Bernhard Leicht
Die vier nordwestschweizer Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt und Solothurn haben ihre bildungsbezogene Zusammenarbeit innerhalb des „Bildungsraums Nordwestschweiz“ organisiert. Darin nehmen sie unter anderem die gemeinsame Trägerschaft der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz wahr. Auf Volksschulebene existieren verschiedene Arbeitsgruppen. Eine davon beschäftigte sich mit Schulführung und Schulstruktur.
In allen vier Kantonen sind geleitete Schulen inzwischen etabliert. Die Schulleitungen tragen die Verantwortung im pädagogischen, personellen, administrativen und organisatorischen Bereich. In den vier Kantonen hat sich mehr und mehr gezeigt, dass der Bereich der pädagogischen Führung näherer Präzisierung bedarf. Was ist damit genau gemeint? Was macht pädagogisches Führungshandeln aus? Worin unterscheidet es sich von Führungshandeln allgemein?
Diesen Fragen sollte sich die Arbeitsgruppe widmen. Auf der Suche nach Antworten haben wir uns an Norbert Landwehr gewandt. Er hat zusammen mit Peter Steiner das Qualitätssystem Q2E (Qualität durch Entwicklung und Evaluation)[01] entwickelt. In Zusammenarbeit mit den vier Kantonen entstanden im weiteren Verlauf Qualitätsraster[02] zu unterschiedlichen Themen. Norbert Landwehr beschäftigte sich gerade intensiv mit der Frage der Schulkultur, wobei sein Hauptaugenmerk dabei auf gelingendem Unterricht lag. Er brachte uns Willkes Theorie der Kontextsteuerung als möglichen Ansatzpunkt für die Lösung unserer Fragen nahe.
Der Ausgangspunkt für Kontextsteuerung ist die Überlegung, dass die Steuerung komplexer Systeme am besten gelingen kann, wenn die Autonomie und „Eigen-Sinnigkeit“ der verschiedenen Organisationseinheiten respektiert wird und Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich die Selbststeuerung der Systeme entfalten kann.
Aus der dann folgenden Zusammenarbeit entstand das Papier „Pädagogische Schulführung – Impulse für die Reflexion der Führungspraxis“[03]. Es sollte bewusst eine Reflexionshilfe und kein Konzept sein. Im Lauf der Erarbeitung haben wir mit Gruppen von Schulleitungen zusammen die zugrundeliegenden Gedanken mehrmals validiert und angereichert. Die Rückmeldungen aus diesen Arbeitsphasen bestätigten, dass wir mit dem Thema goldrichtig lagen. Das eigentlich Wertvolle lag für die Schulleitungen in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Thema in den Arbeitssequenzen. Kurz gesagt: Die AhA-Effekte entstanden nicht beim Lesen, sondern bei der ernsthaften und intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema. Für die Metaebene: Wie lernen eigentlich wir Verantwortlichen für die Organisation von Bildung am effektivsten? Welche Interventionen sind hier die wirkungsvollsten?
Im Kern bedeutet Kontextsteuerung Einflussnahme durch bewusste Gestaltung der Kontextbedingungen bei weitestgehendem Verzicht auf Direkteingriffe.
Der Ausgangspunkt für Kontextsteuerung ist die Überlegung, dass die Steuerung komplexer Systeme am besten gelingen kann, wenn die Autonomie und „Eigen-Sinnigkeit“ der verschiedenen Organisationseinheiten respektiert wird und Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich die Selbststeuerung der Systeme entfalten kann[04]. Genauso nötig wie ein hohes Mass an Autonomie und Entscheidungskompetenz für die einzelnen Teilsysteme ist die Verpflichtung der Teilsysteme ihrerseits auf das Gesamtsystem hin.
Übertragen auf das Feld der pädagogischen Schulführung haben sich für uns die folgenden Handlungsperspektiven herauskristallisiert:
- Sicherung des individuellen Gestaltungsraums
- Zurückhaltung bei direkten Eingriffen
- Anwalt des Gesamtsystems
- Aushandeln des gemeinsamen Rahmens
- Anstossen/Einfordern differenzierter Praxisreflexion
- Führung über persönliche Kontakte
- Befristete Suspendierung der Selbststeuerung als Ausnahmeregelung
Gerade der letzte Punkt bedarf einer sorgfältigen Klärung von „No Goes“. Ziel von Kontextsteuerung sind wenige aber verbindlich geltende Regelungen. Die Klärung roter Linien mit Hilfe von No Goes hilft, einen Mindeststandard zu sichern, ohne den Gestaltungsraum jenseits der roten Linien unnötig zu beschneiden.
Die wichtigste Intervention ist differenzierte Praxisreflexion. Sie sorgt für den Austausch und das Wissen über verschiedene Ansätze, deren Wirksamkeit und das Lernen voneinander. Spätestens hier sind wir bei Hattie angelangt. Dieses Vorgehen entspricht der seinen Studien entsprechend wirksamsten Intervention auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler überhaupt: der Zusammenarbeit im Kollegium mit dem Fokus auf die Lernwirksamkeit des individuellen und gemeinsamen Handelns.
Daher ist natürlich auch das Aushandeln des gemeinsamen Rahmens ein entscheidender Gelingensfaktor. Dabei zu beachten sind die Grenzen der eigenen Organisation. Ausgehandelt kann nur werden, was in der Kompetenz der Organisation, hier einzelnen Schule, liegt. Rahmenvorgaben außerhalb dieser bedürfen anderer Vorgehensweisen.
Nachdem wir das Produkt erarbeitet hatten und erste ermutigende Rückmeldungen dazu bekommen hatten, stellte sich für jeden Kanton die Frage, wie die nächsten Schritte aussehen sollten. Im Kanton Basel-Landschaft führen wir mehrmals im Jahr Schulleitungsforen durch. Sie dienen der Weiterbildung, der Vernetzung und dem Austausch mit der Bildungsverwaltung. Sie werden gemeinsam von den Vorständen der Schulleitungskonferenzen und dem Amt für Volksschulen organisiert. Die Teilnahme ist freiwillig. Es sind jedoch regelmäßig die meisten Schulen durch mindestens ein Schulleitungsmitglied vertreten. Das Schulleitungsforum im Mai 2018 widmeten wir dem Thema Kontextsteuerung und luden Norbert Landwehr als Referent dazu. Neben seiner Einführung wollten wir unseren Erfahrungen entsprechend direkt für die Auseinandersetzung mit dem Thema sorgen und ließen dafür entsprechend Raum im Programm.
Die Resonanz war bemerkenswert. Ich kann mich an kein Schulleitungsforum erinnern, das mehr spontane unaufgeforderte positive Rückmeldungen nach sich gezogen hätte. Häufiger lauteten sie in der Richtung, dass hier etwas formuliert wurde, was ziemlich genau den eigenen Vorstellungen entspricht, wie Schule geführt werden sollte. Andere fühlten sich in ihrem Führungsverständnis bestätigt. Überwiegende Einigkeit bestand darin, dass die Leistung der vorgestellten Systematik vor allem darin liegt, die Vorstellungen von Führung besprechbar und reflektierbar zu machen. Das systematisch erhobene Feedback zum Schulleitungsforum bestätigte diese zunächst eher informellen Rückmeldungen voll und ganz. Natürlich wurde in der Auseinandersetzung im Schulleitungsforum wie auch im Feedback auf die Herausforderungen und Ansprüche hingewiesen, die ein solches Führungsverständnis für die Schulleitungen aber auch für die Kollegien mit sich bringt. Praxisreflexion in der beschriebenen Weise ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit an den Schulen in Baselland. Auch die Suspendierung der Selbststeuerung wurde als große Herausforderung für die Praxis taxiert.
Deutlich wurde aber, was sich auch schon während der Erarbeitung der Reflexionshilfe abzeichnete: es gibt keine Schulführung und daneben noch eine pädagogische Schulführung. Wenn pädagogisch geführt wird, betrifft dies die gesamte Führung. Pädagogische Führung findet ihren Ausdruck in einer entsprechenden Haltung. Kontextsteuerung kann nicht teilweise praktiziert werden.
Ich bin überzeugt, dass eine Klassenführung, die sich an den Prinzipien der Kontextsteuerung ausrichtet, eine Pädagogik und Unterricht auf Höhe der Zeit ermöglicht.
Was hat jetzt Kontextsteuerung mit Agilität zu tun? Erst einmal nichts. Bei genauerer Betrachtung aber eine ganze Menge. Kontextsteuerung ist ein Ansatz, der den operativ Verantwortlichen ermöglicht, Hattie umzusetzen und agil zu handeln. Das Moment der Reflexion verbunden mit selbst verantwortetem Gestaltungsraum stellt einen idealen Rahmen dar, um Interventionen, wie sie von Hattie beschrieben werden in die Tat umzusetzen. Ein weiteres Zeichen dafür ist der Umstand, dass dieser Ansatz durchgängig funktioniert von der Bildungsgesetzgebung über die Schulaufsicht bis in den Unterricht hinein. Ich bin überzeugt, dass eine Klassenführung, die sich an den Prinzipien der Kontextsteuerung ausrichtet, eine Pädagogik und Unterricht auf Höhe der Zeit ermöglicht.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass sich ein solcher Ansatz nicht verordnen lässt. Unsere Bemühungen auf Ebene der Bildungsverwaltung zielen daher darauf, die Schulleitungen zu ermutigen, sich mit diesem Ansatz auseinanderzusetzen. Das Prinzip des Führens über persönliche Kontakte scheint mir auch hier ein vielversprechender Ansatz zu sein. Gleichzeitig bieten wir Weiterbildungsformate, die speziell dazu geeignet sind, Schulen auf dem Weg zu ihrem pädagogischen Profil zu unterstützen: Luuise[05] als Verfahren, das direkt im Unterricht zur Anwendung kommt. Ein weiteres Format besteht in begleiteten Selbstevaluationen[06]. Wir finanzieren eine kompakte Form der internen Evaluation begleitet durch Evaluationsexperten der PH FHNW. Das besondere dabei ist, dass die Schule den Gegenstand und die Fragestellung der Evaluation selbst wählt. Die Evaluationsexperten begleiten eine Arbeitsgruppe der Schule, die den Prozess an der Schule durchführt. Es kommen so professionelle Instrumente und Verfahren zum Einsatz. Die Rückmeldungen zu beiden Formaten sind sehr gut. Beide unterstützen die Stossrichtung von Kontextsteuerung, da sie den Ansatz des Empowerments der direkt Betroffenen unterstützen. Selbstwirksamkeitserleben auf allen Ebenen verbunden mit einer Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung für künftige Vorhaben sind die Ergebnisse.
Für die Bildungsverwaltung besteht die Herausforderung, Gesetzesvorlagen und weitere Vorgaben, den Prinzipien der Kontextsteuerung entsprechend zu formulieren und bei den Entscheidungsträgern dafür zu werben, diese Prinzipien zu berücksichtigen. Hier gibt es Fortschritte. Allerdings gibt es immer auch wieder Rückschritte, da politische Prozesse häufig anderen Gesetzmässigkeiten unterliegen.
Insgesamt scheint uns der Ansatz der Kontextsteuerung erfolgversprechend. Er unterstützt die Idee teilautonomer geleiteter Schulen. Mit dem Instrument des Schulprogramms verfügen die Schulen bereits über die Möglichkeit ihre Gestaltungsräume zu nutzen und zu legitimieren.
Literaturverzeichnis
[01] https://www.q2e.ch/
[02] http://web03.fhnw-ph.ch/orientierungsraster.cfm
[03] https://www.bildungsraum-nw.ch/schwerpunkte/volksschule/copy7_of_downloads/brnw-leitsatze-zur-padagogoischen-schulfuhrung.pdf/download
[04] Vgl. Willke 2015
[05] Lehrpersonen unterrichten und untersuchen integriert, sichtbar und
effektiv: https://www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/
paedagogik/institut-weiterbildung-und-beratung/integrierte-schul-und-
unterrichtsentwicklung-luuise
[06] http://web03.fhnw-ph.ch/begleitete_selbstevaluation.cfm

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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