein auf Zugang zu einem individuellen alternativen Kommunikationssystem bekommt. Ich wünsche mir zweitens, dass das gesamte Umfeld dieser Person darin geschult wird, dieses individuelle Kommunikationssystem anzuwenden und weiterzuentwickeln. Und ich wünsche mir drittens, dass Menschen ohne Lautsprache selbstverständlich als ein volles Mitglied der Gesellschaft akzeptiert wird, mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“
„Stopp, stopp, stopp“, ruft Lucy. „Ich habe vergessen zu sagen, dass du dir nur Sachen für dich selbst wünschen darfst. Versuch es nochmal.“
„Och manno,“ nörgele ich. „Aber ok, sonst hätte ich ja keine Lebensaufgabe mehr.“
„Also, was wünscht du dir nur für dich?“ fragt Lucy ungeduldig.
Nach einigen Augenblicken antworte ich: „Erstens wünsche ich mir, dass ich mich noch sehr lange für Dinge begeistern und diese Begeisterung auch anderen Menschen vermitteln kann.“
Da schnipst Lucy tatsächlich mit den Fingern: „Wunsch 1 – erfüllt!“
„Zweitens wünsche ich mir, dass ich immer Menschen habe, mit denen ich lachen und weinen kann.“
Dieses Mal schnipst Lucy ziemlich laut: „Und da war es nur noch ein letzter Wunsch!“
„Als letztes wünsche ich mir, dass mein Vorrat an Kaffee nie versiegt und dass ich so stets genug Energie für all meine Projekte habe.“
„Wow, auf diese Wünsche wäre ich nie gekommen. Danke für diese Lehrstunde. Lucy verbeugt sich. Dann schnipst sie das dritte Mal in die Finger – noch lauter und heftiger.
Ich zucke zusammen.
„Also, heute spukt’s hier aber wirklich!“ stellt meine Assistentin fest.
Ich schmunzele entspannt.
Plötzlich merke ich, dass Lucy verschwunden ist.
„Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Feen-Examen! Ich hoffe du machst noch viele Menschen glücklich.“ denke ich, während ich mein Mail-Programm öffne und mich in die Arbeit stürze.
Autorinnenbeschreibung
Fremde beschreiben Kathrin Lemler (1985) mit den Worten schwerbehindert oder in allen Lebensbereichen erheblich eingeschränkt. Freunde und Kolleginnen beschreiben sie als quirlige Quasselstrippe oder als ehrgeizigen Workaholic. Sie selbst beschreibt sich als Doktorandin der Universität zu Köln, Referentin für Unterstützte Kommunikation, Chefin von sieben Assistentinnen und ganz nebenbei auch als eine Frau, die ausschließlich mit den Augen spricht.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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