Empathische Resonanz als Bedingung für Agilität
Jean-Paul Munsch
Resonanz hat als neues Leitkonzept in den letzten Jahren eine steile Karriere gemacht — auch inhaltlich vergleichbar mit Agilität. Resonanz und Agilität können insofern miteinander verglichen werden, als beide das produktive Eingehen in einer (pädagogischen) Situation verstehen. Vielleicht hört hier die Parallele schon auf, aber zumindest ist damit der Agilität eine menschliche Qualität inkorporiert, die den pädagogischen Diskurs von Innen beleben kann.
Der passende Gegenbegriff zur agilen Resonanz ist die Stummheit.
In dieser Lesart eröffnen sich weitere Gemeinsamkeiten, denn hier wird sowohl Agilität als auch Resonanz als inneren Prozess verstanden, der weder methodisch einholbar noch äußerlich anwendbar ist.
Im Folgenden will ich versuchen, Resonanz als ein agiles Beziehungs- und Raumphänomen zu verstehen, dass sich von physikalischen bzw. mechanischen Prinzipien abgrenzt. Der passende Gegenbegriff zur agilen Resonanz (das ist nun schon fast ein Pleonasmus), ist die Stummheit. Als distanzierte Reaktion auf Dinge brauchen wir auch diese Fähigkeit, um eine Distanz zur Welt zu schaffen und damit zu überleben.
Gleichwohl wohnt einer resonanten Lehr- und Lernkultur, auch vor dem Hintergrund von agiler Didaktik und agiler Schulentwicklung, ein transformatives Moment inne, die Möglichkeiten für Kreativität und Ko-kreation öffnet.
Einen Resonanzraum schaffen
Wenn ich mich selber in einer pädagogischen Situation befinde, nehme ich eine resonante Haltung ein. Mit diesem „Grundsatz“ sitze ich beispielsweise als Dozent in einem Seminar für angehende Lehrpersonen. Ich versuche damit einen Raum herzustellen, der sich von einer ich-haften Anklammerung löst und mehr die Gesamtheit der Situation, in der ich mich mit den Studierenden befinde, zuzulassen. Dadurch entsteht Offenheit und Respekt für alles, was in den Raum kommen will. Eine resonante Haltung ist also damit auch eine Bedingung für die Pflege und Erhaltung einer agilen Kultur: Offenheit und Respekt gehören zu den Kernwerten von Agilität.
Die Erfahrungen mit dieser Haltung zeigen, dass ein Resonanz-Raum auch bei introvertierten und schüchternen Studierenden Anklang (!) findet und als Einladung verstanden wird, beizutragen zum Gesamtgeschehen.
Ein Resonanzraum zeichnet sich durch eine dreifache Bewegung aus, die mit dem Erschaffen anfängt, dann den angeklungenen Stimmen Resonanz geben und so alle in den transformativen „Tanz des Lebens“ aufnehmen kann.
Wir könnten hier also formulieren, dass ein Resonanz-Raum sich dadurch auszeichnet, dass alle Stimmen gehört werden können und durch das Gehörtwerden ebenfalls Resonanz bekommen können. Ein Resonanzraum zeichnet sich damit also durch eine dreifache Bewegung aus, die mit dem Erschaffen anfängt, dann den angeklungenen Stimmen Resonanz geben und so alle in den transformativen „Tanz des Lebens“ aufnehmen kann.
Dass ein Resonanzraum eine transformatorische Wirkung hat, ist erstmal eine Behauptung. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass wir uns als menschliche und soziale Wesen immer in gesellschaftlichen Resonanzräumen befinden (Bauer, 206), dann ist ein bewusst geschaffener Resonanzraum in einem lernenden Umfeld, prinzipiell dafür geschaffen, transformative Lernschritte zu ermöglichen. Dass diese dann auch tatsächlich stattfinden, ist ein Geschenk.
Stumme Weltbeziehung & Kompetenz als ein „In-Resonanz-gehen“
Damit ist auch gesagt, dass resonante Phänomene, wie sie der Soziologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt, grundsätzlich nicht verfügbar sind. Sie unterscheiden sich damit von einer stummen Beziehung zur Welt, die es uns Menschen erlaubt, eine distanzierte Haltung zur Welt einzunehmen (Rosa 2020, 6). Dadurch ist wissenschaftliche Erkenntnis und technische Bearbeitbarkeit möglich. Bekommt diese Seite jedoch eine Dominanz, wie wir es heute an vielen Ecken und Ende feststellen können, dann führt diese Haltung zu Ausbeutung auf allen Ebenen — ökologisch, ökonomisch und auch individuell.
Pädagogisch ist im laufenden Kompetenzdiskurs interessant, dass Rosa auch „Kompetenz“ als etwas nicht Verfügbares begreift. Er versteht Kompetenz also nicht als Aneignung bzw. Einverleibung, sondern als „in-Resonanz-gehen“ als in Beziehung gehen (Rosa & Endres). Es stellt sich also die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass Kompetenz nicht etwas ist, was man haben kann.
Empathische Resonanz
Da hilft es vielleicht, eine Formulierung des amerikanisch-österreichischen Psychoanalytikers Heinz Kohut aufzunehmen, der von „empathischer Resonanz“ spricht. Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen konnte die Bedeutung von Empathie und Resonanz für Lernen und Entwicklung weiter erforscht werden (Schmetkamp). Auch Joachim Bauer zeigt in seinem Buch „Wie wir werden, wer wir sind“ eindrücklich auf, was geschieht, wenn Menschen die „empathische Resonanz“ entzogen wird, und dass wir alle auf empathische Resonanz angewiesen sind, damit wir wachsen und uns entwickeln können.
Man könnte also im Anschluss an diese Erkenntnis formulieren, dass wir durch resonante Beziehungen in resonanten Räumen kompetent werden, in denen wir als Menschen gesehen und zum Wachstum angeregt werden. Da kommt auch wieder die transformatorische Komponente ins Spiel und das heisst: Wir sind immer auch auf Bezugspersonen, wie Eltern, Lehrer und Freunde angewiesen, die uns helfen, den nächsten Entwicklungsschritt zu machen.
Der sowjetische Psychologe Lew Wygotski schreibt dazu: „Das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse ist die Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski, 83). Und dieses Gebiet ist der Raum der Resonanz, der mit seiner Haltung der Akzeptanz und Anerkennung (Braun, 293ff.), grundsätzlich empathisch ist und Reifung ermöglicht.
Eine resonante Lern- und Entwicklungskultur fußt auf agilen Werten wie Offenheit und Respekt, aber auch Mut, Fokussiertheit und Verantwortungsübernahme braucht es, um das menschliche Lernen kultivieren zu können.
Auch das kann als genuin agiles Prinzip verstanden werden, wenn sich agile Prozesse und Produkte dadurch auszeichnen, dass sie sich in einem andauernden Entwicklungsprozess befinden.
Eine resonante Lern- und Entwicklungskultur fußt auf agilen Werten wie Offenheit und Respekt, aber auch Mut, Fokussiertheit und Verantwortungsübernahme braucht es, um das menschliche Lernen kultivieren zu können. Und es ist unsere Aufgabe, Resonanzräume auf allen Ebenen zu schaffen, damit alle Menschen ihren Beitrag zu diesem ko-kreativen Lernprozess geben können.
Literatur
Bauer, J. (2019): Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing: München.
Braun, K.-H. (2020): Entwicklungspädagogische Theorien, Methoden und Konzepte 2. Jugendliche und Jugend. Springer VS: Wiesbaden.
Rosa. H. (2020). Wieder anrufbar werden. Wie uns Resonanz eine neue Welt eröffnet. Interview mit Hartmut Rosa in: evolve Spezial, S. 4-7.
Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp: Berlin.
Sauter, R. et al (2018): Agile Werte- und Kompetenzentwicklung. Wege in eine neue Arbeitswelt. Springer: Wiesbaden.
Schmetkamp, S. (2019): Theorien der Empathie zur Einführung. Junius: Hamburg.
Wygotski, L. (1987): Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Pahl-Rugenstein: Köln.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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