Friedemann Stöffler und Matthias Förtsch
Schule als System kann nur agil sein, wenn die Akteure in diesem System eine agile Grundhaltung haben und diese auch leben. Was genau unter Agilität zu verstehen ist, ist in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus umstritten. Es scheint jedoch eine Tendenz zu geben, der Praxis bei der Definition des Begriffs den Vorrang zu geben, denn es geht um ein konkretes Handeln, in dem sich diese Grundhaltung zeigt, zum Beispiel in der Frage, wie eine Schule ihre eigene Entwicklung vorantreibt, wie die Schule als Institution ihr eigenes Lernen gestaltet oder wie der Unterricht konkret organisiert wird.
Agile Grundhaltungen in der Schulentwicklung
Viele Schulen sind alles andere als agile Systeme. Oft sind sie streng hierarchisch organisiert mit einem klaren Delegationsprinzip und Gremien, die über die wesentlichen Fragen der Schule und der Schulentwicklung zu entscheiden haben. Diese Prinzipien widersprechen grundsätzlich einer agilen Haltung. Zwar ermöglichen Gremien formal die Beteiligung aller am Schulleben beteiligter Gruppen, aber eben nicht aller Personen, die hier ihre Kompetenzen und Energie mitbringen.
Ein vielleicht etwas plakativer Vergleich: Wer meint, dass Elternvertreter Eltern vertreten können, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Es gibt eben keine Vertretung für Menschen, die ihre Energie mitbringen für eine bestimmte Sache. Nehmen wir ein fiktives Beispiel:
Anne Kantereit, die Mutter von Schülerin May, hat für den Prozess der Digitalisierung von Schule Kompetenzen (weil sie sich in der Materie sehr gut auskennt auch geschäftlich mit digitalen Konzepten zu tun hat) und außerde eine bestimmte Position, die sie gerne in den Prozess einbringen würden, sie ist aber nicht Elternvertreterin. Die Mutter müsste es im Klassenpflegschaftsabend einbringen, der Elternvertreter leitet es weiter in die Elternbeiratssitzung und so kommt das Ganze dann vielleicht (!) irgendwie in die Schulkonferenz. Am Thema arbeitet aber eigentlich die Steuerungsgruppe, die ausschließlich aus Lehrer*innen besteht. Die Schulleitung bringt dann die Position, wenn es gut geht, irgendwann in die Steuerungsgruppe ein. Auf diesem Wege geht leider sehr viel verloren:
- Zeit: Bis die Idee alle Stufen durchlaufen hat, dauert es mehrere Monate.
- Kompetenz: Die Kompetenz, die Frau Kantereit hat, kommt überhaupt nicht zum Tragen.
- Energie, die sie einzubringen hat mit ihrer Position ist komplett verloren gegangen, es ist im Gegenteil daraus eher Frustration auf allen Seiten erwachsen: Bei Frau Kantereit, weil sie keine Chance sieht, ihre Position ins Spiel zu bringen, vielleicht auch bei der Schulleitung, weil diese Frau durch ihr Bedürfnis, hier mitreden zu wollen, das System stört und auch bei der Steuerungsgruppe, weil da von außen jemand es doch immer besser weiß und sie nicht in Ruhe arbeiten können.
Auf diese Art und Weise kann sich keine agile Haltung entwickeln. Diese ist nämlich gekennzeichnet durch die Priorisierungen, wie sie im agilen Manifest beschrieben sind. Dies wird an anderer Stelle in diesem Buch beschrieben. Auf Schulentwicklungsprozesse übertragen bedeutet dies für uns:
- Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Gremien und hierarchische Struktur. Das zeigt sich z.B. darin, dass Schulentwicklungsprozesse nicht von Gremien getragen werden können (s.u.)
- Das Funktionieren des Schullebens ist wichtiger als umfassende Dokumentation. Protokolle und umfassende Dokumentationen sind also weniger bedeutend als gelungene Projekte, bei denen sich möglichst alle einbringen.
- Zusammenarbeit mit allen am Schulleben Beteiligten ist wichtiger als Regelungen und Zuständigkeiten. Möglichst alle sollen sich in Schulentwicklungsprozesse einbringen können. Das ist uns wichtiger als klare Strukturen, wer wo für was verantwortlich ist und welche Entscheidungsbefugnis hat.
- Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans. Eine Vision von Schule ist wichtig, vor allem sind Visionäre wichtig, die immer wieder ihre Vorstellung von Schule ins Spiel bringen. Wer aber zu langfristig und zu starr an Zielen und festen Plänen festhält, kann nicht flexibel genug auf Veränderungen in Gesellschaft und Schule reagieren, sowohl bei den handelnden Menschen als auch bei den technischen Möglichkeiten. 01
Fokussieren wir den Aspekt der Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern und auch den Eltern. Eine agile Sichtweise zeigt sich in der Wahrnehmung, dass alle, die in Schule tätig und mit der Schule verbunden sind, eine eigene Perspektive auf die Schule haben, die durch nichts und niemand ersetzt werden kann. Deshalb sollen alle, die sich in einen Schulentwicklungsprozess einbringen wollen, sich dabei auch einbringen können. Alle, das heißt: Jeder Schüler, jede Lehrerin, alle Eltern, aber auch sonstige Mitarbeiterinnen an der Schule aus Verwaltung, Haustechnik und Schulträger.
Wir brauchen aber eine Haltung, die im Blick hat, dass wir unter Einbeziehung aller Positionen letztlich im Gespräch zur bestmöglichen Lösung kommen.
Es kann für Schulentwicklungsprozesse nur befruchtend sein, wenn diese Perspektiven – und mögen sie auch ganz gegensätzlich sein, miteinander ins Gespräch kommen. Oft erlebt man, dass man versucht, Positionen, die den Entwicklungsprozess scheinbar behindern, möglichst nicht zur Wirkung kommen zu lassen. Das aber ist ein fataler Ansatz, auch wenn man gut versteht, dass man die Kritikerin und den Nörgler nicht gerne im Boot hat. Wir brauchen aber eine Haltung, die im Blick hat, dass wir unter Einbeziehung aller Positionen letztlich im Gespräch zur bestmöglichen Lösung kommen.
Wir haben für uns im Laufe der Zeit am Evang. Firstwald-Gymnasium in Mössingen, das für seine Schulentwicklung 2010 Preisträgerschule des Deutschen Schulpreises geworden ist, einige Grundprinzipien entdeckt und entwickelt, die helfen sollen, eine agile Haltung zu entwickeln.
Leitprinzipien für Schulentwicklungsprozesse
Diese zehn Leitprinzipien füllen ein eigenes Buch02. Hier können wir nur zwei grundlegende Prinzipien entfalten:
- Nicht Gremien können Träger agiler Schulentwicklung sein, sondern offene Foren. Gremien wie die Lehrerkonferenz oder Elternbeirat oder Schulkonferenz sind wichtig, um Entscheidungen zu treffen. Sie können aber den Prozess der Schulentwicklung – und schon gar nicht die Beteiligung aller Interessierter – gewährleisten. Aber was ist die Alternative?
Das sind offen tagende Foren, in denen sich alle Interessierten, Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, einbringen können. In dieser Form tagt auch eine meist jährlich stattfindende 24-stündige Schulentwicklungsklausur. Alle wesentlichen Entwicklungen an der Schule werden in dieser Schulentwicklungsklausur im besten Fall sehr kontrovers diskutiert und dadurch zur Entscheidungsreife gebracht. Auch das Schulentwicklungsteam tagt immer offen für alle Interessierten. - Nur aus Chaos kann neuer Kosmos entstehen. Wir müssen Raum für Chaos schaffen. Eigentlich haben wir alle es gerne ganz schön geordnet, mit klaren Zuständigkeiten und mit Einhaltung des Dienstweges. So funktionieren aber agile Systeme nicht. Nur wenn wir Raum für Chaos lassen, kann Neues entstehen und kommen gute Ideen zusammen. Barcamps bzw. „Unkonferenzen“ sind Formate, die genau nach diesem Prinzip arbeiten. In den Pausen geschieht das Wesentliche, da unterhält sich z. B. die Schülerin Emily mit Herrn Mayer, einem Vater, kontrovers über die Frage von Smartphonenutzung in der Schule. So schaffen wir Raum für chaotische Begegnungsstrukturen in allen Foren. Wir schaffen Orte, wo alle mit ihren Ideen, aber auch ihrem Ärger und Frust willkommen sind. Was sind die notwendigen Instrumente dafür?
Startups sind in der Wirtschaft in der Zwischenzeit meist die Treiber von Innovation. Machen wir uns im schulischen Kontext Gedanken, was in unseren Strukturen solche Startups sein könnten:
- Eine „Chaotentruppe“ von 3-5 Schülern, die alternative Lernformen oder alternative Formen zur Leistungsmessung für ihre Klassenstufe entwickeln und das dann im Forum Schulentwicklung vorstellen.
- Eine Gruppe von Eltern, die sich bei einem Glas Wein zusammensetzen, und ein neues Grundkonzept der Ganztagesstruktur dabei als Ergebnis herauskommt.
- Im Lehrerzimmer gibt es eine Sofaecke, in der man sich gemütlich bei einer Tasse Kaffee unterhalten kann.
Das sind nur drei ganz einfache Beispiele, die tagtäglich stattfinden. Aber häufig bleiben solche Begegnungen ohne Auswirkung, weil die Instrumente zur Unterstützung der Agilität an den Schulen fehlen, dass daraus mehr werden kann. Wo ist der fruchtbare Boden, auf den diese kostbaren Samen fallen können? Das muss unsere entscheidende Frage sein.
Also sollten Schulen sich mit den beiden Fragen beschäftigen:
a) Wo sind die Orte, die „Ursuppe“, in der neue Ideen entstehen können?
b) Wo ist der Boden? Wo sind die agilen Strukturen, in denen es leicht fällt, solche Ideen einzubringen?
Agilität im Unterricht
Schulentwicklung kann nicht auf der strukturellen Ebene stehenbleiben. Eine agile Haltung muss sich auch auf der Ebene des Unterrichts, in der Unterrichtsentwicklung, niederschlagen.
Schulentwicklung kann nicht auf der strukturellen Ebene stehenbleiben. Eine agile Haltung muss sich auch auf der Ebene des Unterrichts, in der Unterrichtsentwicklung, niederschlagen. Auf dieser Ebene fällt es Schulen oft noch schwerer, Agilität zu leben. Unterrichtseinheiten werden gerne über Wochen im Voraus geplant, die Abschlussprüfungen geben den Takt, die zu lernenden Inhalte und Methoden sowie z. T. auch die Materialien vor. So scheint es zumindest.
Denn eigentlich weiß ich ja nicht, was die Schülerinnen und Schüler nächste Woche gelernt haben werden, ich müsste also flexibel reagieren. Ich weiß auch nicht, ob sie das Thema oder der von mir gewählte Zugang so packt, dass sie mit Freude lernen. Wir unterliegen zu häufig dem Input-Output-Trugschluss: Wir meinen, die Schülerinnen und Schüler hätten etwas gelernt, weil wir es unterrichtet haben.
Unterrichtsplanung sollte sich also in Richtung einer agilen Didaktik entwickeln. Ein Beispiel dazu von Christof Arn. Das Setting soll so sein, dass man sich vorstelle, ein Nachbar sei daran interessiert, was man unterrichtet. Nach dem Abendessen kommt er vorbei, um mehr zu erfahren.
“Während Sie nun erklären, um was es geht, werden Sie immer Kontakt halten. Auf keinen Fall werden Sie weiterreden, wenn Sie wahrnehmen, dass er sich nicht mehr interessieren würde! […] Sie würden stets offen sein für Fragen. Sobald sie denken, er könnte etwas fragen, erwidern, ergänzen wollen, würden Sie innehalten und dafür Raum geben. Je mehr sich das Ganze zu einem Gespräch entwickelt, je dialogischer es wird, vor allem dann, wenn dabei viel von der Thematik besprochen und geklärt werden kann, umso glücklicher werden Sie mit dem Abend sein.“03
Überträgt man diesen Gedanken nun auf die „Planung“ des Unterrichts, so wird deutlich, dass der Plan vermutlich hauptsächlich darin bestehen kann, verschiedene mögliche Wege vorzudenken bzw. vorzubereiten, und ggf. im Moment zu entscheiden, welchen dieser Wege man wählen möchte, oder ob auch unterschiedliche Wege denkbar sind.04
Auch hier kommen agile Prinzipien zum Tragen. Hier einige Beispiele:
- Es wird Phasen geben, in denen (kreatives) Chaos herrscht, und gleichzeitig ist dieses Chaos eben ein sehr wichtiger Teil des Lernprozesses. Unsicherheit ist okay, Unschärfe zu Beginn ist okay, ein Anpassen des Plans ist okay.
- Teams dürfen sich z. T. selbst organisieren. Sie koordinieren sich z. B. mithilfe eines Kanban-Boards.
- Es herrscht eine Fehlerkultur, die ihren Namen verdient, und zwar auf Seiten der Lernenden wie auch bei den Lehrenden.
Wenn agile Prinzipien das Lernen bestimmen, dann können wir vermutlich auch nicht mehr von Unterricht als „Unterrichtung“ reden, sondern eher vom Vorleben einer Haltung zum Lernen.05

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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