Christof Arn & Dagmar Frohning
Wir möchten mit diesem Kurzbeitrag ein paar Denkanstöße im Spannungsfeld zwischen Lehrpersönlichkeit, Bildung und Agilität formulieren und laden Sie zunächst dazu ein, sich mit zwei Fragen auseinanderzusetzen:
1. Wenn Sie an zwei, drei prägende Situationen denken, in denen Sie von einer lehrenden Person besonders viel gelernt haben (sei es als Schüler*in oder als Student*in), woran würden Sie dies festmachen? Daran, was die lehrende Person machte? Daran, wie sie als Mensch war? Oder waren wiederum ganz andere Punkte entscheidend (etwa die Beziehungsgestaltung etc.)?
Selbstverständlich kann man diese Punkte oft kaum voneinander trennen – doch wie würde Ihre Antwort tendenziell ausfallen? Hieran anschließend nun die zweite Frage:
2. Wenn Sie an zwei, drei Menschen denken, die Sie als Mensch besonders beeindrucken, können Sie dann benennen, was genau deren besondere Qualität für Sie ausmacht?
Vermutlich ist auch hier eine Antwort nicht so einfach. Aber nehmen Sie sich doch einen Moment des Nachdenkens, in aller Ruhe, bevor Sie weiterlesen.
Lehrpersönlichkeit und Lernwirkung
Viele Menschen erleben in Bildungskontexten die Persönlichkeit der lehrenden Person als zentral. Mit Ihren Antworten auf die erste Frage sind Sie möglichen Ursachen hierfür nachgegangen. Ob das „Sein“ der Person dabei wichtiger ist als das „Machen“ (so Kerschensteiner, 1927, 121, sowie Getzels&Jackson, 1963, vgl. Soemers 2020, 40) wird unterschiedlich eingeschätzt, doch einig ist man sich darüber, dass das „Sein“ eine große Rolle spielt. Über den genauen Einfluss gibt es zwar noch keine systematischen Studien, aber doch interessante Hinweise, die darauf verweisen. Aus der Forschung zur Wirksamkeit von „personenzentrierter Didaktik“ nach Carl Rogers wissen wir zum Beispiel, dass empathische Persönlichkeitsstrukturen und Authentizität das Lernen in besonderem Maße befördern (Kunze-Pletat, 2019) und Hattie zeigt, dass Klarheit hilfreich ist, sowie – zugleich! – die Lernoffenheit der Lehrperson (Hattie, 2009).
Es soll hier nicht darum gehen, den idealen Persönlichkeitstypus einer Lehrperson zu umreißen und diesen dann zu imitieren.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier nicht darum gehen, den idealen Persönlichkeitstypus einer Lehrperson zu umreißen und diesen dann zu imitieren. Wir alle haben vermutlich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten erlebt, die als Lehrende für uns wertvoll geworden sind. Zudem spielt bestimmt auch „Authentizität“ eine wichtige Rolle, die ja verloren ginge, wenn man eine wirksame Lehrpersönlichkeit an einer einzuhaltenden Liste von Merkmalen festmachen wollte.
Das Wissen um die Bedeutung der Persönlichkeit lädt uns als Lehrende stattdessen vor allem dazu ein, uns selbst im Handeln wie auch im „Sein“ zu beobachten. Und vielleicht lenkt dies unseren Blick auch auf Lehrpersonen aus unserem Umfeld, die möglicherweise Züge verkörpern, die uns zu eigenen Entwicklungsschritten inspirieren.
Ganz im Unterschied zum kaum erforschten Einfluss der Lehrpersönlichkeit auf Lernprozesse, ist der Einfluss der Beraterpersönlichkeit auf die Wirksamkeit von Beratungsprozessen gut erforscht (Binder 2016). Und empirische Forschung hat gezeigt: Beratung – wie im Übrigen auch Führung – wird wirksamer, wenn die Beratungs- bzw. Führungsperson ein größeres Maß an „persönlicher Reife“ mitbringt. Uns ist klar, dass dieser Begriff selbst an anderer Stelle noch zu definieren ist, aber wäre es nicht naheliegend zu vermuten, dass dies im Bildungsbereich ganz ähnlich ist?
Ein Gedanke nur zu „persönlicher Reife“: Die gute Nachricht ist, dass „Persönlichkeit“ natürlich viel mit dem zu tun hat, was uns als Menschen gegeben ist. Sie kann und muss also nicht erlernt werden. Zugleich berührt „Reife“ aber auch eine Entwicklungsaufgabe, der wir uns stellen können, und dies führt wiederum in ein Forschungsfeld, aus dem interessante Ergebnisse vorliegen.
Persönlichkeit in Entwicklung
Intuitiv gehen wir wohl alle davon aus, dass Menschen im Laufe der Zeit „reifer“ werden – oder genauer gesagt – reifer werden können. Mit Ihrer Antwort auf die zweite Frage haben Sie eingangs für sich definiert, was Sie an bestimmten Menschen besonders beeindruckt. Vielleicht ist es ruhige Engagiertheit, Offenheit, Zuwendung, Unparteilichkeit, Klarheit oder etwas anderes. Dies mag individuelle biografische Hintergründe haben oder mit Ihren persönlichen Vorlieben für bestimmte Charakterzüge zusammenhängen. Möglicherweise haben Sie dabei aber auch Aspekte benannt, die wissenschaftlich mit „persönlicher Reife“ in Verbindung gebracht werden.
Unterschiedliche Ausbildungsschritte wollen Menschen inhaltlich für die Lehre qualifizieren. Wie aber funktioniert die Entwicklung der Persönlichkeit im Erwachsenenalter?
Der Übergang in eine spätere Entwicklungsstufe ist weniger ein Lernprozess im Sinne eines „Dazu-Lernens“, sondern ein Transformationsprozess im Sinne eines „Sich-Entwickelns“.
Hierzu liegen seit Jahren umfangreiche Forschungsansätze vor. In Europa hat Kohlberg (1996) vor allem die Moralentwicklung in den Blick genommen. Pioniere auf dem Gebiet des ego development (in der deutschsprachigen Literatur: Ich-Entwicklung / Selbst-Entwicklung, hier: „Persönlichkeitsentwicklung“) sind Jane Loevinger (1976) und Robert Kegan (1982), die weitgehend unabhängig voneinander geforscht haben. Umso eindrücklicher ist, dass sie – in Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Kohlberg und anderen – Regelmäßigkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung von Menschen aufgedeckt haben. Denn die Entwicklung von Erwachsenen verläuft nicht etwa chaotisch, sondern sie folgt bei aller Einzigartigkeit jedes Menschen einer strukturellen Logik: Nach einer anfänglich starken Orientierung an den Ansichten unserer Bezugsgruppen (peer group, Familie, Fußballverein) folgen zunächst weitere konventionelle Stufen der Herauslösung oder „Ich-Werdung“, was später bis zu Entwicklungsstufen führen kann, auf denen Menschen immer tiefer und differenzierter in der Beobachtung ihrer selbst, anderer Menschen und zunehmend komplexer Kontexte leben. Sehr grob vereinfachend kann man festhalten, dass in der Forschung (von Loevinger über Kegan bis Wilber) die ganz frühen Entwicklungsstufen als präkonventionelle Stufen bezeichnet werden, die Entwicklungsstufen des Menschen auf seinem Weg zu einer voll ausgebildeten und erwachsenen Identität als konventionelle Stufen, und spätere Entwicklungsstufen, auf denen Menschen zunehmend eine beobachtende Distanz zu sich selbst entwickeln und Flexibilität sowie ein Bewusstsein für den Einfluss von Kontexten (auch auf das Selbst) verkörpern, als postkonventionelle Stufen.
Für unseren Bezug zum Bildungskontext ist nun Folgendes wichtig: Der Übergang in eine spätere Entwicklungsstufe ist weniger ein Lernprozess im Sinne eines „Dazu-Lernens“, sondern ein Transformationsprozess im Sinne eines „Sich-Entwickelns“. Und interessanterweise ist mit dem Übergang in eine neue Stufe (bzw. mit dem inneren Umbau in einen neuen „Mindset“) oft auch eine Art Ent-Lernen alter Strategien verbunden, was krisenhafte Momente mit sich bringen kann. Einiges von dem, was bisher als „wahr“ oder „richtig“ angenommen wurde, wird überschrieben, neu betrachtet, in einen breiteren Kontext eingeordnet und sogar relativiert.
Wichtig für das Thema Persönlichkeitsentwicklung ist aber vor allem folgende Einsicht: Man kann einem Menschen eine nächste Entwicklungsstufe nicht „erklären“ und er oder sie „lernt“ sie dann. Bestimmt gibt es Entwicklungsimpulse von außen, doch der Übergang in eine spätere Entwicklungsstufe ist „eine größere Sache“, da es um strukturelle Kernaspekte des Menschen geht (Loevinger: master trait), die durch Entwicklungsprozesse in Bewegung geraten.
Persönlichkeitsentwicklung
und Agilität
Vor diesem Hintergrund möchten wir nun das Thema „Agilität“ mit ins Spiel bringen, das in Fachkontexten auch unter dem Stichwort „agiles Mindset“ diskutiert wird. Wir verfolgen im Rahmen des Dreiklangs „Lehrpersönlichkeit, Bildung und Agilität“ das Ziel, zum einen das Verständnis von „Agilität“ weiter zu vertiefen und zum anderen den Blick auf den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Agilität zu schärfen: Wie sehen mögliche Schnittstellen aus? Welche Wechselwirkungen darf man vermuten? Was bedeutet dies für die Bildungsarbeit? Aber auch: Wo berühren sich in den Diskursen lediglich Begrifflichkeiten, die präzise voneinander abgegrenzt werden müssen?
Dies betrifft insbesondere auch die Fähigkeit, mit offenen Situationen umzugehen, und daher wohl im Kern das, was „Agilitätsfähigkeit“ ausmacht.
Der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Agilität ist aus unserer Sicht mindestens in zweifacher Hinsicht interessant: Mit zunehmender Reife erweitert sich das Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire eines Menschen. Dies betrifft insbesondere auch die Fähigkeit, mit offenen Situationen umzugehen, und daher wohl im Kern das, was „Agilitätsfähigkeit“ ausmacht. (Begriffsbestimmungen zu „Agilität“ siehe im vorausgehenden Beitrag und weiter vorne in diesem Buch.)
Zweitens kann sich durch Entwicklungsprozesse auch der Blick auf „Agilität“ verändern. Das heißt: Je nach Entwicklungsstand verstehen Lehrende vermutlich etwas anderes unter „Agilität“ und setzen dies dann entsprechend anders um.
Während Ersteres im Großen und Ganzen in der Forschung gut belegt ist, gibt es zu Letzterem noch keine Forschungsarbeiten. Eine Hypothese könnte aber lauten, dass Menschen auf präkonventionellen Stufen Agilität primär als Freiraum zur Verfolgung Ihrer Bedürfnisse und Interessen interpretieren, dass auf konventionellen Entwicklungsstufen Agilität dann eher als etwas verstanden wird, das mit Tools und Spielregeln in die Welt gebracht und in klar definierten Kontexten (etwa einem Lernszenario) nutzbar gemacht werden kann, während Menschen auf den postkonventionellen Entwicklungsstufen Agilität als innere Haltung leben, verbunden mit einem hohen Maß an Offenheit und Präsenz, das der Gemeinschaft und den Prozessen selbst zur Verfügung gestellt wird.
Damit wäre das in letzter Zeit oft thematisierte „agile Mindset“ eher etwas, das
- im Prinzip jedem Menschen zur Verfügung steht
- kaum erlernbar ist im Sinne von „ich besuche einen Kurs“ oder „ich lese ein Buch“
- eher vor dem Hintergrund der Lehrpersönlichkeit „freigelegt“ werden kann und dann womöglich tiefer greifende Entwicklungsprozesse berührt.
Fazit
Vermutlich können viele Menschen in ihrer Biografie Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Lernwirkung wahrnehmen. Und immer mehr Menschen machen in der Bildungsarbeit Erfahrungen mit „Agilität“. Der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung, Bildung und Agilität ist jedoch kaum besprochen. Dies ist einer der Gründe für den skizzenartigen Charakter dieses kurzen Beitrags. Unser Einblick zeigt aber hoffentlich, dass sich das Nachdenken über diese Thematik lohnt. Wir laden Sie deshalb dazu ein, bei sich und anderen hierzu Beobachtungen anzustellen und Bildungsarbeit einmal vor dem Hintergrund von „persönlicher Reife“ zu reflektieren. Wir werden das Thema auf jeden Fall weiterverfolgen und freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme, wenn Sie Lust haben, dies zu tun.
Quellenverzeichnis
Binder, T. (2016). Ich-Entwicklung für effektives Beraten (Interdisziplinäre
Beratungsforschung 11). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Getzels, J. W.; Jackson, P. W. (1963). The techers‘s personality and characteristics. In N. L. Gage (Ed.) (1979), Handbook of research on teaching (pp. 506-582). Rand McNally, Chicago. Deutsche Fassung, Merkmale der Lehrerpersönlichkeit. Bearbeitet von G. Pause, In K. Ingenkamp (Hrsg.), Handbuch der Unterrichtsforschung, Teil II, S. 1353-1526. Beltz
Hattie, J. (2009): Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Routledge.
Kegan, R. (1982). The Evolving Self. Harvard University Press.
Kerschensteiner, G. (1927). Die Seele des Erziehers und das Problem der Lehrerbildung (2. Auflage). Tiebner, Leipzig.
Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung, 564 Seiten, Frankfurt am Main
Kunze-Pletat, D. (2019). Personenzentrierte Erwachsenenpädagogik. Die pädagogische Beziehung als Mittelpunkt im Lehr-Lern-Prozess. Springer.
Loevinger, J. Ego Development. San Francisco: Jossey-Bass, (1976)
Soemers, J. (2020). Lehrer-Schüler-Beziehungen im Berufsschulunterricht. Eine empirische Studie über die Kategorien und Merkmale besonders guter und nicht besonders guter Lehrer-Schüler-Beziehungen und deren Auswirkungen auf den Erwerb beruflicher Handlungskompetenzen von Berufsschülern. Hürth.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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