Von Wurzeln, Definitionen und Zusammenhängen zu Spielfeldern, Handlungsoptionen und Grenzen
Veronika Lévesque
Seit ‘agil’ – und das nicht nur in der Bildung – in aller Munde ist, stehen Fragen im Raum:
Ist das wirklich etwas Neues, Modernes, paradigmatisch Wegweisendes? Oder ist der Hype um „agil“ nur Marketing? Geldmaschine für Schul- und Organisationsberater? Modewort und die nächste sprichwörtliche „Reformsau“, die da durchs Dorf getrieben wird?
Und natürlich grundlegender: Was genau ist ‘agil’ und was nicht? Was daran ist neu?
Wo kommt es her? Was könnte es können? Und wie? Und was nicht? Wo sind Grenzen? Muss jetzt wirklich ALLES immer agil sein?
Systemiker, (Reform-)Pädagogen und Arbeitspsychologen sind sich einig und sagen zu den Ideen der „Agilen Communities“ – nicht zu Unrecht –,
dass sie selbst so oder sehr ähnlich doch schon lange…
dass es immer um die gleichen Grundbedürfnisse des Menschen und um generische Prinzipien gehe…
und dass das Problem doch in erster Linie in der Umsetzung liege – wissen wir es doch eigentlich und ‘agil’ sei nur wieder ein anderes Etikett für Bekanntes, es werde halt nicht richtig getan… . Der allzeit schwierige Weg vom Wissen ins Tun.
Zu dem, was der Agilität als Haltung und als Handlungsrahmen eine gewisse Legitimation zu geben scheint, gehören unter anderem relativ neue Umfeldentwicklungen.

Das Akronym ‘V U K A’ beschreibt es einigermassen greifbar:
V steht für Vergänglichkeit [Volatilität].
Wir erleben es, privat, beruflich, als Institution und als Gesellschaft immer wieder und immer öfter: Nach jedem erklommenen Anpassungsgipfel an neue Technologien, Bewegungen oder Anforderungen (Kompetenzorientierung, neue Bildungspläne, Digitalisierung, Corona …) kommt nicht (mehr) etwa das „neue Normal“ und die verdiente Ruhephase. Die nächste Veränderung oder auch Innovation mit schwer abschätzbaren aber durchaus deutlichen Auswirkungen ist bereits in Sicht- oder gar schon spürbar.
In dieser Form ist das eine völlig andere Umgebung als die stabilitätszentrierten Jahrzehnte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, in denen die meisten von uns ge-’grundbildet’ und sozialisiert wurden. Unsere professionellen, aber auch oft unsere privaten Vorhaben sind vielfach fast instinktiv an einem Kompass ‘Planung’ ausgerichtet. „Wenn ich gut plane, geht es mir finanziell bis ins Alter gut.“ „Risiken kann ich mit solider Planung aus dem Weg gehen. Dann geht es immer aufwärts. Wenn nicht, habe ich etwas falsch gemacht.“ etc..
VUKA-Umwelten erschüttern die vielbeschworene heilbringende Planungssicherheit immer regelmässiger. Mit dieser Änderung werden wir als Erwachsene, Schülerinnen und Studierende, Lehrende, als Gesellschaft, als Politik, als Organisationen, als Behörden lernen müssen umzugehen. Zum Beispiel durch die Ergänzung (und nicht etwa die Ablösung) unserer Planungslogiken mit einem weiteren Kompass: Anpassungsfähigkeit, Situationsadäquatheit und Agilität.
U wie Unsicherheit – wer weiss schon heute, was morgen aufpoppt und uns aufrüttelt?
Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass Twitter bald staatstragend würde? Dass grosse etablierte Firmen wie Kodak schnell kein markttaugliches Produkt mehr haben würden. Und dass CDs, die die meisten von uns noch als neue innovative Technik kennengelernt haben, bereits nahezu obsolet und veraltet sind? Auch dass der Welt grösstes Taxiunternehmen keine eigenen Autos mehr besitzt, hätte sich vor wenigen Jahren kaum jemand auch nur vorstellen können. Neue Technologien und insbesondere kreative Ableitungen daraus haben innert kürzester Zeit ganze Branchen auf den Kopf gestellt. (Ob das Schule und Hochschule auch dräut?)
Der Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Planbarem ist also eine zentrale Schlüsselkompetenz.
#metoo, Fridays for Future und Gilets jaunes waren kurz bevor die jeweiligen Bewegungen entstanden so flächendeckend nicht vorhersehbar. Die Verknüpfung mehrerer dezentraler Umstände und die Möglichkeiten digitaler Netzwerke sorgte dafür, dass die Zeit reif war und die Themen schnell Verbreitung und Resonanz erfuhren – mit mehr oder weniger anhaltender Sichtbarkeit und Wirkung. Noch vor wenigen Jahren undenkbar, diese Art der schnellen Mobilisierung. Wenn selbstfahrende Autos dann tatsächlich irgendwann flächendeckend kommen, reicht unsere aktuelle Vorstellungskraft gewiss nicht, um solide im Vorfeld durchzuplanen, welche Konsequenzen das in welchen Bereichen überall haben wird.
Der Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Planbarem ist also eine zentrale Schlüsselkompetenz. Unmittelbar aber sinnhaft auf Neues zu reagieren – und es allfällig auch wieder loszulassen. Handlungsspielräume freizuhalten, falls etwas aufkommt. Zu lernen, Gelegenheitsfenster [‘windows of opportunity’] aktiv zu erkennen und produktiv zu nutzen, kann in der Unsicherheit von VUKA-Welten matchentscheidend werden. Aber Unsicherheit zu formulieren (oder erst einmal zuzugeben), ist nichts, was heute von Fachleuten gern oder gar routiniert getan wird. Und der kompetente Umgang mit dem Nicht-Planbaren wird wenig ausgebildet und gelernt in der Grundausbildung an Schulen und Hochschulen.
K für Komplexität – wenn das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur im Rückblick zu klären ist.
Komplexität fällt uns schwer. Weil sich ändernde Umfeldeinflüsse und Neuentwicklungen jederzeit zuschlagen können. Weil Geschwindigkeit, Dynamik und Variantenangebot in diverseste Richtungen führen können. Weil schlicht die Anzahl der Variablen zu hoch ist.
Und weil deshalb aus zurückliegender Erfahrung erarbeitete Expertise in komplexen innovationsgetriebenen Situationen nur sehr bedingt hilfreich anwendbar ist. Ein fast gruseliger Gedanke. All unser analytisches Inventar hilft erschreckend wenig bei Paradigmenwechseln und in Pioniersituationen. Dave Snowden hat dies in seinem Cynefin-Modell⁰1 dargelegt und benennt auch handfeste Vorgehensweisen.
Zu wissen, nicht genau zu wissen – auch der konstruktive, produktive Umgang mit Nicht-Wissen wird zur Schlüsselkompetenz.
Zu wissen, nicht genau zu wissen – auch der konstruktive, produktive Umgang mit Nicht-Wissen wird zur Schlüsselkompetenz. Mustererkennung und erst im Entstehen begriffene [emergente] adaptive Lösungsentwicklung als Werkzeug – hier kann die Arbeit in fachgemischten Thementeams [cross-funktional], in kurzen Rhythmen organisierte [iterative], nach kurzfristigen Teilprodukten organisierte [inkrementelle] Herangehensweise agiler Modelle Hand bieten. Auch im eigenen und im kollektiven Lernen.
A als Ambiguität – insbesondere der Aspekt der Mehrfachlesbarkeit.
Das Neue ist noch nicht interpretiert und der gemeinsame Kanon immer weniger verlässlich. Und es konfrontiert uns die Tatsache, dass komplexe „vertrackte Probleme aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit auch eine wahrnehmungsseitige Komponente haben – darüber, ob überhaupt ein Problem vorliegt und wie dieses zu fassen ist.“⁰2
Der Beispiele gibt es viele:
Die öffentlich hoch präsente Diskussion um das Handy in der Schule und in der Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen – und auch Erwachsenen.
Das Neue ist noch nicht interpretiert und der gemeinsame Kanon immer weniger verlässlich.
Die Spannweite geht vom Heilsversprechen des uneingeschränkten Zugangs zum Wissen der Welt als Lösung aller Eliten- und Machtsungleichgewichtsprobleme einerseits bis hin zur Befürchtung des Untergangs des Menschen als soziales empathisches Wesen andererseits. Und das insbesondere, wenn Kinder und gar in den heiligen Hallen der schulischen Anstalt technische Endgeräte nutzen. Oder die Haltung (insbesondere von digital natives, aber nicht nur), dass das Handy Teil des Lebens ist – also wo ist das Problem?
In der deutschen Wochenzeitung „DIE ZEIT“ vom 02.12.18 war zu lesen: „Ab Sommer könnten einige Bundesländer die Anwesenheitspflicht für Studierende wieder einführen. Der Erfolg für echte Bildung? Oder eine reine Simulation von Ordnung?!
Manche fordern die Wiederkehr eines klassischen Wissenskanons mit Werken, die jeder kennen muss; andere wollen vor allem das vermitteln, was Menschen am stärksten von Maschinen unterscheidet, also Kreativität, Teamwork und Sozialkompetenz. Einige beharren, dass der Schlüssel zur Welt in Schiller oder Kafka zu finden ist. Andere bestehen darauf, dass das digitale Verständnis schärfer wird und man Programmiersprachen kennt. Oder muss das alles zusammengehen? Und was ändert sich dann also in Schulen und Hochschulen?⁰³“
Eine reine Simulation von
altbekannter, vertrauter Ordnung?
Diese Frage müssen wir uns als lernende Lehrende, aber auch als Behörde, Organisationen oder Zivilgesellschaft immer wieder deklinierend stellen:
Setzen wir uns mit der jetzt realen Situation auseinander?
Passt das, was und wie wir es tun, zu dem, was tatsächlich jetzt gerade anliegt?
Oder einfach zu dem, was wir kennen oder was geplant war?
Sind wir alert genug zu merken, wenn die Situation sich so ändert, dass unser Plan sie nicht mehr wirklich abdeckt? Können wir dann produktiv agieren?
Berufe ich mich auf Dinge, von denen ich wünsche, dass sie wahr wären, damit meine Theorien, Standards und erlernten Vorgehensweisen passen? Damit ich routiniert funktionieren kann?
Erfasse ich die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die sich jetzt gerade auftun, unterwegs immer wieder? Und bin ich in der Lage, sie einzubeziehen in mein Handeln und für mein Produkt oder Ziel abzufedern oder zu nutzen?
Schärfen wir unsere Handlungsmöglichkeiten entlang der vorhandenen Ressourcen und schrittweise erworbenen Erkenntnisse zugunsten des Produkts/Ziels?
Oder fordern wir, dass, wenn es so wäre wie es müsste (Geld, Infrastruktur, Rahmenbedingungen…), wir erst dann wirklich etwas professionell beitragen können und sonst geht es halt nicht…?
Die VUKA-Aspekte und ihre verschiedenen Konsequenzen führen dazu, dass sich die Umwelt, in der wir arbeiten, teilweise rasant und auch grundlegend verändert.
Die VUKA-Aspekte und ihre verschiedenen Konsequenzen führen dazu, dass sich die Umwelt, in der wir arbeiten, teilweise rasant und auch grundlegend verändert. Plötzlich werden Dinge in Frage gestellt, die über Jahrzehnte nahezu unreflektiert als uneingeschränkt gültig, wichtig und richtig galten. Sir Ken Robinson fasst das eindringlich in dieser Visualisierung04 zusammen.
Mit Planungs- und Analysedichotomien im Stil von
„ richtig ←→ falsch “ „ statistisch belegt ←→ unbewiesen “
„ gut ←→ schlecht “ „ im Plan ←→ vom Plan abweichend “
ist diesen neuen Aspekten und Entwicklungen kaum konstruktiv beizukommen.
Und die stetigen Veränderungen in der Umwelt kommen näher und näher an Organisationen, Bildungsinstitutionen, Lehrende, Arbeitgeber, Alltagsleben heran. Menschen und Gesellschaft spüren diese unmittelbar.
Veränderte Umweltsituationen – eine Metapher für eine neue Welt
Als ein Beispiel für viele andere Transformationen, die im Gange sind:
Informationen, Dossiers und Geschäftsverläufe, ebenso anwendbar auf fachliche Inputs oder Lehrbücher, konnten in analogen Zeiten nur seriell, von einer Fachperson nach der anderen, erhoben, in Empfang genommen, konsultiert, bearbeitet, verteilt werden (siehe Abbildung). Nötig ist hier eine zuständige und verantwortliche Ausgangsperson.

Sie stellt das bekannte Wissen über den Sachverhalt zusammen. Sie entscheidet über den Einbezug weiterer Personen und über den nächsten Schritt. Sie verteilt die Aufgaben an die nächste Stelle weiter. Sie behält allein den Überblick über den aktuellen Stand. Sie muss Verantwortung sicherstellen, steuert den Vorgang. Solches serielles, analoges Vorgehen braucht Zeit und es verlangt die Organisation der Arbeit in nacheinander gelagerten Etappen. Das gilt für Schulen und Klassenzimmer ähnlich wie für Unternehmen und Behörden.
Eine Struktur mit klassischem Organigramm und definierten Prozessen oder eine Schule mit Lehrenden, Klassen und fixierten Stunden- und Bildungsplänen kann das abbilden. Die Rollen sind einigermassen klar verteilt und, weil sie in diesem Kontext absolut Sinn machen, akzeptiert.
In einer digital geprägten Welt im Umgang mit digitalen Informationen ist das anders – obwohl wir oft einfach weiter so organisiert arbeiten und lehren, als seien noch physische Papierunterlagen Arbeits- und Wissensgrundlage… . Für Lernende ist die Verfügbarkeit des Wissens nicht wie früher auf die Fachlehrkraft oder die Bibliothek beschränkt. Mitarbeitende sind sich gewahr, dass die Unterlage nicht mehr physisch limitiert in einer fixen Version durchs System laufen muss, sondern sie in einem elektronischen Ordner verfügbar…. wäre, wenn man denn die Zugriffsberechtigung hätte. Alle Beteiligten könn(t)en jederzeit, in nicht fester Folge, synchron oder asynchron und ortsunabhängig zugreifen – und nicht nur rezipieren, sondern sogar direkt und aktiv produzieren, kommentieren, kollaborieren und beitragen. Zumindest theoretisch ist das einfach möglich. Praktisch ist es etwas schwieriger. Denn tradierte Strukturen stoßen da an ihre Grenzen. Sie sind nicht auf nicht-lineare, uneindeutige, nicht-im-Voraus-durchgeplante Strukturen oder gar Komplexität ausgerichtet.
Nicht-Linearität ist in einer VUKA-Welt, die digitale Logiken als Leitkultur adoptiert, immer öfter nicht die Ausnahme, sondern Regel. Damit man die damit verbundenen Vorteile nutzen kann und das auch zielführend ist, müssen die Beteiligten kompetent miteinander interagieren, um Muster zu erkennen und mit diesen zu arbeiten – entlang dem Thema, seiner Zielsetzung und dem gewünschten Produkt.
Nicht-Linearität ist in einer VUKA-Welt, die digitale Logiken als Leitkultur adoptiert, immer öfter nicht die Ausnahme, sondern Regel.
Nicht entlang fixer Hierarchie, Klassenstufen, (Bildungs-)Pläne oder Strukturen. Sondern situations- und zieladäquat. Es entsteht verstärkt (und je nach Themenbereich, Zielbild und Entwicklungsgeschwindigkeit der relevanten Umfelder unter Umständen wechselnder) Bedarf an Kooperation, Ko-Kreation⁰5 oder komplementärer Zusammenarbeit.
Definitionen darüber, was ‘agil’ denn nun sei, gibt es zahlreiche.
Agil kann dann Sinn machen, wenn ich in VUKA-Lagen agiere oder lerne. Agil heisst unter anderem, mit den realen verfügbaren Personen, ihren Kompetenzen und Möglichkeiten sich in kurzen Rhythmen zu organisieren, auf ein Ziel hin zu handeln, das sich erst, weil potentiell Weiterentwicklung oder anderer Veränderung unterworfen, nach und nach schärft. Dabei in Teilprodukten zu denken (nicht so sehr in Aufgaben), sehr regelmässig in kurzen Iterationen aktiv das Produzierte auszuprobieren, es aus unterschiedlichen Nutzenannahmen zu überprüfen, allfällig nachzujustieren, anzupassen oder zu verwerfen. Variables und ‘Weiches‘ früh im Prozess sichtbar zu machen. Jederzeit der tatsächlichen Situation
mit allen ihren Veränderungen unterwegs
möglichst nahe und angemessen— deshalb agil eben.
‘Agil’ ist nicht in erster Linie ein Methodenkanon. Agilität stellt Ansprüche an Haltung.
Und setzt eigene Prioritäten im Umgang mit klassischen Arbeitsthemen. In einer Anpassung des Agilen Manifests⁰6 auf die Welt außerhalb der Softwareentwicklung lässt sich das so formulieren:
Wir finden zu erst benannten Werte wichtig, schätzen die Werte nachtfolgenden Were aber höher ein:
- Individuen und Interaktion werden noch höher gewichtet als (standardisierte) Prozesse und Tools.
- Dem aktiven Lösen eines gegebenen Problems kommt noch mehr Wert zu als der lückenlosen Rechtfertigungsdokumentation, den Forecasts und dem Plan.
- Tatsächliche praktische Zusammenarbeit erzeugt noch mehr Wirkung als Verträge oder Reglemente.
- Das adäquate Reagieren auf Veränderung hat mehr Sinn und Legitimation als das punktgenaue Erfüllen und Abarbeiten einer Planung.
Heinz Bayer vom Forum Agiles Lernen und Lernen [mehr von ihm im Teil 3 dieses Buches] hat das weiter zugespitzt auf den Lebensraum Schule:
- Menschen und Interaktionen stehen über Didaktik und Methodik
- Funktionierendes Leiten, Lehren, Lernen und Forschen steht über Protokollen und Dokumentationen
- Erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Kunden (Schüler/innen, Student/innen) steht über dem krampfhaften Blick auf Leistungsmessung.
- Schnelles Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines langfristigen Plans.07
Beispiel? Beispiel!
Die Art, wie eine Aufgabe gestellt oder ein Auftrag erteilt wird, beeinflusst auch die Art, wie damit umgegangen wird und wie das Produkt der Aufgabenstellung aussieht. Klassisch geschieht das oft mit detaillierten Anforderungen. So haben aufgabenstellende Instanz und Auftragnehmende das Gefühl, zu wissen, was entstehen wird:
“Macht die Mona Lisa.“ Man nennt dieses Vorgehen ‘Big Design Upfront’. Wenn das Schlussresultat geklärt und spezifiziert ist, wird das Vorgehen geplant und begonnen zu arbeiten. Auch Bildungspläne funktionieren so. Und die Leistungsmessung basiert dann auf der Abweichung von den ursprünglichen festgeschriebenen Anforderungen.⁰8 Allerdings – so erkennt man an der bildlichen Darstellung – sind damit auch Schwierigkeiten verbunden:
- Es ist prägend die aktuelle Expertise einer Instanz handlungsleitend.
- Dann ist die Kommunikation oft schwierig. Die wenigsten Lehrpersonen oder Auftraggeber können zeichnen wie Leonardo und so genau darstellen oder formulieren, was sie tatsächlich im Kopf haben.
- Wenn ein Verständnis denn erreicht ist, ist es mit derart ziselierten Vorgaben schwer möglich, tatsächlich kooperativ und arbeitsteilig zu arbeiten.
- Und unterwegs sind kaum Anpassungen möglich.

Wenn es aber wenig Spielraum gibt, weil das Produkt 1:1 genau sein muss, wenn die Auftragnehmenden Gleiches oder Ähnliches schon mehrfach so oder sehr ähnlich umgesetzt haben und auch das Umfeld sich nicht stark ändert, dann macht das absolut Sinn und ist hocheffizient. Schülerinnen und Schüler aber sind im Gegensatz zu ihren Lehrenden zumeist nicht vertraut mit dem zu Lernenden …
Die Darstellung einer agilen Vorgehensweise sieht bildlich im Vergleich so aus: Die Aufgabenstellung folgt dem Prinzip von ‘Enough Design Upfront’: „Eine Frau vor einer Landschaft, ästhetisch höchst ansprechend, etwas, was es sonst nirgends gibt, innovativ und einzigartig.“ Schwierig ist hier für alle sich darauf einzulassen, dass am Anfang noch nicht genau vorstellbar ist, wie das Produkt genau aussehen wird. Dennoch wird gestartet.

Nach einer ersten Iteration kann der Erstentwurf mit Aufgabenstellenden und anderen am Produkt aus Gründen Interessierten oder Fachpersonen unterschiedlicher Couleur getestet werden:
- Aufgabenstellende: „Ja, so ungefähr hab ich mir das vorgestellt. Aber die Berge sind zu spitz und aggressiv.“
- Gesichtsexpertin: „Die Hand verdeckt die Lippen, die aber sehr attraktiv sind. Vielleicht solltet ihr die Lippen zeigen und die Hand da wegnehmen.“
- Das bedeutet auch, dass stetig diverse Fachlichkeiten – und nicht „nur“ der Kenntnisstand der aufgabenstellenden Instanz – Eingang finden können in die Entwicklung des finalen Produktes.
- In einer zweiten Iteration werden die Rückmeldungen verarbeitet und weiterentwickelt. Im Wechsel von der zweiten zur dritten Iteration wird die Basisskizze für gut befunden und nun in die Tiefe gearbeitet.
- Nach der dritten Iteration kommt die Rückmeldung, dass ein anderes Team auch gerade ein Produkt in rot entwickelt.
- Teammitglied mit Aufgabe Umfeldbeobachtung: „Die rote Robe geht nicht. ‘Rot’ widerspricht jetzt seit neuestem dem Auftragsteil ‘einzigartig’.“
Hätte man zu Beginn des Auftrages mit Big Design Upfront „rot“ noch beauftragen können für ein neuartiges Produkt, hat sich dieser Aspekt nun geändert. Dem kann ohne Planänderung oder ungeplante Zusatzaufwände Rechnung getragen werden. Die Arbeit kann aufgeteilt und kollektiv organisiert werden. Und wenn das Produkt erstellt ist, entspricht es dem aktuellen Stand. Die Leistungsmessung basiert dann auf internen und externen Feedbacks zum Produkt und intern in einer internen Bewertung des gemeinsamen Prozesses. Nicht als abschliessende Bewertung, sondern zukunftsgerichtet – wie könnten wir nächstes Mal vorgehen, damit es uns, den Beauftragenden und dem Produkt gut und noch besser gehen kann.
Was agile Haltungen und Methoden leisten können, ist, …
…, dass sie wichtige Blickwinkel und Aspekte als faktische Bausteine oder Gefässe benennen, priorisieren und fest in Methoden und Prioritäten zu integrieren verstehen. Aspekte wie:
- die Anpassung an Änderungen oder an Unerwartetes, zum Beispiel durch die Organisation des Arbeitens in kurzen Rhythmen (Iterationen oder ‘Sprints’),
- die Bearbeitung einer akuten Situation mit ihren realen Möglichkeiten anstatt einer Absolutheitsannahme von vorgefertigten Plänen und Fachstandards, z.B. durch Reviews und Retrospektiven:
- das Sichtbarmachen und Visualisieren von Arbeitsprodukten, Abläufen und Ideen und das kollektive Nutzen von sog. Fehlern als Ressource mit Kanbanboards oder anderen kollektiven, transparenzgesteuerten Methoden;
- der Einbezug von Anspruchsgruppen, Lernenden, Nutzern oder anderen in der Organisationsstruktur nicht automatisch anwesenden Parteien in regelmässigen und verpflichtenden Reviewgefässen und in crossfunktionalen Verlaufsteams;
- methodisch zugeordneter Raum bzw. Gefässe zum Ausprobieren und Entwickeln der Zusammenarbeitsqualität, des gegenseitigen Kennens und damit auch alternativer Wege und innovativer Varianten;
- Ko-Kreation, Kooperation und Interaktion und deren Wert als zentrale und sichtbare Werkzeuge über eine betont fehlerfreundliche Kultur, methodengestützte Selbstorganisation hin zur geteilten kollektiven Entscheidfindung und Verantwortung;
- Menschen mit ihren Motivationen, Angeboten, Ressourcen, Kompetenzen und Ideen als Teil der Leitkultur durch eine hohe Priorität von Zusammenarbeit, kollektiver Selbstverantwortung und durch Gefässe, die nach just diesen Perlen bewusst mehr suchen als nach Defiziten oder „schuldigen“ Fehlerverursachenden;
- all das sind im agilen Denken nicht Störungen, Zusatzaufwände oder gar Abweichungen von der geplanten und/oder theoriebasierten Ideallinie und damit unerwünscht.
Das sind nicht „nur“ Werte, die unter Umständen schwer greifbar und schwer operabel zu machen sind. Sie sind in den Methodiken und Konzepten als Instrument und Ressource sicht- und nutzbar eingebaut.
Solche elementare Aspekte sind bekannt. Sie kippen aber, als aufwändig oder „weiche Faktoren“ deklariert, schnell einmal von der Tischkante zugunsten von Noten, Zahlen, Planerfüllung und zu befolgenden Standards,
- weil sie nur schwer in eine vermutet objektive Beurteilungsstruktur oder Rechenschaftslegung passen;
- weil sie nicht als ‚Best Practice‘ oder Standard übertragbar sind und weil man sie nicht als Rezept einkaufen – oder verkaufen – kann. Sie müssen situationsnah und immer wieder erarbeitet werden;
- weil sich für individuelle Einzelfälle der Aufwand nicht zu lohnen scheint – wir denken auch in Bildungsorganisationen in grösseren Einheiten und Systemgrenzen und glauben, dabei nicht auch die Situation und die beteiligten Menschen in den Mittelpunkt stellen zu können;
- weil sie Zeit und Entwicklungsraum brauchen und unter Zeitdruck als lästig, aber nicht mehr als produktiv etikettiert werden.
Es kann nicht darum gehen, zwanghaft alles agil zu machen, weil es modern scheint.
Es geht darum, in bestimmten Situationen und Umfeldentwicklungen, die von Komplexität und Transformation geprägt sind, agile Handlungsoptionen zu kennen bzw. zu lernen. Seien es individuell kleine vor Ort oder gesamtgesellschaftliche, technologische etc. grössere, in Bildung, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Die hergebrachte faktische Kraft und Gültigkeit des Bestehenden, zum Beispiel des gedruckten Wortes, nimmt ab. Aufgabe ist, Werte- und Methodendiskussionen zu führen und adaptive adäquate Lösungsansätze zu (er-)finden – immer wieder. Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte – weniger denn je. Tüftler und Erfinder bekommen wieder Konjunktur.
Es kann nicht darum gehen, zwanghaft alles agil zu machen, weil es modern scheint.
Um ein kollektives Selbstbewusstsein wiederzuerlangen, das dem Primat von Rezepten‘, starren Rechenschaftslegungsnormen und übermächtigen Standards gegenüber bestehen kann, bietet Agilität zusätzlich Werte und Methoden, die situationsadäquat ihren Schwerpunkt setzen und mit vorwärtsgerichteten Veränderungsdynamiken und Komplexität umgehen. Und die – im passenden Fall – eingesetzt werden können.

01 https://www.youtube.com/watch?v=N7oz366X0-8&ab_channel=CognitiveEdge, abgerufen am 18.10.2020
02 Prof. Dr. Michèle Morner, Manuel Misgeld: „Selbststeuerung als Lösungsansatz“,
Innovative Verwaltung 7-8/2017, S. 10-12 zitiert nach: https://agile-verwaltung.org/2017/11/02/rezension-komplex-ist-wenn-wir-etwas-tun/. abgerufen am 15.10.2020.
03 https://verlag.zeit.de/freunde/ausblick/freunde-der-zeit/die-zeit-bildungswerkstatt-was-sollen-wir-heute-lernen/ abgerufen am 02.12.2018
04 https://youtu.be/zDZFcDGpL4U?t=15
05 Das Prinzip der Ko-Kreation bedeutet, dass ein Produkt (oder ein Lernprozess) in tatsächlicher Zusammenarbeit zwischen Anbietenden und Nutzenden / Kunden / Lernenden entwickelt wird.
06 https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html
07 https://agile-verwaltung.org/2017/12/07/forum-agiles-leiten-lehren-lernen-und-forschen/ abgerufen am 18.10.2020
08 Bilddarstellung der Mona Lisa frei nach: https://wikiagile.cesi.fr/index.php?title=Mona_Lisa_repeinte_encore_et_encore, abgerufen am 29.10.2020, Gesamtillustration V. Lévesque
Abbildungen in diesem Kapitel von V. Lévesque

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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