Individualisierung und Differenzierung in inklusiven Lerngruppen bedarf der Innovation und Kreativität. So unterschiedlich die Bedarfe der einzelnen Lernenden sind, so individuell ist die Lernumgebung zu gestalten. Bislang nutzten pädagogische Fachkräfte hierzu primär analoge Lehr- und Arbeitsmittel, wie z.B. vergrößerte Arbeitsblätter, individuell zusammengestellten Arbeitsmappen mit farblich markierten Strukturierungshilfen und auf den Unterrichtsinhalt abgestimmte Merkplakate und -karten.
Aufgrund der Pandemie und der damit einhergehenden Phasen des Distanz- und Wechselunterrichts mussten jedoch unvermittelt neue Formate gefunden werden. Dies war in einer ohnehin schon belastenden Situation mit einem erhöhten Mehraufwand verbunden, galt es sich doch in eine Vielzahl unterschiedlicher digitaler Anwendungen einzuarbeiten. Zugleich bedurfte es der Entwicklung von Ideen zur Umsetzung eines inklusiven Unterrichts und (sonder-)pädagogischer Förderung in Distanz.
Eingeübte inklusive Praktiken erfuhren wurden zunächst oft eine digitale Anpassung und Ergänzung digital angereichert. Als Beispiele seien genannt:
- Bereitstellung von Lernangeboten in unterschiedlichen Repräsentationsformen, bspw. auf interaktiven Pinnwänden mit Feedbackmöglichkeiten für Lernende,
- multimediale Lernumgebungen, die den Lernenden im jeweiligen Lernmanagement-System individuell angeboten werden können,
- Unterstützung beim Erfassen von Aufgabenstellungen durch Vorlesefunktion, Größen- und Kontrastveränderung der Schrift mittels Browsererweiterungen, wie EasyReading oder Bedienungshilfen der Endgeräte, z.B. für iPad.
Viele dieser innovativen Ideen für inklusive Lernsettings wurden ausprobiert, gesammelt und geteilt. Sie sind ebenso vielfältig, wie die Strukturen inklusiver Bildungssysteme in sechzehn Bundesländern es sind. Je nach Gegebenheiten vor Ort zeigt sich ein unterschiedlicher Einsatz diverser Professionen mit jeweils eigenen Zuständigkeits- und Aufgabenbereichen.
Zu nennen sind hier exemplarisch: Lehrkräfte für allgemeine Pädagogik und sonderpädagogische Förderung, pädagogische Fachkräfte in multiprofessionellen Teams, Mitarbeiter:innen in Beratungs- und Unterstützungszentren und Schulbegleiter:innen oder Pädagog:innen in der schulischen Assistenz. Bereits hier offenbaren sich gleichwohl in den Bundesländern unterschiedlich verorteten Begrifflichkeiten, die sich ebenfalls in ihrer Vielfalt in diesem Band niederschlagen. Die Anforderungen an die Lehrkräfte in transdisziplinären Teams unterscheiden sich je nach Setting erheblich (bspw. Einzelförderung im Distanzunterricht, Unterricht in einem inklusiven Lernangebot oder Formen der kollaborativen Lern- und Entwicklungsplanung). Hieraus ergeben sich Konsequenzen für den Einsatz digitaler Anwendungen.
Im Austausch mit Kolleg:innen wird derzeit eine gemeinsame Erfahrung sichtbar: Der Prozess gestaltet sich nicht als geradlinig. Vielmehr ist dieser durch Sprünge gekennzeichnet. Rückschläge sind zu verarbeiten und alternative Optionen müssen gefunden werden. Es besteht vielfach der Wunsch nach eindeutigen Vorgaben. Andere hingegen möchten hingegen an ihren z. T. selbst erarbeiteten und eingeübten Abläufen festhalten.
Aus der Perspektive der Lehrkräfte heraus ergeben sich zudem weitere Herausforderungen: Beispielsweise führen die Bundesländer (neue) Lernmanagement-Systeme ein, die die bisher genutzten interaktiven Pinnwände ersetzen; bundesweite und landesweite Plattformen zum Materialaustausch werden auf- und ausgebaut, Lehrkräfte erhalten dienstliche Endgeräte, Lernende bedürfen der Einweisung in die Nutzung der Endgeräte und Tools u.v.m. Erschwerend kommt hinzu, dass die Rahmenbedingungen vor Ort nicht zwingend verlässlich sind. Aufgrund der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der Entscheidungsträger (z.B. Ministerium, obere und untere Schulaufsicht, Schulträger …) bei der Digitalisierung, ergeben sich verschiedene Voraussetzungen, die sich auf entsprechende Infrastruktur der einzelnen Schule auswirken. Zu nennen sind hier Verzögerungen des WLAN-Ausbaus an Schulen, die ausreichende Versorgung mit Endgeräten, der Einrichtung von First und Second Level Support, der Bereitstellung von Software und Tools und Fort- sowie Weiterbildung der Lehrkräfte.
Zeitweilig müssen daher Übergangslösungen gefunden werden. Improvisationen kosten Kraft und Zeit. Hierunter leidet u.U. die Motivation zur Weiterentwicklung des eigenen Aufgabenbereichs. Dies ist Ausdruck des Innovationsprozesses und kann als Weiterentwicklung des Bildungsbereichs verstanden werden. In dieser Zeit des Wandels bedarf es Verständnis und Unterstützung. Daraus folgend ergeben sich weitere Fragen für die inklusive Unterrichtspraxis: Wie können Lernmanagement-Systeme auf die Bedarfe der Schüler:innen angepasst werden? Wie lassen sich digitale Bildungsinhalte für die Lernbedürfnisse einzelner individualisieren? Welche Einstellungen sind bei den Endgeräten im Hinblick auf besondere Bedarfe der Schüler:innen empfehlenswert? Wie können Schüler:innen den Umgang mit Endgeräten und Tools einüben? Wer kann Beratung in diesen Fragen anbieten? U.v.m.
Die Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz sieht den o.g. Bedarf an Unterstützung zu Beantwortung der u. a. oben aufgeworfenen Fragestellungen aus der Praxis. In ihrer Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Strategie der Kultusministerkonferenz Bildung in der digitalen Welt nennt sie zu fördernde Bereiche, wie
- lernbegleitende Diagnostik, Feedback und Entwicklung von Lern- und Fördermaterialien zur Förderung von Schüler:innen mit (sonder-)pädagogischem Unterstützungsbedarf (SWK 2021, S. 16, 25),
- Möglichkeiten zur kollaborativen multiprofessionellen Förderplanung durch kollaborative Plattformen (ebd., S. 20),
- barrierefreie Zugänge zu digitalen Technologien (ebd., S. 24),
- Verfügbarkeit inklusiver Bildungsangebote und Materialien (ebd., S. 24),
- Entwicklung digitaler Werkzeuge zur Abdeckung und Erschließung von Bildungsinhalten für unterschiedliche Anforderungsniveaus (ebd., S. 25) und
- systematischen Verknüpfung von Wissenschaft und schulischer Praxis mit dem Ziel der Entwicklung von Modellen sowie digitaler Tools durch den Aufbau länderübergreifender Strukturen, wie Forschungs- und Entwicklungscluster (ebd. S. 25).
Bereits vorher gab es Angebote zur Unterstützung der Lehrkräfte. Exemplarisch sind hier in diesem Zusammenhang zu nennen:
- Entwicklung von Plattformen zur Lernverlaufsdiagnostik, wie Levumi,
- Bereitstellung von datengeschützten Plattformen zur kollaborativen multiprofessionellen Planung sonderpädagogischer Förderung, z. B. Digitale Lern- und Entwicklungsplanung in Logineo NRW LMS,
- barrierefreie Zugänge zu Bildungsmediatheken, z. B. Planet Schule und Mundo Schule
- Ausbau von bundes- und landesweiten Austauschplattformen digitaler Bildungsinhalte, wie WirLernenOnline, Mebis.Bayern teachSHARE,
- Angebot von Anpassungen von Lernmanagement-Systeme an unterschiedliche Bedarfe bei Logineo NRW und Differenzierungsmöglichkeiten für mebis.Bayern
- Zusammenstellung interaktiver Lernangebote für verschiedene Anforderungsniveaus, veröffentlichte Materialien und Medien auf den Seiten des Landesbildungsserver Baden-Württemberg.
Es bedarf der finanziellen Ressourcen, geeigneten Strukturen und Vernetzungen der Ebenen, Institutionen und Personen, die zum Gelingen beitragen, damit die Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft gesichert ist. Diese oben genannten Bedingungen nimmt man in der Vielzahl der Perspektiven und kann als Bereicherung für die eigene Praxis verstanden werden: Was lässt sich übertragen? Welche Ansätze sind lohnenswert?
Die Autor:innen in diesem Buch teilen ihre Arbeitsergebnisse und Erfahrungen und tragen dazu bei digitale Medien und Inklusion gemeinsam zu denken und weiterzuentwickeln.
Literatur
Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK, 2021): Stellungnahme zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie Bildung in der digitalen Welt. Bonn/Berlin.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Diklusive Lernwelten” – ein Gemeinschaftswerk von 51 Autor:innen, das zeigt, wie digitale Medien die Inklusion wirklich aller Schüler:innen im Unterricht fördern kann. Mit vielen Erfahrungsberichten und Tipps direkt aus der Praxis!
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