Schul- & Unterrichtsentwicklung in der von COVID-geprägten Digitalität
Thomas Vatheuer
Einleitung
Das Handeln von Schulleitung steht ständig im Spannungsfeld verschiedener Einflussgruppen: Schüler*innen, Eltern, Kolleg*innen, vorgesetzte Dienstbehörde(n) und Schulträger haben alle berechtigte Interessen, über die Entwicklung einer Schule mitzureden. Auch andere Gruppen, Firmen und Vereinigungen haben oft Interesse daran, Inhalte, Methoden und Arbeitsmittel in der Schule zu beeinflussen.
Mit den neuen Medien bekommt ein Spannungsfeld zusätzliche Brisanz, nämlich das zwischen Innovation⁰1 und einem Schulsystem, das sich rund um das Buch als Medium entwickelt hat⁰2.
Wie an vielen anderen Stellen in der Gesellschaft hat COVID-19 auch im Bildungsbereich schonungslos Defizite offengelegt und den Innovationsdruck weiter erhöht. Das Bildungssystem ist an vielen Stellen veraltet und überlastet: Die Personalausstattung, Ausstattung der Gebäude und die digitale Ausstattung entsprechen größtenteils nicht den erwünschten Standards. Die Pandemie bewirkt nun einen erzwungenen Innovationsschub in den Schulen. In der Politik werden (zu) schnell Entscheidungen getroffen, die in den Jahren vorher bereits fällig gewesen wären – daraus ergeben sich für den Alltag an Schulen durchaus Probleme.
Trotz dieser Konflikte muss die Schulleitung handlungsfähig bleiben: Dass das Lernen der Kinder aufrecht erhalten werden muss, steht außer Frage. In der Öffentlichkeit verengt sich diese Diskussion jedoch allzu häufig darauf, dass der Schulbetrieb gewährleistet sein muss.
Wenn man „Schule“ als das Gebäude begreift, in dem die Lernenden ihrer Tätigkeit (dem „Lernen“) nachgehen, ergibt die folgende Anweisung des MSB des Landes NRW Sinn:
Distanzunterricht kommt nur bei einem durch SARS-CoV-2 verursachten Infektionsgeschehen in Betracht. Ist die Unterrichtsversorgung aus anderen Gründen angespannt, ist nicht auf Distanzunterricht, sondern die üblichen Instrumente zur Sicherstellung der Unterrichtsversorgung zurückzugreifen.
Der Schul- und Unterrichtsbetrieb in Präsenz hat absoluten Vorrang. Erst wenn nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten, Präsenzunterricht nicht oder nicht vollständig erteilt werden kann, findet Distanzunterricht statt. An diese Voraussetzung sind strenge Maßstäbe zu legen. Es sind alle Optionen zur Realisierung des Vorrangs von Präsenzunterricht zu nutzen.03
Dieses Zitat zeigt, dass es in der Schule offenkundig mehr um die Anwesenheit der Schüler*innen geht als um das Lernen dieser Personen – Konzepte zum Distanzlernen wurden schließlich in den letzten Wochen von den Schulen bereits erarbeitet.
Trotzdem müssen zeitgemäße Lernarrangements ermöglicht werden, um die Beziehung zwischen Schüler*innen und Lehrer*in auch in Distanzarrangements als wichtige Komponente des Schulalltags zu verankern.
Ich möchte Schule gerne als eine Idee, eine Gemeinschaft auffassen, mehr als nur als das Gebäude.
Wenn man sagt „ich gehe zur Schule“, meint man damit ja zweierlei:
- Ich begebe mich physisch jeden Wochentag dorthin.
- Ich bin in dem Alter, in dem es für meine Altersgruppe vorgesehen ist, an der Schule teilzunehmen.
Mein wichtigstes Anliegen für diese Zeit ist, dass wir uns bei den Diskussionen vor allem auf die zweite Aussage stützen. Die körperliche Anwesenheit zur mentalen Teilnahme an der Schule, zum Lernen, ist möglicherweise nicht immer nötig. Wie man als Schule den Weg dorthin für Schüler*innen und Lehrer*innen vorbereiten kann, möchte ich im Folgenden zeigen.
1. Spannungsfeld Schulleitung in der Digitalisierung
a. Die Bleistift-Metapher: Warum Radierer und Muffen aber auch die Spitze hinderlich sein können.
Eine der ersten Bildimpulse die mir bei meiner Anmeldung bei Twitter im Kontext Bildung und Schule begegneten, war die so genannte Bleistift-Metapher, hier in einer relativ aktuellen und ins Deutsche übersetzten Variante:
Die Bleistift-Metapher 04
Sie wurde und wird benutzt, um zu zeigen, wie sich bei der Implementation neuer Technologien Personen verhalten. Während sich ein Teil begeistert auf neue Medien stürzt und ausprobiert, muss die große Masse der Menschen erst aktiviert werden und auch Verhinderer kennt das System.
Dass man sich für den Umgang mit „Verweigerern“ oder „Radierern“ eine Strategie einfallen lassen muss, ist klar ersichtlich. Im Alltag hat sich aber auch gezeigt, dass sich die „Spitze“ oft ebenso schlecht für die breite Implementation von neuen Technologien in der Schule eignet. Es ist also bei der Entwicklung neuer Konzepte und Ideen an einer Schule stets mitzudenken, dass eine allzu innovative Speerspitze oft auch etliche Kolleg*innen auf der Strecke läßt.
Schule ist als System stark im Paradigma des Buchdruck-Zeitalters verhaftet: nahezu alle Bereiche des Schullebens haben sich diesem untergeordnet oder angeglichen.
Schule ist als System stark im Paradigma des Buchdruck-Zeitalters verhaftet: nahezu alle Bereiche des Schullebens haben sich diesem untergeordnet oder angeglichen. Beispielsweise ist die Ermittlung von Fehlstunden an einer Schule aufgrund der Tatsache, dass Kurs- und Klassenbücher nur einmal existieren, stark von Hin- und Herschieben von Datensätzen (hier: Fehlstunden) geprägt. Die Verwendung einer synchronisierten Datenbank mit entsprechendem Zugriff für die Lehrer*innen ändert dies und damit auch die Arbeitsweise, die sich daraus ergibt.

Diese Änderung macht vielen Beteiligten Unbehagen, weil sie gewohnte Prozesse hinterfragt und die Person herausfordert, Techniken und Geräte zu bedienen, mit denen man sich vielleicht nicht auskennt. Im Endeffekt würde die Änderung mit einer Arbeitserleichterung einhergehen, aber man wird gezwungen, die eigene Komfortzone zu verlassen.
Die Bleistift-Metapher bildet auch ab, was in Unterrichtsentwürfen und schriftlichen Arbeiten zu Examina eine „heterogene Lerngruppe“ genannt wird. Im Unterricht ist der Umgang mit dieser Heterogenität bereits angekommen: Referendare und Kolleg*innen sind bereits geschult darin, diese Heterogenität bei Schülergruppen zu erkennen und im Unterricht zu fördern. In Kollegien muss diese jedoch gleichermaßen Berücksichtigung finden.
b. (Berechtigte) Interessen und sich daraus ergebende Konflikte
Schulträger, Eltern, Lehrer*innen und Ministerium haben alle ein begründetes Interesse daran, ob und wie das Fortschreiten der Digitalität an einer Schule empfunden wird und müssen in die entsprechenden Prozesse eingebunden werden. Förtsch und Stöffler beschreiben in ihrem Buch „Die agile Schule“05 , wie dies idealerweise aussieht.
Digitalisierung ist aber für viele Beteiligte eine „dicke Kröte“, die man schlucken muss, denn sie kostet vergleichsweise viel Geld: Ausstattung von Schulen mit einer Glasfaser-Anbindung, WLAN im gesamten Schulbereich, Endgeräte für Lehrer*innen und Schüler*innen und der Support muss geleistet werden.
Die Lehrer*innen sollen also – wie der berühmte McGyver aus einem Draht, einer leeren Getränkedose und ein paar Büroklammern ein funktionierendes Konzept zur Digitalisierung samt Technik auf die Beine stellen.
Lehrer*innen müssen zusätzlich zu ihren didaktischen, fachlichen und administrativen Aufgaben auch die Fortbildung im Bereich „neue Medien“, die Anleitung der Schüler*innen in diesem Bereich und vieles mehr leisten, so dass die Digitalisierung von Schulen letztlich auch einen Einfluß auf die Personalausstattung hat.
Lehrer*innen müssen also zur pädagogischen Implementation der neuen Medien, die wohl ihrer Kernkompetenz entspricht, aber gegen die sich etliche Kolleg*innen oft aus verschiedenen Gründen sträuben (siehe „Bleistift-Metapher“) auch noch die Organisation von Käufen beim Schulträger mitorganisieren, den first oder second Level Support leisten, sich an Arbeitskreisen zur Implementierung beteiligen, regelmäßig zu diesem Thema fortbilden und allerhand weitere Dinge übernehmen, die eigentlich in den Fachbereich von Informatikern, Systemadministratoren oder kaufmännischen Angestellten fallen.
Die Lehrer*innen sollen also – wie der berühmte McGyver aus einem Draht, einer leeren Getränkedose und ein paar Büroklammern ein funktionierendes Konzept zur Digitalisierung samt Technik auf die Beine stellen.
2. Innovation – in der Digitalität wichtigstes Handlungsfeld der Schulleitung
Aus diesen Gründen ist Innovation meiner Meinung nach das wichtigste Handlungsfeld der Schulleitung. Wie wir am Bild der Bleistift-Metapher gesehen haben, gibt es an einer Schule ein typisches Bild der „Technik-Nutzer“: von der neugierig ausprobierenden bis zur abwertend und abwartenden Kolleg*in ist alles dabei- selbstverständlich in der Schülerschaft ebenso. Was sind also die wichtigsten Aspekte bei der Schulentwicklung in der Digitalität?
a. Innovation (neu?) gedacht: Lehrer*innen nicht mehr Wissensvermittler, Schule als Lern-Betrieb
Zugegeben: die Idee, dass Lehrer*innen an der Schule nicht nur Wissensvermittler sind, ist nicht neu. Aber das aus der Buchkultur entwickelte und in ihr verankerte Schulsystem macht es seinen Teilnehmer*innen (Schüler*innen und Lehrer*innen) leicht, in der Weiterentwicklung zu stagnieren. Im Grunde lassen sich viele Konflikte im Schulalltag auf die Frage zurückführen, ob man als Lehrer*in auf Weisungen „von oben“ wartet (oder warten möchte) oder ob man gerne ausprobieren möchte und seinen Unterricht und sein Umfeld in der Schule aktiv gestalten möchte. Wer allerdings aktiv gestaltet, muss im Beamtenwesen auch damit rechnen, zurückgepfiffen zu werden.
Dazu gehört auch, seine Rolle anders definieren zu lernen. Als Schulleitung müssen die Kolleg*innen angeleitet werden, sich nicht nur auf die inhaltlichen Aspekte ihrer Arbeit zurückzuziehen, sondern die soziale Komponente und die Begleitung des Lernprozesses bei den Lernenden in den Fokus zu rücken. Die Idee, dass an einer Schule mehr gelernt und weniger gelehrt werden sollte, griff Jöran Muuß-Merholz bereits auf06 und der Wandel vom Lehr-Betrieb zum Lern-Betrieb ist in Schulen sowieso schon ein schwieriges Geschäft, wird unter Pandemie-Bedingungen aber noch schwieriger.
b. Freiheiten nutzen, um den Rollenwechsel möglich zu machen
Schulen müssen ihre Freiräume nutzen, um flexibel (“agil“) auf Änderungen im täglichen Ablauf zu reagieren, aber auch, um neue, an die neuen Medien angepasste Workflows zu etablieren und das Lernen in der Digitalität im Schulalltag zu verankern. Beispielsweise läßt in NRW die Ausbildungs- und Prüfungsordnung der Sekundarstufe I das Ersetzen einer Klassenarbeit durch eine geeignete andere Form der Leistungsüberprüfung zu. Diese kann durch die Gremien der Schule beschlossen werden07. Ähnliche Freiräume werden sich auch in anderen Bundesländern finden lassen.
Leider sind Schulen noch im preußischen Staatsapparat verankert: Bis Erlasse umsetzbar an Schulen ankommen, vergehen häufig Monate oder sogar Jahre und Schulen sind im föderalen System auch gerne Spielball der Parteien: Einführung und Abschaffung von Naturwissenschaften, wirtschaftliche und informatische Grundbildung sowie Ganztag und Inklusion sind gesellschaftlich sicher wichtige Themen, werden in Schulen aber oft ohne ausreichenden Vorlauf eingeführt und die Schulen müssen selbständig Konzepte erarbeiten. So findet sich dann auch logischerweise im Kollegium eine Gruppe von Kolleg*innen, die lieber erstmal „abwarten“, bis sich die Beschlusslage geklärt hat, Dienstgeräte angeschafft sind oder räumliche Begebenheiten geschaffen wurden.
Diese Haltung funktioniert aber in der Digitalität leider nicht mehr: das System Schule bewegt sich schwerfällig und Änderungen im Kleinen sind damit überhaupt nicht möglich.
Das Digitale ist im Schulalltag sperrig, weil häufig technisch nicht ausgereift, aber auch unangenehm schnell. Es hinterfragt kontinuierlich die eigenen Arbeitsprozesse und zwingt zu einer ständigen Neuorientierung , die einer aktiven verständnisvollen Begleitung durch die Schulleitung bedarf.
Die Schulleitung muss das Kollegium auf dem Weg in die Digitalität begleiten. Dies heißt vor allem, durch Implementation von Konzepten, die in der Digitalität verankert sind und Bereitstellung und Wartung funktionierender Technik ein selbständiges Lernen bei Schüler*innen und Lehrer*innen möglich zu machen. Der Rollenwechsel vom bewertenden Lehrer zum begleitenden (Mit-) Lerner wird gefördert.
3. Konkrete Handlungsempfehlungen:
a. Digitalisierung ist Schulleitungssache
Der vorige Abschnitt hat gezeigt, dass speziell im Zusammenhang mit der Pandemie, aber auch der Digitalisierung die Schulleitung mit vielen Problemen – allesamt gerechtfertigt- zu tun hat. Daher ist für mich die wichtigste Schlussfolgerung: Digitalisierung MUSS Schulleitungssache sein.
Die Schulleitung muss einer „Digital-Entwicklungs-Gruppe“ vorstehen und mit ihr zusammen auf das Kollegium zugeschnittene Konzepte erarbeiten. Bei vielen Arbeiten, die in der Schule anfallen, ist es wünschenswert, wenn die Schulleitung sich nicht um alles kümmern muss, es“ läuft“. Dafür muss das Kollegium ermächtigt werden. Digitalisierung ist zu wichtig, um nicht zu jeder Zeit über die Prozesse in der Schule Bescheid zu wissen und diese sinnvoll und kooperativ mit Kolleg*innen, Schüler*innen, Eltern und anderen Beteiligten (Schulträger) voranzubringen.
b. Empathie über Techniksachverstand, Kompetenzen von Kolleg*innen nutzen.
Beim Blick auf die Bleistiftmetapher fällt auf; die „Spitze“ der Digitalisierung ist bestimmt an jeder Schule vertreten, es sind aber vermutlich wenige Personen. Häufig ist meiner Erfahrung nach diese Gruppe nur bedingt geeignet, die Digitalisierung an Schulen voranzutreiben. Der Techniksachverstand ist natürlich wichtig, noch wichtiger ist es jedoch, die Kolleg*innen, die sich noch nicht so weit in die Digitalität getraut haben, nicht zu verlieren.
Daher sollten die Mitglieder der Gruppe eher nach Empathie für diese spezielle Situation als nach Sachverstand (der Sachverstand aber natürlich nicht entfallen…) ausgesucht werden. Später sind solche Kolleg*innen für „Fortgeschrittenen-Bereiche“ auf jeden Fall hilfreich. Wichtiger noch ist es, die „Radierer“ und „Bremser“ mit einzubinden, um der Argumentation, dass man als Kolleg*in nicht befähigt sei und keine Ausstattung erhalten habe, keinen Raum zu geben.
c. Digitalisierungshäppchen: einfacher Einstieg und Snacks „to go“
Kurs-Kiosk, Digitalisierungshäppchen oder digitale Mittagspause08. Die Konzepte sind ähnlich, das Ansinnen das gleiche: Es geht darum, dem Kollegium einen niedrigschwelligen Einstieg zu ermöglichen und in möglichst unbefangener Runde auch die „blödesten Fragen“ (Zitat Kollege X) stellen zu können. Die Schmach, im Lernkontext mit Schüler*innen zugeben zu müssen, etwas nicht zu können, ist für einige vielleicht schon Grund genug, sich den neuen Medien zu verweigern. Gleichzeitig geht es bei diesen Konzepten auch darum, das Kollegium auf einen einheitlichen Stand in Sachen Digitalität zu bringen und gemeinsame Konzepte vorzuentlasten.
Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Schaffung einer Art „kollegialer Fallberatung“: Lehrer*innen mit Expertise in einem Bereich (eine bestimmte App, Troubleshooting mit Endgeräten, etc) steht zu bestimmten Zeiten (Sprechstunden) oder auf einem dafür vorgesehenen Kanal für Fragen der Kolleg*innen zur Verfügung.
d. Digitalität ist nicht gleich technische Ausstattung
Meiner Meinung nach eine wichtige und oft vernachlässigte Erkenntnis. Digitales Denken braucht keine (große) technische Ausstattung. Szenarien wie die gemeinsame Nutzung eines Etherpads oder das Einbinden von Schüler*innen-Geräten lassen sich mit wenig technischem Aufwand ermöglichen und beeinflussen das pädagogische Denken und Handeln.
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Ausstattung an vielen Schulen noch mangelhaft ist. Dementsprechend haben sich Kollegien auch oft noch nicht mit digitalen Settings beschäftigt, was aber an dieser Stelle nötig ist. Zentrales Anliegen muss für die Schule sein, den Schüler*innen ein selbstbestimmtes Lernen auch zuhause möglich zu machen. Dies ist wiederum ein Punkt, der an viele Voraussetzungen geknüpft ist. Schlussfolgerung im Alltag: Es muss zur Zeit mit den Konzepten und der technischen Ausstattung gearbeitet werden, die an den Schulen vorhanden sind. Gleichzeitig muss beides weiterentwickelt werden.
Zentrales Anliegen muss für die Schule sein, den Schüler*innen ein selbstbestimmtes Lernen auch zuhause möglich zu machen.
Arbeit in der Digitalität hat mit dem Mindset der Beteiligten zu tun. Die vorhandenen Ressourcen effektiv zu nutzen und gleichzeitig an der Weiterentwicklung zu arbeiten ist die Kür der Digitalstrategie.
Die Verwendung eines Etherpads symbolisiert für mich die optimale Nutzung digitaler Strategien und ist gleichzeitig mit wenig technischem Aufwand umsetzbar: Die Schüler*innen können sich mit einem niedrigschwelligen technischen Aufwand vernetzen und gemeinsam asynchron an Dokumenten arbeiten. Diese Geisteshaltung zu etablieren ist wichtiger, als dem neuen Gerät hinterherzulaufen oder auf Ausstattungsmerkmal XY zu warten.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass ein Großteil der Menschen diese Aspekte der Digitalität im persönlichen Bereich bereits verinnerlicht hat bzw diese praktiziert, dies aber ein Großteil der Schüler*innen im Schulalltag nicht tut? Eine nicht-repräsentative Umfrage in meinem Kurs hat dieses Schuljahr ergeben, dass 95% aller Schüler*innen VOR dem Aufstehen auf das Handy schaut. Trotzdem haben Einzelne immer noch Bekanntmachungen oder Hausaufgaben nicht gelesen? Get real!
e. Input von außen – Öffnen der Schule
Die Digitalisierung ist ein großer Disruptor und verändert und beschleunigt Prozesse ungemein. Dementsprechend ist derjenige, der diese Prozesse anstößt, schnell derjenige, gegen den sich Unmut richtet. Häufig sind diese Prozesse ja mit einem Mehraufwand für alle Beteiligten verbunden, den man möglicherweise verhindern oder vermeiden möchte. Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn die Schulleitung beteiligt ist (siehe Abschnitt 3a).
Daher ist es ratsam, Impulse für pädagogische Tage, schulinterne Fortbildungen etc. von außen zu gewinnen. Meine Erfahrung mit persönlichen Bekanntschaften, die ich über Barcamps und Twitter gemacht habe, ist bisher erfolgversprechend. Auch die Kooperation mit dem Medienzentrum erweist sich immer wieder als fruchtbar und auch diese haben bereits einige pädagogische Tage und kollegiumsinterne Fortbildungen begleitet.
Die Schaffung einer angstfreien Atmosphäre für die Entwicklung eigener Fähigkeiten der Lehrer*innen sollte das zentrale Ziel sein, das es zu erreichen gilt. Helfen können hierbei (anonyme) Umfragen und Auswertungen, die als Reflektionsbasis und zur Weiterentwicklung der schulischen Konzepte herangezogen werden sollten.
f. lieber viele kleine Schritte, statt eines (zu) Großen
Snacks to go, niedrigschwellige Technik und Digitalisierung in der Heterogenität des Kollegiums: All dies deutet auf kleine Schritte in der Digitalität hin. Wenn ein (zu) großer Schritt im Treibsand endet, ist der Frust umso größer. Häufig sind die Faktoren, die zu „großen Schritten“ führen, von außen vorgegeben: der Schulträger möchte möglichst einfach das Geld des Digitalpaktes an die Schulen bringen, Eltern beschweren sich über unprofessionelle Lösungen bei Lernplattformen usw. Der Impuls, mit einer Hauruck-Aktion die Digitalisierung an einer Schule vollziehen zu wollen und zu glauben, dass mit der entsprechenden Ausstattung auch der Wille des Kollegiums und der Schülerschaft einhergeht, sich damit auseinanderzusetzen, ist groß. Diesem sollte unbedingt widerstanden werden. Die begleitenden Konzepte, ein transparentes Handeln und ein ständiges Rückversichern sind essentiell.
Daher: lieber viele kleine Schritte als ein zu Großer.
4. Risiken (und wie sie zu vermeiden sind)
a. Digitalisierung des Analogen
Hier droht meiner Meinung nach zur Zeit die größte Gefahr: wegen der Pandemie Situation werden viele Konzepte zur Zeit mit der heissen Nadel gestrickt und Technik an unvorbereitete Schulen ausgeschüttet. Vor allem aber trifft die „Zwangsdigitalisierung“ viele unvorbereitete Lehrerinnen und Lehrer. Das Mantra der Situation ist also häufig: es muss einfach und schnell gehen, das ist immer noch besser, als dass es gar nicht geht.
Aus diesem Grund wird an vielen Schulen mit Sicherheit der vorhandene analoge Unterricht digitalisiert, ohne die Besonderheiten des neuen Mediums Internet in diese Umrüstung einzubeziehen09. Aus dem Arbeitsblatt wird ein digitales Arbeitsblatt, aus der Unterrichtsstunde eine digitale Unterrichtsstunde (mit Aufzeigen!), aus der Gruppenarbeit ein Breakout-Event. All diese Beispiele stehen für Digitalisierung des Analogen, stellen aber keine Konzepte für die Digitalität dar.
Wir zwingen in der Corona-Zeit eine große Anzahl von Kolleg*innen, im Schnellverfahren eine Bewusstmachung zu vollziehen, die bei vielen digital affinen Menschen, die sich schon länger mit der Digitalisierung beschäftigen, lange angedauert hat. Dabei fallen wichtige Aspekte, die die Besonderheit des neuen Mediums abbilden, hintenüber, z.B. die Tatsache, dass Lernprozesse im digitalen Rahmen asynchron ablaufen können und nicht an ein starres Stundenraster gebunden sind. Unser Ziel sollte weiterhin sein, die Befähigung der Schüler*innen zu eigenständigen Lerner*innen voranzubringen und dies erfordert bei der Digitalisierung (ich finde, es sollte eigentlich Individualisierung mit neuen Medien heißen) mehr Zeit, als wir eigentlich haben.
b. Ausstattung fehlt
Insgesamt bin ich ein Freund guter Ausstattung. Man verliert bei der Digitalisierung viele Beteiligte, wenn die Komponenten nicht zusammen passen, eine Anwendung keine gute „user experience“ bietet oder die physikalische Aufmachung minderwertig ist. Trotzdem: besser eine schlechte Ausstattung als keine Ausstattung. Kompromisse zu machen gehört auch dazu.
c. Bremser – wie man mit „Radiergummis“ umgeht
Viele Einwände von Ablehnern der Digitalisierung kann ich gut nachvollziehen:“ der Dienstherr soll uns Geräte zur Verfügung stellen“, „der Schulträger soll uns WLAN liefern“ und „ohne Fortbildung kann ich mit dem neuen Programm sowieso nicht arbeiten“.
… viele kleine Schritte machen und machen lassen, aber das Gesamtziel mit Feinjustierung im Prozess vor Augen haben.
Daher gilt es, diese Argumente weitestgehend zu entkräften und in Diskussionen auf diese Argumentationslinie eingestellt zu sein. Wir stellen unseren Kolleg*innen z.B. auf Wunsch ein schuleigenes Gerät zur Verfügung, wenn sie auf die „Lehrergeräte“ des Landes verweisen.
Es geht also darum, handlungsfähig zu bleiben: viele kleine Schritte machen und machen lassen, aber das Gesamtziel mit Feinjustierung im Prozess vor Augen haben.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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