Drei Geschichten und eine messerscharfe Definition
Christof Arn
Drei Geschichten
1. In Pontresina, Graubünden, Schweiz – ein Ferienort erster Güte – gibt es Waldkonzerte. Gratis. Meine Frau und ich sind kurz nachdem wir für einen Spaziergang losgelaufen sind, völlig zufällig exakt zu Konzertbeginn an der betreffenden Stelle im Wald eingetroffen. Spontan sind wir für die ersten drei Stücke geblieben. Das war ein überraschender „Auftakt“ für unseren Tag! Die Geschichte könnte aber auch so gewesen sein:
„Während wir uns einen Platz im Publikumsbereich suchen, sehen wir, dass da vorne links eine ganze Gruppe Altrocker sitzt. Offensichtlich sind auch sie unverhofft zum richtigen Zeitpunkt hier gelandet. Aber schon geht das Konzert los! Die Altrocker sind ganz dabei, applaudieren mehr als andere, ungestümer. Man weiss nicht so recht, wie man das alles verstehen soll. Da wendet sich der Dirigent an die Anwesenden: Er freue sich sehr über das involvierte Publikum und er möchte der Gruppe hier vorne zwei Stücke speziell widmen. Ohne mehr zu sagen dreht er sich zu den Musikerinnen und Musikern, sagt diesen etwas, diese legen die Noten weg, einige Absprachen folgen, zwei legen ihr Instrument weg um zuzuhören. Auf eine Jazzpop-Improvisation folgt „Born to Be Wild“ von Steppenwolf in einer Streicherversion.

Dann geht es weiter wie geplant mit klassischer Musik, nur das drittletzte Stück des Konzerts fällt weg, damit die Waldveranstaltung pünktlich beendet werden kann. Das alles lässt eine eigenartige Verbindung im ganzen Publikum entstehen und der Applaus am Schluss klingt eher danach, dass man jetzt lieber noch nicht gehen mag.“
Eine solche Erfahrung könnte den Dirigenten veranlassen, aus der Ausnahme ein Prinzip zu machen
– Ja, so könnte die Geschichte auch sein. Weil: Profimusikerinnen und Profimusiker haben heute oft einen enorm hohen Standard: ein Repertoire, ein technisches Vermögen und ein Musikwissen auch, das sie zu erstaunlichen Dingen aus dem Moment heraus fähig macht.
Ein solches Konzert wäre wohl für alle Beteiligten unvergesslich. Eine solche Erfahrung könnte den Dirigenten veranlassen, aus der Ausnahme ein Prinzip zu machen: Konzerte zu veranstalten, die aus dem Moment heraus auf das Publikum, seine Zusammensetzung, seine Interessen, seine Reaktionen reagieren. In der Einladung zum Konzert steht vielleicht ein Thema oder es sind drei Stücke angegeben, die – in der einen oder anderen Art! – vorkommen werden. Man geht hin und niemand weiss, was alles gespielt wird. Das wäre dann eine neue Sorte von Konzert.
2. Von der Ausbildung zum Pfarrer handelt die zweite Geschichte. Darin gibt es eine Parallele zur ersten Geschichte, punkto „Ritual“ und „Liturgie“. Denn die erwähnte neue Sorte von Konzerten wäre auch eine Art „Ritualbruch“. Gerade Konzerte sind deutlich ritualisiert: Wie man sich kleidet (auch an Openairs gibt es diesbezüglich Normen, die man natürlich bewusst brechen kann, wie in der Oper auch), wann man applaudiert und wie, wie die Musikerinnen und Musiker inszeniert werden usw. Im Publikum abstimmen zu lassen, welches Stück als nächstes kommen soll, oder Stichworte zu sammeln wie im Theatersport, aus denen sich dann die nächste Improvisation ergibt, ja, das wäre durchaus mehr als ein „Stilbruch“.
Hoch ritualisiert ist auch der Gottesdienst, die Messe, eine Andacht, so gut wie jede religiöse Veranstaltung. Auch hier ist natürlich Ritualbruch möglich – damit nun endlich zur zweiten Geschichte: Während meines Theologiestudiums hatte ich unter anderem Probepredigten zu halten. Zu Beginn einer solchen kündigte ich an, dass man heute Fragen stellen darf. Man solle sich einfach mit Handzeichen bemerkbar machen. Ich sprach über ein Thema, das mir sehr am Herzen lag und war dementsprechend solid vorbereitet. Tatsächlich stellte nach etwa der Hälfte der Predigt jemand, der in einer der hinteren Bankreihe sass, eine Frage. Ich ging gerne darauf ein, wohl während etwa drei Minuten, und kehrte dann zum vorbereiteten Inhalt zurück.
In den Rückmeldungen zur Predigt wurde mir gesagt, diese drei Minuten seien die besten gewesen in meiner Predigt. Gut, ich hätte beleidigt sein können. Aber man könnte darin auch eine gewisse Logik sehen: Die Aufmerksamkeit aller Beteiligten war in diesem speziellen Moment hoch. Was ich sagte, war direkt auf den fragenden Menschen und auf dieses Interesse bezogen.
Es entsteht in einem solchen Moment logischerweise eine hohe Intensität an der Sache wie in den Beziehungen.
Es entsteht in einem solchen Moment logischerweise eine hohe Intensität an der Sache wie in den Beziehungen.
Das war ein bewusster Stilbruch, ein Ritualbruch. Eine Art „Spiel mit einer Norm“. Man bestätigt die Norm, indem man ausnahmsweise davon abweicht. Doch auch hier könnte man aus der Ausnahme ein Prinzip machen: Gottesdienst als solchen und regelmäßig dialogisch gestalten. Interessanterweise spricht vieles dafür, dass die christlichen Gottesdienste ganz am Anfang eher so waren. Agilität ist also nicht neu, sondern gut. (Wobei: Wann und wie genau Agilität gut ist, dazu dann später mehr.)
3. Die dritte ist die Geschichte der agilen Softwarentwicklung. Steffen Siegert erzählt sie in diesem Buch im ersten Kapitel. Vor der „agilen Softwareentwicklung“ war klar, dass die/der Besteller*in der Software exakt zu definieren hatte, was die Software leisten muss und wie sie aussieht. Auf Grundlage dieses „Pflichtenhefts“ erstellt die Softwareentwicklungsfirma eine Offerte. Nach der Auftragserteilung wird genau das hergestellt und geliefert – und macht in aller Regel wenig Freude, weil sich vieles eben erst angesichts der laufenden Software zeigt: „Oh, das wäre viel praktischer gewesen anders!“ „Nein, das hier hätte es gar nicht gebraucht!“ „An der Stelle würde eine einfache Zusatzfunktion sehr viel helfen.“
Die agile Softwareentwicklung hilft, indem rasch ein Prototyp bloss mit einer rudimentären Hauptfunktion und einigen angedeuteten Zusatzfunktionen hergestellt wird. Diese wird dann gemeinsam angeschaut, und die nächsten Schritte werden beschlossen. Nun entsteht die nächste, etwas ausgereiftere Version – wieder Feedback. Usw. Nachteil: Budgetierung ist schwierig: auch über Geld muss laufend gesprochen werden.
Auch diesen Übergang zur agilen Softwareentwicklung kann man unter dem Aspekt des Ritualbruchs betrachten: Die üblichen „Rituale“ der Pflichtenhefterstellung werden (teilweise) ersetzt durch einen kontinuierlichen Dialog. Man könnte dies gar als ein Sakrileg gegen die Uridee der Budgetierung und gegen andere quasi „liturgische“ Abläufe im Sinne von „definierten Prozessen“ sehen. – Es ist übrigens erstaunlich, wie etwa Budgetierungs-, aber auch Planungsprozesse Analogien aufweisen zu echten Ritualen (Turner 1969/2005) aufweisen. Vielleicht könnte man von „Mini-Ritualen“ oder „Quasi-Ritualen“ sprechen.
Dieser Gesichtspunkt des „Ritualbruchs“ könnte erklären, warum auch Agilität in der Bildung irritiert, sobald sie nicht mehr Ausnahme, sondern Prinzip ist; sobald nicht mehr ausnahmsweise mal vom Plan abgewichen wird, weil gerade etwas sehr Spezielles vorfällt, sondern die gemeinsame Gestaltung des Prozesses zum Prinzip gemacht wird.
Die drei Geschichten erzählen so die wichtigsten Momente, die agile Prozesse ausmachen: Das Miteinander, die Offenheit für Überraschungen, somit eine gewisse Unberechenbarkeit und dementsprechend ein Verzicht darauf, im Voraus wissen zu können, was der Reihe nach passieren wird. Vor allem aber das, wie in jeder der drei Geschichten zumindest angedacht: All das ist in agilen Prozessen eben nicht Ausnahme, sondern Miteinander, Überraschungsoffenheit, Unberechenbarkeit und Verzicht auf Planungssicherheit sind konzeptuell. Was das genau und strikt auf den Punkt gebracht heisst, erklärt nun
Eine messerscharfe Definition
Vorbemerkung: Mit „Prozess“ ist hier präzise der Verlauf eines Vorhabens gemeint, im Unterschied zum Inhalt oder der Aufgabe in diesem Vorhaben. Beispiele dafür sind ein Projektverlauf, ein Sitzungsablauf, die Abfolge von Aktivitäten in einer Bildungseinheit. In diesem Sinn:
§1. Ein Prozess ist genau dann agil, wenn in erheblichem Maße bedeutsame Entscheidungen über den Prozessverlauf während des Prozesses getroffen werden.
Und:
§2. Ein agiler Prozess ist genau dann gut, wenn die Agilität nicht Selbstzweck ist, sondern Mittel, um ihn fortlaufend
- noch besser an einem Ziel, einem Purpose, einem Sinn zu orientieren und
- neue Entdeckungen oder auch sich ändernde Rahmenbedingungen gut daraufhin zu nutzen.
Daraus folgt: Agilität ist nicht (!) an sich gut. Ein Prozess ist nicht besser, wenn er agiler ist, sondern besser, wenn er seinem Sinn besonders gut dient.
Allerdings ist es durchaus so, dass ein nicht-agiler Prozess gewissermaßen starr ist: definitionsgemäß einer, über dessen Prozessablauf entschieden wurde, bevor der Prozess gestartet hat. Somit hat er nicht wirklich Möglichkeiten, auf besondere Chancen des Moments wesentlich einzutreten, ohne sich in einen agilen Prozess zu verwandeln. Er wird sich entsprechend auch schwer tun mit Widerständen, mit sich verändernden Rahmenbedingungen, usw. D.h. unter „real live“ Bedingungen ist eine gewisse Prozessbeweglichkeit wichtig.
Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass jegliche Vorbereitung eines Prozesses oder auch jegliche Planung schlecht wäre. Wie viel und vor allem welche Vorbereitung produktiv ist – auch dafür gibt es keine allgemeingültige Antwort, sondern messerscharf diese: Genau diese Vorbereitung ist gut, welche dazu beiträgt, dass der Prozess letztlich seinen Sinn besonders gut erfüllt. Typischerweise geht es also darum
- den Prozess vorzubereiten – durch eine gewisse Planung ebenso wie durch eine geschickte Gestaltung eines Rahmens für Ungeplantes
- sich vorzubereiten – um als Mensch bereit zu sein, Ungeplantes positiv und kreativ auf das Ziel hin gemeinsam mit den anderen zu nutzen; sogar, ja gerade, dann, wenn es den geschickt gestalteten Rahmen überschreitet.
Gerüstet mit dieser Klarheit über agile Prozesse generell, lässt sich der Gedanken anwenden auf
Agilität in der Bildung ist zweierlei nicht:
- Agilität ist nie Beliebigkeit oder bloße Zufälligkeit, sondern laufende intelligente Optimierung des Prozesses auf ein Ziel, einen Purpose oder Sinn hin.
- Agilität ist nie ein Wegschauen der Lehrenden, also „Lernende irgendetwas machen lassen“, sondern immer hinschauen; die Aufmerksamkeit primär richten auf das, was bei den Lernenden passiert: Agilität in der Bildung ist „Hinschaudidaktik“.
Das muss darum ausdrücklich gesagt sein, weil es sehr wohl reformpädagogische Ansätze geben mag, welche die Idee der Selbststeuerung der Lernenden so umsetzen, dass man sich fragt, wofür die Lehrenden denn überhaupt noch Verantwortung zu tragen bereit sind. Das muss auch darum ausdrücklich gesagt sein, weil es Verballhornungen von „Selbstgesteuertem Lernen“ (SOL) gibt: SOL als eine bloße Methode, die man „einfach so“ anwendet, v.a. um als Lehrperson inzwischen seine Mails beantworten zu können; ohne zu merken, dass „selbstgesteuertes Lernen“ keine Methode, sondern ein Paradigma wäre (https://www.facebook.com/solearn.live/), das Lehrenden einiges abverlangen täte (Deitering, 2001).
Agilität ist nie Beliebigkeit oder bloße Zufälligkeit, sondern laufende intelligente Optimierung des Prozesses auf ein Ziel, einen Purpose oder Sinn hin.
Auch sonst gibt es mit der grösseren Verbreitung der Idee von Agilität (und eben auch fragwürdig verstandener Agilität) zunehmend mehr Gelegenheit, mit sogenannter „Agilität“ negative Erfahrungen zu machen; gerade auch in sogenannten „Organisationsentwicklungen“. Regelmässig allerdings hängen diese negativen Erfahrungen damit zusammen, dass §1 und/oder §2 nicht eingehalten sind. In der Bildung führt diese Nichteinhaltung dann zu den Schwierigkeiten, die in den obigen beiden Punkten aufgezählt sind.

Wird „Agilität“ messerscharf definiert und werden die Zusammenhänge entsprechend präzise analysiert, so wäre wohl „Wegschaudidaktik“, wenn schon, dann eher die „Plandidaktik“: Falls ich versuchen würde, unbedingt an meinem Plan festzuhalten, dann würde ich vielleicht lieber schon gar nicht wissen wollen, wo die Lernenden grad stehen; also lieber wegschauen. Denn wenn das Verhalten der Lernenden dagegen sprechen könnte, am Plan festzuhalten, hätte ich ja ein Problem. Logisch präzise gedacht: „Wegschaudidaktik“ gibt es zwar auch bei (scheinbar) agiler Didaktik – die dann aber auf jeden Fall keine gute Didaktik ist. Bei einer strikten Plandidaktik ist allerdings ein gewisses Wegschauen systemimmanent.
Agilität ist als Prinzip sogar uralt.
Agilität ist, wie gesagt, nicht neu; sondern gut – in einem wohlverstandenden Sinne. Agilität ist als Prinzip sogar uralt: Man kann deren Gedanken bereits beim berühmten Satz „alles fliesst“ von Heraklit sehen. Heraklit präzisierte diesen Gedanken im Satz: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Will heissen: Alles ändert sich immer – mal mehr, mal weniger. Vorsicht mit „Rezepten“! Dies sagt uns Heraklit. Was einmal funktioniert hat, muss beim nächsten Mal nicht unbedingt klappen – und umgekehrt. Daher: Immer die jeweilige Situation anschauen – konsequent offen bleiben für das was ist und für das, was werden könnte.
Wenn also Agilität nicht neu, sondern gut sein soll – warum, oder inwiefern, oder auch: in welcher Art ist denn Agilität in der Bildung als gut zu qualifizieren? Die Zeichnung auf der vorherigen Seite zeigt bildlich einige für diese Frage wichtige Zusammenhänge, die nun Schritt für Schritt erläutert werden:
Agilität der Lehrenden bedeutet Raum für die Lernenden
„Plandidaktik“ lässt sich als das eine Ende eines Kontinuums definieren: Als theoretischer Grenzfall (den man sich bloss der definitorischen Präzision zuliebe mal denken kann) werden alle didaktisch relevanten Entscheidungen getroffen, bevor man anfängt, zu unterrichten – und die Summe all dieser Entscheidungen ist also der „Plan“. „Agile Didaktik“ wäre dann das andere Ende desselben Kontinuums. Als sozusagen komplementärer, theoretischer Grenzfall (den man sich wiederum ebenfalls bloss der definitorischen Präzision zuliebe mal denken kann) werden alle didaktisch relevanten Entscheidungen erst getroffen, während man unterrichtet.
Das heisst nicht, dass es keinen Plan gibt, nur entsteht er erst Stück für Stück während man unterrichtet.
Das heisst nicht, dass es keinen Plan gibt, nur entsteht er erst Stück für Stück während man unterrichtet. Es gibt aber jedenfalls keinen Plan im Voraus – und in diesem nur theoretisch denkbaren Grenzfall sogar nicht einmal in Ansätzen. Es ist leicht einsehbar, dass es diese genannten Grenzformen in der Praxis beide nicht gibt. Rasch wird deutlich, dass jede real existierende Didaktik zwischen diesen beiden Endpunkten liegt – allerdings an unterschiedlichen Orten:
Eng bei Plandidaktik: Als Lehrperson nehme ich immerhin wahr, was bei den Lernenden gerade passiert. Ich halte allerdings am Plan fest, doch signalisiere ich wenigstens eine gewisse Empathie dafür, wenn das im Moment für die Lernenden nicht optimal ist. Immerhin! Das ist mehr als nichts!
Eher bei Plandidaktik: Kleine Abweichungen vom Plan sind hier Alltag. Ich nutze besondere Chancen: Wenn etwa Fragen von Lernenden in eine produktive Richtung führen, kann ich sogar eine ungeplante, kurze Sequenz spontan einfügen.

Eher bei agiler Didaktik: Ich frage die Lernenden gezielt danach, was sie ihrer eigenen Einschätzung nach jetzt besonders weiterbringen würde. Daher lege ich meine Planung von Anfang an offen an, habe Varianten im Kopf und Lust, Neues auch aus dem Moment heraus zu wagen.
Eng bei agiler Didaktik: Die Kultur kollaborativen Arbeitens auf das gegebene Ziel hin ist nun auch bei den Lernenden so sehr internalisiert, dass sie selbst ganz selbstverständlich den Prozess mitsteuern und eigene Ideen einbringen, was man als nächstes tun könnte.
Je mehr sich realer Unterricht der agilen Didaktik annähert, desto mehr haben die Lernenden die Möglichkeit, auf den gemeinsamen Lernprozess Einfluss zu nehmen – und damit die Rahmenbedingungen für den eigenen Lernprozess mitzubestimmen. Dies zeigt die grüne Linie in der Installation: Quasi linear nimmt der mögliche (!) Impact der Lernenden auf den Prozess zu.
Dies ist aus drei Gründen ein Mehrwert:
- Der Lernprozess ist zunehmend wirksamer, d.h. das Verhältnis von Aufwand zu Lerneffekt wird laufend verbessert, da die Lernwege auf die Lernenden hin massgeschneidert werden.
- Die Gruppe wird gestärkt, weil gemeinsam Prozess gestaltet wird. Dies ist für die Motivation bedeutsam (Deci & Ryan, 1993; 2008) und führt zum Aufbau von Netzwerken („externe Ressourcen“, Kaiser, 2005, 25), welche wiederum für das Lernen produktiv sind.
- Die Lernenden lernen, den eigenen Lernprozess zu steuern. Dies ist möglicherweise noch wichtiger, als das inhaltlich Gelernte. Weil: Wer seinen eigenen Lernprozess gut steuern kann, kann eigentlich alles für sie/ihn Lernbare lernen, sobald es gebraucht wird.
Trotzdem: Strukturgebende Elemente im Lehrenden-Handeln sind bedeutsam! Plandidaktik genauso wie agile Didaktik sollen erst einmal nicht gewertet werden – aber die Fähigkeit, sich auf diesem Kontinuum bewegen zu können und sich auch tatsächlich geschickt zu bewegen: das schon!
Augenhöhe bedeutet lernen, sich selbst ernst zu nehmen
Ein Gefälle zwischen „wissenden“ Lehrenden und „unwissenden“ Lernenden, genauso ein Gefälle zwischen „wissendem“ Theoriebuch (oder Youtube-Video) und „unwissenden“ Lernenden signalisiert den Lernenden, dass sie ihr eigenes Denken abwerten sollen. Denn: Es ist offensichtlich weniger „richtig“. Für das, was „richtig“ ist, sind andere zuständig als die Lernenden: die Lehrenden, die Lehrmittel, das Skript.
Sind diese Signale erst einmal gesetzt, ist es schwierig, kritisches Denken der Lernenden zu fördern.

Was Lehrende dann manchmal stattdessen tun, ist: Das, was sie selbst bei sich als kritisches Denken sehen, von den Lernenden wiedergegeben sehen zu wollen. Nur: „Nachgesprochenes“ kritisches Denken ist kein kritisches Denken mehr.
Wirklich kritisches Denken liegt nur vor, wenn es a) selbst gedacht ist, und b) mit eigener Überzeugung verbunden. Das klappt, wenn ein Mensch das eigene Denken – und damit sich selbst – ernst nimmt. Fördern können Lehrende das, indem sie die Lernenden ernst nehmen – genauso ernst wie sich selbst! Das kann man tun, und zugleich die Rollenunterschiede und Wissensvorsprünge im Auge behalten. Schon die Forschungen von Tausch&Tausch in den 70er Jahren haben gezeigt, dass es grosse Unterschiede gibt im Kommunikationsstil der Lehrenden und daher wohl auch in ihrer dahinter liegenden Haltung gegenüber den Lernenden. Augenhöhe im Sinne von „gleicher Ernstnahme“ ist offenbar nicht selbstverständlich; zugleich essentiell, um kritisches Denken tatsächlich, nicht nur scheinbar, zu fördern. Für das Funktionieren von Demokratie, aber auch für Innovation, ist dies von eminenter Bedeutung.
Wenn Lehrende das eigene Denken der Lernenden ernst nehmen, dann werden die Lernenden ihr eigenes Denken auch ernst nehmen.
Augenhöhe fördert zudem die Intensität bzw. Tiefe des Lernens: Wenn Lehrende das eigene Denken der Lernenden ernst nehmen, dann werden die Lernenden ihr eigenes Denken auch ernst nehmen.
Das funktioniert sogar dann, wenn das Denken der Lernenden in Teilen nachweisbar irre geht. Wenn nämlich gerade dann die Lehrenden dieses Denken ernst nehmen, werden die Lernenden dies auch tun und dementsprechend auch ernsthaft erkennen können, dass da Fehler drin sind. Sie werden dann tatsächlich ihr „eigenes Denken“ verändern, und nicht bloss äusserlich sich etwas anlernen, um es an der Prüfung wiederzugeben. Augenhöhe ist also nicht nur wichtig für die Förderung der Eigenständigkeit des Denkens, sondern auch dafür, dass Lernende tatsächlich lernen im Sinne von: ihr eigenes Denken verändern. Hier liegt übrigens am allermeisten der Hund begraben, wenn der sogenannte Transfer (den es eben eher gar nicht gibt: Schmid, 2006) nicht klappt: Äußerlich Angelerntes kommt eher nicht in die Praxis. Wenn ich mein eigenes Denken tatsächlich verändert habe, hat das hingegen automatisch Auswirkungen auf mein Handeln.
Agilität plus Augenhöhe macht Lernwirksamkeit und Nachhaltigkeit
Wie gesagt: Es geht nicht darum, Plandidaktik abzuwerten. Schlecht ist diese allerdings, wenn sie dominiert. Gut ist sie, wenn sie punktuell auftaucht und orientiert. Entscheidend ist, dass Lehrende sich auf dem Kontinuum, das sich zwischen Plandidaktik und agiler Didaktik aufspannt, „agil“ bewegen können. Die gute agile Didaktik ist also eine Agilität zweiter Ordnung: Nicht eine Dominanz von Agilität, sondern eine Agilität in der Dosierung von Agilität.
Dominanz von Agilität, sondern eine Agilität in der Dosierung von Agilität.
idaktik kann, und zwar genauso gut wie Plandidaktik. Insofern die Fähigkeit, Entscheidungen über den weiteren Prozess während dem Prozess zu treffen, in pädagogischen und didaktischen Aus- oder Weiterbildungen weniger geübt und theoretisch gestützt wird bzw. wurde, ist es wichtig, hier mutig sich selbst zu trainieren.
Zudem: Letztlich ist Agilität von Lehrenden und Augenhöhe mit Lernenden auch verbunden. Wenn ich die Lernenden ernst nehme, werde ich auch ihre Impulse betreffend unseren weiteren gemeinsamen Prozess ernst nehmen, ihn also gegebenenfalls anpassen. Die dargestellten Zusammenhänge zeigen insgesamt, wie sehr Effektivität des Lernens – genauer gesagt: die Effektivität sinnvollen Lernens – mit Agilität und Augenhöhe zusammenhängt.

Nun reichen die „Anforderungen der Zukunft“ bereits sehr stark in die Gegenwart hinein: Die Zeitdiagnose „VUCA-Welt“ meint Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity (Born&Arn 2020; Nele&Gramß&Edelkraut, 2017, 15–43 ). Bestimmte Wissensbestände intus zu haben, hilft je länger desto weniger. Je länger desto mehr hingegen hilft es, schnell und geschickt lernen zu können und bereit zu sein, eigenständig zu denken und Verantwortung zu übernehmen. Auch Differenzen aushalten zu können – und sie im Idealfall produktiv machen zu können – wäre sehr hilfreich. Dies wird mehr gestützt, wenn Differenzen in der Gruppe der Lernenden Raum finden können, als wenn Lehrende Wahrheit verkörpern.
Es klappt, wenn sich Lehrenden eine gehörige Portion von eigener Ambiguitätstoleranz und entspannter Selbstreflexion erarbeitet haben.
Es klappt, wenn sich Lehrenden eine gehörige Portion von eigener Ambiguitätstoleranz und entspannter Selbstreflexion erarbeitet haben.
Wie das geht, ist ein eigenes Thema (s. Beitrag zu Persönlichkeitsentwicklung in diesem Buch, Kapitel 1.6).
Lehren agiler zu gestalten, ist somit geradezu die Challenge, die ansteht, wenn wir solche Zeitdiagnosen ernst nehmen und Lernende für den Umgang mit der wirklichen Welt stärken wollen. Allerdings ist auch hier die Frage, ob das wirklich neu ist – oder ob Heraklit und Sokrates nicht im Grunde schon so unterwegs waren. Sokrates Kernsatz „Ich weiss, dass ich nichts weiss“ klingt eher nach VUCA. Wie gesagt: Agilität in der Bildung ist nicht neu, sondern wichtig.
Finale: Wie kann man das Prinzip der Agilität, paradoxerweise, als „Rezept“ gerade für Bildung verstehen?
Persönlich konnte und kann ich selbst das Prinzip der Agilität in der Lehre auf Hochschulstufe erproben und weiterentwickeln. Verschiedene Lehrende aus Volksschule, Gymnasium und aus anderen Schultypen erzählen am Ende des Buchs „Agile Hochschuldidaktik“, wie der Ansatz sich dort gestaltet. Denn das Prinzip macht Sinn für Bildung generell. Das gemeinsame Rezept für alle Stufen ist: Hinschauen!
Ereignet sich Bildung? Lernen die Lernenden? Was genau lernen sie? Was ist anders als vorher? Das Rezept ist: Aufhören mit dem Blindflug der notorischen Planbefolgung (und auch, bei Bedarf: der notorischen Agilität). Immer wieder Abgleich mit dem Ziel: Kommen wir der Sache näher? Bin ich noch bei der Sache? Sind die Lernenden noch bei mir? Oder, besser: Bin ich noch bei Ihnen?
Klar, auch dafür gibt es Techniken und Methoden – wunderbare sogar. Zugleich: Wer ernsthaft Antworten auf diese Fragen will, wird schon ihre/seine ganz eigenen Wege finden:
- Wege, wahrzunehmen, wo die Lernenden stehen
- Wege, maßgeschneidert von hier aus geschickt einen nächsten Schritt auf das Ziel hin zu definieren
- Wege, das Ziel selbst immer genauer, klarer, einfacher, herausfordernder (Arn, 2020, 94–111) zu formulieren und mit den Lernenden zu teilen
Wir finden diese Wege nicht unbedingt von heute auf morgen, doch es ist, wie es ist (Hattie 2008, 22): Die Bereitschaft, selbst zu lernen, macht Lehrende lernwirksam.
Quellen
Arn, Ch. (3. erw. Aufl. 2020). Agile Hochschuldidaktik. BeltzJuventa.
Born, F.; Arn, Ch. (2020). Craziness als Lernziel und Agilität als Lernweg – von der Designdidaktik zum Didaktikdesign. In: June H. Park (Hrsg.): Designwissenschaft trifft Bildungswissenschaft (Schriftenreihe Design & Bildung – Schriften zur Designpädagogik, Band 3) München
Deci, E. L. & Ryan R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In Zeitschrift für Pädagogik 39 (2), 223–238.
Deci, E. L. & Ryan R. M. (2008). Self-Determination Theory. A Macrotheory of Human Motivation, Development, and Health. Canadian Psychology 49. 182–185.
Deitering, F. G. (2001). Selbstgesteuertes Lernen. Verlag für angewandte Psychologie, Göttingen
Hattie, John (2008). Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Acchievement. Routledge.
Kaiser, Hansruedi (2005). Wirksame Ausbildungen entwerfen. Das Modell der Konkreten Kompetenzen. hep, Bern.
Schmid, Christoph (2006). Lernen und Transfer: Kritik der didaktischen Steuerung. hep, Bern.
Tausch, Reinhard; Tausch, Anne-Marie (1976). Merkmalsbeziehungen und psychologische Vorgänge in der Sprachkommunikation des Unterrichts (Zeitschrift für experimentelle Psychologie 9, 1962, Seiten 474–508), wiederabgedruckt in: Gerner, Berthold/Hrsg.), Erziehungsstiele und Lehrerverhalten in der neueren deutschen Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Turner, V. (1969/2005). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Campus
Bild: Waldkonzert Pontresina: Bild von pontresina.ch/service/medien/medienbilder
Installationen: Heinz Bayer aufeigenefaust.com

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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