Auf (vermeintliche) Kontrolle verzichten und dabei ganz neue Dinge entdecken
Sascha Demarmels
In den 1990er Jahren hatte ich einen Englisch-Lehrer am Gymnasium, der für jede Lektion ein Blatt Papier mitbrachte, auf dem er akribisch geplant hatte, wie viel Zeit wir womit verbringen werden: 5 Minuten Fragen zu den Hausaufgaben, 7.5 Minuten Hörverständnis, 3 Minuten Fragen zu den neuen Wörtern… Einmal hatte er dieses Papier vergessen und er wusste nicht, was er jetzt 45 Minuten mit uns tun sollte.
Als ich zu unterrichten begann, hatte auch ich immer ein Papier dabei mit den einzelnen Themen und Aufgaben und mit der dafür eingeplanten Zeit. Nicht, weil ich das wollte oder brauchte, sondern weil mir in meiner didaktischen Ausbildung und in Hospitationen nahe gelegt worden war, dass es so richtig und nötig sei. Arn (2016, S. 28) verweist denn auch darauf, dass in didaktischen und pädagogischen Ausbildungen bestenfalls thematisiert wird, wie man Überraschungen vermeiden kann – statt darauf einzugehen, was mögliche Strategien im Umgang mit Überraschungen sein könnten. Während ich diese Pläne erstellte, überlegte ich mir immer, was mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen könnte, was für Fragen zusätzlich von den Studierenden aufgeworfen werden könnten und was ich dann alles noch in der Hinterhand haben müsste.
Solche Pläne geben uns scheinbare Kontrolle über Inhalte, über Zeit, über die Wissensvermittlung. Scheinbar – denn tatsächlich können wir nur wenig beeinflussen, was beim Publikum ankommt und wie nachhaltig dieses Wissen dort auch bleibt. Bereits der Topos des Lehrers mit der Rute und der Schüler (ja, meist handelt es sich dabei um Buben), die trotzdem nur Unsinn anstellen, zeigt doch eigentlich auf, dass Lehrpersonen noch nie wirklich kontrollieren konnten, ob und was gelernt wird. Arn (2016, S. 40) bemerkt dazu: Lernen ist nicht delegierbar. Gleichzeitig können die Lehrenden aber eben auch nicht kontrollieren, ob die Studierenden wirklich lernen.
Tatsächlich können wir nur wenig beeinflussen, was beim Publikum ankommt und wie nachhaltig dieses Wissen dort auch bleibt.
Unabhängig von Lernintention oder Lernwille halte ich es für wahrscheinlich, dass Studierende aus unerwarteten Situationen, aus Antworten auf ungeplante Fragen, aus lebendigen (und in diesem Sinne unkontrollierten) Gesprächen viel mehr lernen und dass ihnen „Wissen“ aus solchen Situationen nachhaltiger in Erinnerung bleibt. Mitunter könnte dies auch damit zusammenhängen, dass solche Situationen authentischer wirken und authentische Probleme haben einen positiven Einfluss auf die Motivation (Kek & Hujiser, 2017, 18).
Auch Lernende wollen – zumindest ab einer gewissen Stufe – Kontrolle über den Lehrprozess haben. Zwei Umstände verweisen für mich explizit darauf: Die Ausrichtung von Bachelor-Studierenden auf die Prüfung („Kommt das in der Prüfung?“ oder „Was ist in der Prüfung richtig?“) und die Fixierung auf das Programm (denn dieses gibt vor, was zu lernen ist). Ich liebe es, die Teilnehmenden zu überraschen, ihnen nicht zu Beginn zu sagen, was sie lernen werden (denn das kann ich ja sowieso nicht beeinflussen) und ihnen eben auch unerwartete Inhalte anzubieten.
Und ich finde es wichtiger, auf die Bedürfnisse im Raum einzugehen, statt einfach ein Programm abzuhandeln – so arbeite ich beispielsweise auch lieber mit einem lebendigen Backlog als mit einem vorgefertigten Programm. Ich kann aber durchaus nachvollziehen, wieso das Programm und die Ausrichtung auf die Prüfung für die Studierenden wichtig sind, denn dort erhalten sie letztendlich die versprochenen Punkte, die sie sammeln müssen. Das ist also systemisch bedingt. Zu meinem Leidwesen klemmt dieses System jegliche Neugierde ab und untergräbt die intrinsische Motivation der Studierenden. Sie lernen für die Prüfung, nicht fürs Leben.
Selber mit dieser Situation unzufrieden, habe ich vor ein paar Jahren ein Experiment gewagt, um neue Wege auszuprobieren. Ich habe mit meinen Bachelor-Studierenden in einem Kommunikationsmodul ein ganzes Semester mit Scrum gearbeitet. Das hat nicht nur in meinen Studierenden, sondern auch in mir selber viel ausgelöst.
Experiment: Scrum in
der Hochschullehre
Ich war damals Dozentin an einer Fachhochschule und unterrichtete im Modul „Texte und Konzepte für Unternehmen“. Die Rahmenbedingungen von aussen waren eng, denn die Studierenden (ca. 16 pro halbe Lerngruppe) mussten die gleichen Leistungsnachweise erbringen, wie alle anderen halben Lerngruppen auch. Das Modul bestand aus fünf übergeordnet festgelegten Themenbereichen (Textanalyse / integrierte Kommunikation / Kommunikation mit Mitarbeitenden / Kundschaft / Bürgerinnen und Bürgern / Öffentlichkeit), wobei zu zwei dieser Themen ein Leistungsnachweis (einer in zweier Gruppen, einer als Einzelarbeit unter Prüfungskonditionen) geschrieben werden mussten.
Ich beschloss, meinen Unterricht für das ganze Semester in Scrum zu machen und habe mich dabei neben dem Scrum-Guide auch am Guide für EduScrum orientiert (vgl. zu EduScrum auch Wijnands & Stolze, 2019). Jedes der fünf Themen war ein Sprint. Der individuelle Leistungsnachweis fand ausserhalb dieser Sprint-Struktur (zu vorgegebenen Zeiten, parallel zur anderen Hälfte der Lerngruppe) statt.
Erste Herausforderung war eine architektonische. Handke (2020, S. 241) verweist darauf, dass die Sitzreihenarchitektur nicht den Bedürfnissen von intensiver Kommunikation und Interaktion entspricht und die Kommunikation zwischen Studierenden sogar praktisch verunmöglicht.
Raum und Sitzordnung können uns hier erheblich einschränken oder eben Verhaltensänderung unterstützen, wenn wir sie entsprechend aktiv und bewusst gestalten.
Arn (2016, S. 29) verweist weiter darauf, dass ein Schulzimmer mitbestimmt, wie wir uns darin verhalten (können) und dass wir oft fast unmerklich in Verhaltensmuster (beispielsweise jene des „Lehrers“) verfallen, wenn wir nicht gegensteuern. Raum und Sitzordnung können uns hier erheblich einschränken oder eben Verhaltensänderung unterstützen, wenn wir sie entsprechend aktiv und bewusst gestalten. Arn und MacKevett (2020, S. 12) weisen zu Recht darauf hin, dass es nicht darum geht, wie ich mich selber als Dozentin einschätze („Ich bin mit meinen Studierenden immer auf Augenhöhe.“), sondern wie ich mich tatsächlich verhalte. Dazu gehört in diesem Fall, dass ich als Dozentin mir die Zeit nehme, ein Schulzimmer auf den Kopf zu stellen.
Ich habe darum vor der ersten Stunde alle Tische zu Gruppeninseln zusammengestellt. Das war gar nicht so einfach, denn normalerweise waren die Tische in den Klassenzimmern mit Kabelschienen verschraubt. Die Studierenden sind reingekommen und wussten gar nicht, was sie jetzt tun sollten. Statt sich an die Tische zu setzen, haben sie sich im hinteren Teil des Schulzimmers an die Wand gestellt. Sie hatten die Situation nicht mehr unter Kontrolle, denn normalerweise können sie sich (so meine Hypothese) in den Bankreihen und in ihrer Rolle als passives Publikum verstecken.
Es ist wichtig und ausschlaggebend im Hinblick auf das Gelingen eines selbstorganisierten Experimentes, den Raum gleich zu Beginn aufzubrechen.
Ich halte es für wichtig und vielleicht sogar für ausschlaggebend im Hinblick auf das Gelingen eines selbstorganisierten Experimentes, den Raum gleich zu Beginn aufzubrechen.
Ich habe dann auch mit einer interaktiven Gruppenübung gestartet um das Eis zu brechen und habe den Studierenden erst anschliessend etwas über das Raumsetting, über Selbstorganisation und zu Scrum erzählt. Anschliessend habe ich sie dazu aufgefordert, selbständig Gruppen – Scrum Teams – zu bilden und diese bis zum Ende des Semesters aufrecht zu erhalten. Jede Gruppe hat ein fiktives Unternehmen gegründet und während zwölf Wochen haben sie anschliessend in vier Sprints die Unternehmenskommunikation für dieses Unternehmen aufgebaut.
In den Sprints hatten sie Aufgaben zu lösen, wie beispielsweise einen Antrag an die Geschäftsleitung verfassen, eine Medienmitteilung schreiben oder einen Event organisieren. Zur Verfügung standen ihnen dabei Theorie-Texte, Beispiele und ich als Dozentin. Sie durften mich für Inputs engagieren und natürlich für Fragen konsultieren. Sie hatten volle Freiheit was die Zeiteinteilung innerhalb der Sprints und den Output anging. Nur das Review fand gemeinsam statt, d.h. die einzelnen Gruppen haben ihre Resultate vor der ganzen Klasse zur Diskussion gestellt. Ich agierte dabei als Product Owner und habe damit auch Feedback zur Qualität der einzelnen Produkte im Hinblick auf die Prüfung gegeben.
An verschiedenen Orten in der Literatur zu agiler Didaktik wird betont, wie wichtig Feedback ist. Arn (2016, S. 34) geht dabei darauf ein, dass es besonders wirksam ist, wenn Lernende selbst darüber reflektieren können, wo sie Fehler gemacht oder etwas falsch verstanden haben. Ausserdem braucht Lernen auch und besonders Feedback, wenn (und weil) es sich um einen kollektiven Prozess handelt (Kek & Hujiser, 2017, S. 19). Die Retrospektive nach dem Review scheint mir in meinem Scrum-Setting ein gutes Instrument, diese Reflexion ebenfalls auf individueller Ebene in Gang zu setzen. Auch hier habe ich als Dozentin die Studierenden begleitet und meine Einschätzungen geteilt, wo die Studierenden diese nachgefragt haben und ganz im Sinne eines coachenden Gesprächs.
Ich habe kurz überlegt und gehofft, dass sie mir meinen Schreck nicht ansehen.
Ich hatte früher bereits mit Problem Based Learning gearbeitet, aber Scrum hat mich als Dozentin noch einmal ein bisschen mehr herausgefordert: die Kontrolle wirklich ganz abgeben und darauf vertrauen, dass die Studierenden zurecht kommen und etwas Nützliches lernen und dass sie am Ende des Semesters den Leistungsnachweis bestehen können. Ein Beispiel für eine solche Situation war, als eines der Scrum Teams sich als Sprintgoal gesetzt hatte, möglichst wenig während der Unterrichtszeit vor Ort anwesend zu sein.
Die Gruppe hatte dieses Sprintgoal recht provokativ aufgesetzt. Ich habe kurz überlegt und gehofft, dass sie mir meinen Schreck nicht ansehen. Dann habe ich mir einen Schups gegeben und sie gefragt, wie sie das Ziel umsetzen können, was sie dazu brauchen. Sie haben mit kollaborativen Tools experimentiert und sich verschiedene Arbeitsorte vorgenommen um zu evaluieren, wo es sich denn effizient arbeiten lässt. Ich musste sie in jenem Sprint übrigens mehrmals auf ihr Sprintgoal hinweisen und sie daran erinnern, dass sie doch eigentlich gar nicht vor Ort sein wollten.
Wie ist das Experiment Scrum in der Hochschullehre insgesamt rausgekommen? – Erstens: Alle Studierenden haben die Leistungsnachweise bestanden. Zweitens: Die Aufgabenstellungen haben sich kaum unterschieden von den Aufgaben, die ich in den Semestern zuvor verwendet habe. Anders war, dass die Studierenden sich selber organisiert haben und ihren Lernweg selber gesucht haben. Die Lösungen, die sie auf die Aufgabenstellungen präsentiert haben, waren sehr viel kreativer: Sie haben Videos und Skizzen, Prototypen und weitere kreative Materialien erstellt, wie das zuvor noch nie der Fall war. Und die Studierenden gaben insgesamt an, motivierter gewesen zu sein.
Und die Studierenden gaben insgesamt an, motivierter gewesen zu sein.
Handke (2020, S. 240) verweist auf erste Langzeitstudien, die belegen, dass die aktive Teilnahme an übungsintensiven Präsenzphasen zu besseren Leistungen führt. Dies könnte mitunter bedingt sein dadurch, dass die Studierenden sich generell motivierter fühlen. Gemäss Arn (2016, S. 31) ermöglicht agile Didaktik einen nachhaltigeren Anschluss an instrinsiche Motivation. Darüber hinaus ist Lehrhandeln besser, wenn es von echter Kommunikation (und damit also auch von Interaktion) lebt und auf die Studierenden eingeht, sodass die Studierenden den Verlauf dieses Lehrhandelns selber mitbestimmen können (ebd., S. 36).
Das funktioniert, wenn die Lehrpersonen ihnen vertrauen. Und damit können die Studierenden wieder die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen.
Wijnands (Co-Autor des eduScrum Guide) und Stolze (2019, S. 96) fordern, dass die Studierenden wieder aktiver werden müssen beim Lernen. Mit eduScrum erhalten Sie Ownership über ihren Lernprozess. Das funktioniert, wenn die Lehrpersonen ihnen vertrauen. Und damit können die Studierenden wieder die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. Ich halte es für wertvoll, diese Haltung als Grundhaltung einzunehmen, Vertrauen zu schenken und die Studierenden in ihrer Rolle zu inspirieren.
Inspect: Meine Haltung als Dozentin
Ich hatte den Mut, mein Scrum-Experiment durchzuführen und ich hatte den Mut, mich während des Experiments zu beweisen. Ruhig bleiben, in die Studierenden vertrauen, ihnen den Raum geben, den sie sich nehmen wollen. Es war für mich vielleicht nicht so schwer wie für jemanden, der sich dereinst zum „klassischen“ Lehrerberuf berufen fühlte. Denn ich hatte von Anfang an eine agile Einstellung zum Hochschulunterricht. Aber erst als ich mich mit Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit bei der Arbeit zu beschäftigen begann, entdeckte ich das Agile Manifesto und die agilen Frameworks. Und erst da konnte ich fassen, was ich vielleicht anders machte in meinem Unterricht als andere, eher an Planung orientierte Lehrpersonen.
Auf dem Kontinuum zwischen Plandidaktik und agiler Didaktik (vgl. Arn 2016, S. 21) befand ich mich immer schon viel mehr beim Pol zur agilen Didaktik. Und so stellte sich mir auch nicht so sehr die Herausforderung des Kontrollverlusts, sondern eher die Frage, wie ich dieses Lehrhandeln nach Situation und Bedürfnissen in einem starren System vor anderen Lehrpersonen (oder Studierenden) rechtfertigen kann. Ich möchte dabei das eine nicht gegen das andere abwägen: Beide Strategien (Planung und Agilität) haben ihre Berechtigung und gutes Lehrhandeln beinhaltet beide Aspekte (Arn & MacKevett, 2020, S. 5). Jedoch entspricht es mir, von Anfang an nicht an die Kontrolle zu glauben, sondern mich auf Unvorhergesehenes so vorzubereiten, dass ich es einfach umarmen und für meine Zwecke nutzen kann.
Was sehe ich als meine Aufgaben als Dozentin? – Ich interagiere mit den Studierenden um sie zu coachen zu ihren Fragen und sie damit auf ihrem Lernweg zu begleiten (vgl. auch Handke, 240).
Meine Aufgaben als Dozentin? – Ich interagiere mit den Studierenden um sie zu ihren Fragen zu coachen und sie damit auf ihrem Lernweg zu begleiten.
Ich fühle mich mitverantwortlich für die Lernatmosphäre, die ich schaffe. Gemäss Arn (2016, 2020, S. 48) ist die Lehrperson zuständig für die Regeln der Zusammenarbeit. Ich muss gestehen, dass ich dieser Verantwortung oft zu entgehen versuche, indem ich die Studierenden zwar darin unterstütze, die Festlegung dieser Regeln aber an sie delegiere. Denn wenn die Studierenden (oder überhaupt eine Gruppe von Menschen) sich Regeln selber auferlegen, dann können sie sich damit meist besser identifizieren und halten die Regeln darum auch besser ein – oder ändern sie wieder, wenn dies nötig ist.
Viele Dozierende kennen wohl auch das Gefühl, dass ein Student oder eine Studentin einfach faul ist. Ich möchte nicht bestreiten, dass es unter den Studierenden auch Faule gibt. Aber die generelle Haltung, dass alle Studierenden grundsätzlich faul (oder desinteressiert) sind, ist weder hilfreich für agile Settings noch wahr (vgl. auch Arn, 2016, S. 48). Wir können davon ausgehen, dass Menschen grundsätzlich intrinsisch motiviert sind und dass sie sich neugierig auf Angebote einlassen – der Mensch wäre sonst nicht überlebensfähig. Es ist jedoch auch so, dass das heutige Schulsystem intrinsische Motivation untergräbt und dass wir darum nicht davon ausgehen können, dass die intrinsische Motivation auf Knopfdruck wieder erscheint.
Wenn ich es als Dozentin also schaffe, Raum zu kreieren und Lernsettings zu gestalten, die den Studierenden Anreize bieten, dann darf ich darauf hoffen, dass sich auch intrinsische Motivation einstellen wird. Dazu muss ich auch Zeit geben und Geduld haben.
Wenn ich es als Dozentin also schaffe, Raum zu kreieren und Lernsettings zu gestalten, die den Studierenden Anreize bieten, dann darf ich darauf hoffen, dass sich auch intrinsische Motivation einstellen wird. Dazu muss ich auch Zeit geben und Geduld haben.
Was trägt weiter zu einer günstigen Haltung bei? – Mit Unsicherheit und Kontrollverlust umzugehen setzt grosse Herausforderungen an die eigene Resilienz, das Selbstvertrauen und den Mut. Feedbacks von Studierenden sind nicht nur positiv. Aktivere Lehrhandlungen fordern ihnen viel ab: Es gibt nicht mehr richtig und falsch (was im Gegensatz zu den geforderten Prüfungen zu stehen scheint) und die Vorbereitung und Auseinandersetzung mit Wissensinhalten nimmt bei den meisten mehr Zeit in Anspruch. Seit dem Kindergarten wurden sie darauf getrimmt, gute Schülerinnen und Schüler zu sein. Feedbacks zu agilen Lehr- und Lernmethoden zeigen teilweise sogar, dass sie sich die klassischen Powerpoint-Präsentationen wünschen (Arn & MacKevett, 2020, S. 26). Wir brauchen Resilienz um mit solchen Feedbacks umzugehen.
Viele Dozierenden haben Mühe, Stille auszuhalten. Wenn die Studierenden auf eine Frage nicht unmittelbar antworten, stellen sie die Frage gleich noch auf eine andere Art und beantworten sie schliesslich selber. Es auszuhalten, dass die Studierenden nicht innerhalb von einem Augenblick auf eine Frage reagieren können oder wollen, das braucht Mut. Viele Dozierenden haben Mühe, wenn Studierende ihr Wissen in Frage stellen und sie herausfordern. Nicht immer Recht zu haben, braucht für viele Mut. Und es braucht Offenheit für andere Perspektiven und Denkansätze.
Adapt: Das Dozierendenprofil
der Zukunft
Schon lange ist die Rede vom lebenslangen Lernen. Gemäss Studien teilen Managerinnen und Manager die Einschätzung, dass es sich zu einem entscheidenen Wettbewerbsfaktor entwickelt.
Wer eine gute Stelle haben will, muss willens und fähig sein, ständig zu lernen und damit auch ständig sich selber zu verändern.
Und das wiederum hat zur Folge, dass auf der einen Seite der Weiterbildungsbedarf steigen wird und dass sich auf der anderen Seite die Lernbereitschaft als wichtiger Faktor in der employability niederschlägt: Wer eine gute Stelle haben will, muss willens und fähig sein, ständig zu lernen und damit auch ständig sich selber zu verändern (vgl. z.B. Sammet & Wolf, 2019, S. 3f.).
Was bedeutet dabei Lernen und wie sieht das Lernen der Zukunft aus? Es geht nicht (mehr) um die Anhäufung von Wissen – als allen zugängliche Wissenssammlung haben wir ja jetzt das Internet –, sondern es geht darum, konkrete Probleme zu lösen (ebd., S. 5). Wir müssen aus dem ganzen Informationsangebot das im spezifischen Kontext relevante Wissen herausfiltern und auf die praktische Situation anwenden können. Lernen muss darum flexibler werden. Und dies hat auch Konsequenzen für das Dozierendenprofil und für die Rolle der Lehrpersonen.
Das klassische Präsenztraining reiche schon lange nicht mehr aus: Dozierende müssen grosse digitale Kompetenzen aufweisen, sie müssen verschiedene Formate von Lehre und Lernen kennen und anwenden können und dabei sowohl Formen des individuellen wie auch des kollektiven Lernens unterstützen (ebd., S. 6).
Dozierende brauchen darum einen Methodenkoffer mit einer Vielzahl an Instrumenten, Lehrmethoden und -Formaten. Sie brauchen die Kompetenz, auch mit neuen Instrumenten und Formaten spontan umgehen zu können. Dazu gehört ebenfalls eine grosse Medienkompetenz: Gerade in Zeiten, wo wir kurzfristig auf Fernunterricht umsatteln müssen, aber auch in ruhigen Zeiten, wo Studierende mit Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit die neusten Tools nutzen, dürfen sich Dozierende nicht abhängen lassen. Es geht nicht darum, alle Tools zu kennen (jüngere Generationen tendieren dazu, den älteren Generationen immer etwas voraus zu sein in diesem Bereich). Alle Tools können wir auch niemals kennen. Es hilft aber, viel Tools kennen zu lernen, sodass wir uns eine generelle Medienkompetenz aneignen.
Die Wissensaufnahme kann getrost ins Selbststudium verschoben werden.
Dasselbe gilt auch für Interaktionsformen und Methoden der Zusammenarbeit. Und es setzt in Zeiten der Digitalisierung insbesondere auch eine grosse digitale Fitness voraus.
Im Fernunterricht haben (hoffentlich) die meisten gemerkt, dass lange Wissensvorträge nicht mehr angebracht sind. Die Wissensaufnahme kann getrost ins Selbststudium verschoben werden. Mit Methoden wie Flipped Classroom oder Problem Based Learning können wir die Präsenzzeit besser nutzen, weil wir das blosse Aufnehmen von Wissen in die Selbstlernphase verschieben und zugleich diese Präsenzzeit aufwerten, weil dort wertvolle Interaktionen stattfinden können (Bremer, 2019, S. 79). Ein solches Lernen ist viel nachhaltiger und praxiswirksamer, weil es ich nicht um eine bloss „äusserliche“ Aneignung handelt, sondern eben zu einer ganzheitlichen Betrachtung führt (Arn, 2016, S. 32).
Dies erfordert Mut und Offenheit, sowohl von den Dozierenden wie auch von den Studierenden.
Dies erfordert Mut und Offenheit, sowohl von den Dozierenden wie auch von den Studierenden. Die Rolle von Lehrkräften verändert sich. Der Mehrwert, den wir als Dozentinnen und Dozenten den Studierenden bieten können, liegt darin, den Studierenden die Basis und eine Plattform für das Reflektieren zu geben.
Ich wage hier einen Blick auf den grösseren Kontext der Dozierenden: Aus meinen Erfahrungen als Dozentin (und aus ganz vielen solcher individuellen Erfahrungen) lassen sich nicht nur Anpassungen für die eigene Lehre ableiten.
Wir können nicht alles kontrollieren. Pragmatischer wäre es zu sagen: Wir können fast nichts kontrollieren.
Wir sollten uns darum von der Haltung lösen, dass wir Kontrolle haben. Das gibt uns viel Gestaltungsfreiheit.
Es ergeben sich auch Fragen, die wir auf der systemischen Ebene, in der Gesellschaft und im Bildungssystem stellen können und stellen müssen. Einige Punkte, die mir besonders wichtig sind:
Wir können nicht alles kontrollieren. Pragmatischer wäre es sogar zu sagen: Wir können fast nichts kontrollieren. Wir sollten uns darum auch von der Haltung lösen, dass wir Kontrolle haben. Das gibt uns viel Gestaltungsfreiheit. Es fördert die Motivation, weil sich die Lernenden mit den Themen beschäftigen können, die für sie wirklich gerade aktuell sind und weil sie es in einer Art und Weise tun können, die für sie in dem Moment gerade die richtige ist.
Unser System fokussiert auf Mängel. Wenn jemand nicht gut ist im Schreiben, muss er oder sie Schreiben üben. Dabei würden diese Menschen vielleicht viel lieber rechnen.
Wenn wir den Menschen Raum geben, kreativ zu werden und Dinge auf die Art zu lösen, wie es ihnen richtig scheint und ihnen Freude bereitet, dann erhalten wir kreativere und wahrscheinlich auch bessere Lösungen, weil mehr Commitment drinsteckt.
Wenn sie im Rechnen gefördert würden, wären sie einerseits möglicherweise Rechen-Genies. Andererseits würden sie im Rechnen wahrscheinlich eine Möglichkeit entdecken, ihre Schreibschwäche auszugleichen. Auch solche Prozesse können wir nicht kontrollieren. Sie regeln sich im selbstorganisierten Lernen.
Wenn wir den Menschen Raum geben, kreativ zu werden und Dinge auf die Art zu lösen, wie es ihnen gerade richtig scheint und ihnen auch Freude bereitet, dann erhalten wir erstens kreativere und zweitens wahrscheinlich auch bessere Lösungen, weil mehr Commitment drinsteckt. Damit Menschen wieder lernen, unbefangen an einen Lösungsprozess zu gehen, dürfen wir sie nicht kontrollieren, während dem sie lernen Lösungen zu suchen. Konkret: Wenn wir in der Schule vorgeben, wie „man“ Lösungen zu suchen und zu finden hat, dann werden die meisten Menschen nach der Schule nicht wissen und nicht den Mut haben, kreativ Lösungen in der realen Welt zu (er)finden.
All diese Implikationen für das Bildungssystem generell bringen auch eine erhebliche Veränderung für Dozierende: Sie werden neu zu Begleiterinnen und Begleitern. Dafür brauchen sie eine ganz andere Haltung. Welche Lehrerinnen und Lehrer, welche Dozentinnen und Dozenten, welche Führungspersonen brauchen wir, um unser Bildungssystem und unsere Gesellschaft für das lifelong learning gut aufzustellen?
Literaturverzeichnis
Agile Manifesto (online): http://agilemanifesto.org/, 10. November 2020.
Arn, C. (2016): Agile Hochschuldidaktik. Weinheim: Beltz Juventa.
Arn, C. & MacKevett, D. (2020): The Agile in Higher Education as a Quality Question. In: HQSLF 73/September.
Bremer, C. (2019). Szenarien des Einsatzes digitaler Medien in Bildungsprozessen – Chancen und Herausforderungen für Weiterbildungseinrichtungen. In: E. Haberzeth & I. Sgier (Hgg.): Digitalisierung und Lernen. Gestaltungsperspektiven für das professionelle Handeln in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Bern: hep, S. 75–94.
eduScrum Guide (online): https://www.eduscrum.nl/img/The_eduScrum_guide_English_2.pdf, 10. November 2020.
Handke, J. (2020). Handbuch Hochschullehre Digital. Leitfaden für eine moderne und mediengerechte Lehre. Baden-Baden: Tectum, 3., auktual. und erw. Aufl.
Kek, M. Y.C. & Hujiser, H. (2017). Problem-based Learning into the Future. Imagining an Agile BPL Ecology for Learning. Singapore: Springer.
Sammet, J. & Wolf, J. (2019). Vom Trainer zum agilen Lernbegleiter. So funktioniert Lehren und Lernen in digitalen Zeiten. Berlin: Springer.
Scrum Guide (online): https://www.scrumguides.org/, 10. November 2020.
Wijnands, W. & Stolze, A. (2019). Tranforming Education with eduScrum. In: D. Parsons & K. MacCallum (Hgg.): Agile and Lan Concepts for Teaching and Learning. Singapore: Springer, S. 95–114.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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