Konstruktivistische Didaktik als Didaktik des Unvorhersagbaren
Holger Müller-Hillebrand
Didaktik. Da denken viele sofort an Curricula, Unterrichtsziele und Verlaufspläne, in denen mitunter minutiös dargelegt wird, wozu und wie sich Lehrer:innen und Lernende verhalten (sollen) werden. Dabei beschäftigt sich die Didaktik im engeren Sinn als theoretische Wissenschaft „nur“ mit der Theorie des Unterrichts und erst, wenn sie im weiteren Sinne verstanden wird, mit der Theorie und auch Praxis des Lehrens und Lernens.
In diesem weiteren Sinne soll der Begriff der Didaktik auch hier verstanden werden. Schon der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki, seines Zeichens ein Vertreter der bildungstheoretischen Didaktik (siehe unten), grenzte Didaktik als Wissenschaft dabei von der Methodik ab, welche sich mit den praktischen Verfahrensweisen des Lehrens und Lernens befasst.
Dem folgend, wird es auch in diesem Beitrag nicht um die Methodik des Lehrens und Lernen gehen – obwohl, das sei kritisch angemerkt, natürlich ebenso gilt, was der Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel bereits 1995 in der „Deutschen Lehrerzeitung“ ausführte: „Beide [die Wissenschaft vom Lehren und die vom Lernen] sind aber untrennbar miteinander verbunden, weil man nach heutigem Verständnis nichts erfolgreich lehren kann, ohne sich gleichzeitig zu fragen: Wie lernen Schüler?“
Didaktik: Inhaltliche Zielplanungen first, …
Interessanterweise aber hat sich der Einwurf von Rainer Winkel in der allgemeinen Didaktik-Diskussion in Deutschland kaum durchgesetzt. Damals wie heute ist hier vielmehr eine didaktische Richtung vorherrschend, dicht gefolgt von einer zweiten: So gelten die Prinzipien der bildungstheoretischen Didaktik bis jetzt vielfach als Status quo in der Lehrer:innenausbildung, während Aspekte der lerntheoretischen Didaktik gerne bei der konkreten Planung von Unterricht eingebunden werden.
Damit gilt: Geht es um Fragen der Didaktik, stehen die Auswahl, Anordnung und Erklärungen der Inhalte im Zentrum der Betrachtung (Kern des bildungstheoretischen Ansatzes), wobei davon ausgegangen wird, dass Unterricht immer formal strukturiert, inhaltlich jedoch variabel und situationsabhängig ist (Kern des lerntheoretischen Ansatzes). Und wenngleich damit zumindest der lerntheoretische Ansatz immerhin von einer gewissen Flexibilität von Unterricht spricht, wird in der didaktischen Lehre und Diskussion bis heute immer noch behauptet, dass Unterricht gut wie sicher planbar sei. Ja, mitunter noch mehr: Es bedürfe einer detaillierten inhaltlichen (Ziel-)Planung, um Unterricht überhaupt sinnvoll halten zu können. Und: Es gebe eine Art „Rezeptlehre“ für den Unterricht.
… Beziehungsfragen second?
Mehr denn je scheint es an der Zeit, um die Dominanz dieser vor allem akademisch geprägten sowie theorieorientierten Didaktik-Avantgarde in Frage zu stellen. Seit Jahren sprechen wir von Individualisierung des Lernens, haben die individuelle Förderung in Schulgesetzen verankert und möchten, mindestens wenn wir den Ideen des „4K-Modells des Lernens“01 folgen, Lernende auch in der Kommunikation und im gemeinschaftlichen Arbeiten fördern sowie ihnen (mehr) partizipatorische Möglichkeiten einräumen.
Wer diese zeitgemäßen Bestrebungen ernst nimmt, kann nicht länger widerspruchsfrei an einer tradierten Didaktik festhalten, die all diese Ansätze gar nicht oder nur marginal berücksichtigt – und die zudem einen weiteren wesentlichen Aspekt praktisch ausblendet: die Beziehungsebene im Unterricht, also die (pädagogischen) Beziehungen zwischen Lehrer:innen und Lernenden.
Eine (erste) Didaktik des agilen Lehrens und Lernens
Jene Beziehungsebene bildet seit jeher den Mittelpunkt der konstruktivistischen Didaktik, die keineswegs eine neue Richtung darstellt, sondern bereits seit den achtziger Jahren verbreitet wird. Ihre Ansätze sind jedoch überraschend modern – mehr noch: Sie passen vielfach gut zu jenen agilen Bildungsprozessen, von denen heute immer mehr gesprochen wird. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass die konstruktivistische Didaktik, ohne es dereinst gewusst zu haben, die erste Didaktik des agilen Lehrens und Lernen ist.
Ausgehend vom Beziehungsaspekt, der – dies haben inzwischen schon mehrere Untersuchungen erkennen lassen02 – Grundlage und Kontext aller Inhaltsvermittlungen bildet, entwickelt die konstruktivistische Didaktik sehr praxisorientiert und pragmatisch Aspekte für den Unterricht, ohne dabei aber vorzugaukeln, es gäbe die Anleitung für die Planung unterrichtlicher Prozesse. Der Sozial- und Erziehungswissenschaftler Kersten Reich, Vertreter einer der relevantesten Strömungen dieses Ansatzes, beschreibt die Ausgangslage der konstruktivistischen Didaktik so: „Eine solche pragmatische Einstellung bedeutet allerdings nicht, einen naiven Praktizismus, eine Rezeptlehre für Unterricht, entwickeln zu wollen, sondern verlangt nach einer Praxissicht, die die Lernenden und Lehrenden in ihren kulturellen Kontexten reflektiert, kritisch zu Entwicklungen in dieser Kultur Stellung bezieht, sich aber auch intensiv mit den Praktiken in dieser Kultur auseinander setzt.“03
Didaktik als Selbstorganisation des Lernens und Wissens
Grundsätzlich versteht die konstruktivistische Didaktik das Lernen dabei als Prozess der Selbstorganisation des Wissens, das sich auf der Basis der Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion jedes einzelnen lernenden Individuums vollzieht und damit relativ, individuell sowie prinzipiell unvorhersagbar ist. Auch Kersten Reich begründet seine Theorie mit einer – auch hier eingangs skizzierten – „Krise der Didaktik in der Gegenwart“, da sich „die Bedingungen des Lehrens und Lernens verkompliziert haben“04. Seiner Überzeugung nach sollten Lehrende – grob zusammengefasst – möglichst reichhaltige, multimodale und kommunikationsorientierte Umgebungen schaffen, die die subjektiven Erfahrungsbereiche ansprechen sowie gleichzeitig neue „Rätsel“ enthalten, die pragmatisch, interaktiv und kreativ zur Selbstorientierung einladen. Reich spricht in diesem Zusammenhang von neun Reflexionsperspektiven zur didaktischen Handlungsorientierung05, die sich auf die Kategorien Konstruieren, Rekonstruieren und Dekonstruieren verteilen:
Handlung | Methode | Ergebnis | |
Konstruieren | Erfinden | Begründen | Gestalten |
Rekonstruieren | Entdecken | Verallgemeinern | Erfahren |
Dekonstruieren | Enttarnen | Zweifeln | Kritisieren |
Weniger Rekonstruktion, mehr Konstruktion und Dekonstruktion!
Im Folgenden legt Kersten Reich das Dilemma der Lernprozesse dar, wie sie auch heute noch häufig in Schule gestaltet werden: „Meist wird das Thema so abgehandelt, dass es vorwiegend aus der Perspektive der Rekonstruktion bestimmt wird. Damit erreichen wir ein Verständnis darüber, was uns andere z. B. in Schulbüchern oder Wissensanalysen vorbereitet haben. Unsere Konstruktivität ist das Entdecken eher Übernahme, Anwendung in begrenztem Umfang (z. B. Wissensfragen beantworten), im glücklichsten Fall auch Transfer, indem wir es mit vorher gelerntem Stoff konstruktiv vergleichen.
Auf der methodologischen Ebene übernehmen wir die Geltungsansprüche von Experten, denen wir ebenso wie der Lehrende vertrauen müssen, und wir akzeptieren diese Verallgemeinerung als wissenschaftlich. Dabei wird in der Regel eher eine Deutung aus dem Angebot der Wissenschaften übernommen […] Für die konstruktivistische Didaktik wird dieser Wissenserwerb nicht entwertet. […] Aber wir müssen uns zugleich fragen, ob dies bei dem jeweiligen Thema hinreicht. […] Wir scheinen allein auf dem rekonstruktiven Weg festgelegt zu sein. Aber so lernen wir nicht tief, nicht weit reichend genug.“06
Wer genau hinschaut, entdeckt auf den Ebenen der Konstruktion und Rekonstruktion bereits viele Elemente eines agilen und handlungsorientierten Arbeitens sowie des bereits erwähnten „4K-Modells“: erfinden und gestalten (= Kreativität), enttarnen, zweifeln und kritisieren (= kritisches Denken), begründen (= Kommunikation).
Unvorhersagbares planen – elementar, ganzheitlich und situativ
Schon allein wer die Handlungen des Erfindens und Gestaltens ernst nimmt, wird von der Idee, Unterrichtsgeschehen bis ins Detail (vor)planen und strukturieren zu können, Abstand nehmen müssen. Und so gehen viele Vertreter:innen der konstruktivistischen Didaktik auch von einer grundsätzlichen Unvorhersagbarkeit des Unterrichts aus. Für sie ist es elementar wichtig, Unterrichtsprozesse flexibel zu gestalten und situativ zu steuern. Allerdings: Unvorhersagbarkeit meint für die konstruktivistische Didaktik keineswegs Unplanbarkeit, auch wenn Planung hier stets Handlungsplanung bedeutet. Kersten Reich unterscheidet zwischen drei Planungsperspektiven, die hier – wie auch alles andere – nur sehr knapp angerissen werden können:
- Perspektive der elementaren Planung: Darunter fallen z. B. mehrere Aspekte, die sonst in einer sogenannten Sachanalyse zu verorten sind, wie etwa
- didaktische Reduktion,
- (zeitliche wie inhaltliche) Gliederung der Lehr- und Lernschritte,
- Anschlussfähigkeit.
Aus dieser Perspektive lassen sich somit auch bereits wesentliche Handlungsstufen einer Unterrichtsstunde entwickeln und ein grobes Planungskonzept (eine hier sogenannte logische Planungsreihe) kreieren – auch wenn diese aus Sicht der konstruktivistischen Didaktik keinesfalls vollständig ist (Vollständigkeit wird hier realistisch als kaum möglich angesehen):
- Vorbereitung (z. B. Planerstellung, Materialsammlung, Vorschläge)
- Information (der Lerngruppe)
- Durchführung (Handlung der Lerngruppe)
- Präsentation (Betrachtung von Resultaten; Abschluss der didaktischen Einheit)
- Evaluation (Rückmeldung)
- Perspektive der ganzheitlichen Planung: Diese Perspektive halten konstruktivistische Vertreter:innen insbesondere dann für erforderlich, wenn man handlungsorientierte Methoden einsetzen möchte, was in der konstruktivistischen Didaktik sehr häufig der Fall ist. Zu den Planungsaspekten hier gehören unter anderem
- Rollendifferenzierung und -reflexion: Beobachter:in, Teilnehmer:in, Akteur:in
- Handlungskreisläufe reflektieren: logische Planungsreihe (siehe oben), antreibende sowie hemmende (imaginäre) Wechselwirkungen
- Überlegungen, wann und wie sich in einer Unterrichtseinheit imaginäre Perspektiven, Wünsche und Visionen integrieren lassen.
Das imaginäre Vorstellen von Lernenden stellt in der konstruktivistischen Didaktik einen bedeutsamen (Planungs-)Aspekt dar: So sollen im didaktischen Prozess Imaginationen und Visionen geweckt, gefördert, anderen gespiegelt sowie ggf. auch erfüllt werden.
- Perspektive der situativen Planungsreflexion: Kersten Reich schlägt hier fünf Reflexionsperspektiven vor, „die bei der Planung stets eingenommen werden sollten, um der planerischen Arbeit kritische Impulse zu geben, die sich aus dem Kontext des Verständnisses der konstruktivistischen Didaktik ergeben“07. Im konstruktivistischen Verständnis geht es dabei um
- partizipatives Lehren und Lernen,
- multimodales Lehren und Lernen,
- Planung von Inhalten im Blick auf pädagogische Beziehungen,
- Planung von pädagogischen Beziehungen im Blick auf Inhalte sowie
- (selbstbestimmte) Wahl von Methoden und Medien.
Von der „großen Unterrichtsplanung“ zum „Lernforschungs-Puzzle“
Wer all diese Perspektiven durchdenkt, stellt schnell fest: Die konstruktivistische Didaktik ist mitnichten eine „Larifari“-Didaktik, die sich auf die Unvorhersagbarkeit partizipativer, kollaborativer und kommunikativer Lernprozesse zurückzieht und Lehrer:innen dazu auffordert, „einfach mal zu machen“. Das Gegenteil ist der Fall: Der konstruktivistische Ansatz ist höchst anspruchsvoll, da er noch mehr Perspektiven in den Blick nimmt als die tradierte Didaktik. Gewiss: Konstruktivist:innen halten wenig von den so genannten „kleinen“ oder „großen Unterrichtsplanungen“, die auf fünf, zehn oder auch 20 DIN A4-Seiten mehr oder weniger oberflächlich und vordergründig Lerngegenstände wie -abläufe beschreiben.
Für die konstruktivistische Didaktik ist nachhaltige Planung eher Lernforschung, die sich je Lerngruppe ohnehin erst über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt und sich, einem Puzzle ähnlich, aus mehreren Einzelteilen zusammensetzt und erst dann ein ganzes Bild ergibt. All das ist weder ein Job für „Schmalspur-Denker“, „Schablonen-Pädagogen“ noch für „nach Rezepturen Unterrichtsplanende“, sondern ein flukturierender, höchst reflektiver und mitunter anstrengender Prozess. Und nicht nur aus diesem Grund betont Kersten Reich gegen Ende seines Lehr- und Studienbuchs zur konstruktivistischen Didaktik wohl auch, wie komplex und spannend, aber auch mühsam die Profession der Lehrerin und des Lehrers ist: „Es muss deutlicher kommuniziert werden, dass der Lehrberuf eher zu den schwierigen und anstrengenden, aber auch zu den kreativen und kommunikativen Beruf gehört. Lehrende sollten und müssen früh die Gelegenheit haben, sich auch praktisch umfassender in diesem Beruf vor Ort zu erleben […], um überprüfen zu können, ob sie sich nicht nur den Anforderungen gewachsen sehen (dies ist zu wenig!), sondern sie auch mit Freude und kreativer Neugierde gestalten können.“08

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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