Adriano Montefusco
Arn & MacKevett formulieren zum Schluss ihres Artikels das Desiderat, weitere Konzepte, Theorien und Herangehensweisen im Kontinuum zwischen Plandidaktik, agiler Didaktik und agilem Lernen zu verorten (Arn & MacKevett 2020). Dieser Beitrag nimmt den Wunsch auf und soll zeigen, dass mit der Lehrkunstdidaktik seit rund vierzig Jahren ein Ansatz vorliegt, der wesentliche Aspekte agiler Didaktik beinhaltet, gleichzeitig das Potential in sich trägt, Paradigmen agilen Lernens zu befördern und sich selber noch stärker in diese Richtung zu entwickeln.
Lehrstücke aus Sternstunden der Geistesgeschichte
Die Lehrkunstdidaktik ist ein verhältnismäßig junger Ansatz, der auf pädagogischen Lehrstücken Martin Wagenscheins aufbaut. Im Nachinszenieren dieser dramaturgisch modellierten Unterrichtseinheiten wurden didaktische Überzeugungen deutlich, die allen voran Hans Christoph Berg (in engem Bezug auf Klafkis Kategorialbildungstheorie) zur Ausformulierung eines kohärenten didaktischen Reflexionsrahmens angeregt haben (Berg 2009). Die Lehrkunstdidaktik antwortet auf einen „Grundrissfehler von Schulunterricht und Didaktik“ (ebd., S. 18), den sie u. a. im „Pensendruck“ und der „Zensurmacht“ (ebd., S. 19) eines verstaatlichten Lehrapparates sieht, der Lernende eher abfertigt als bildet.
Lernen soll wieder das werden, was es in der Menschheitsgeschichte war: Persönliches Ergriffenwerden von echten Problemstellungen und staunendes, forschendes Durchzweifeln zahlreicher eigener Lösungsansätze bis zum Durchbruch einer Erkenntnis (und darüber hinaus).
Lernen soll wieder das werden, was es in der Menschheitsgeschichte war: Persönliches Ergriffenwerden von echten Problemstellungen und staunendes, forschendes Durchzweifeln zahlreicher eigener Lösungsansätze bis zum Durchbruch einer Erkenntnis (und darüber hinaus).
Ausgangspunkt für die Lehrkunstdidaktik waren bislang v. a. erkenntnisgeschichtliche Meilensteine der Menschheit und ihre grossen Fragen. Bahnbrechende Entdeckungen in der Physik, in der Biologie, in der Mathematik – aber auch Neuerungen in der Kulturgeschichte (bildende Künste, Literatur, Musik) werden in thematisch orientierten Lehrstücken meist kollaborativ von Lehrpersonen aufgearbeitet und anschließend mit Lernenden in projektbasierten Lernumgebungen nachvollzogen. Dabei ‘spielen’ die Schülerinnen und Schüler den Erkenntnisprozess auf individuellen Wegen nach. Sie ringen gemeinsam auf vielfältigen Pfaden des Versuchens und Scheiterns darum, das Phänomen zu ergründen, es verstandesmäßig zu durchdringen und mobilisieren und trainieren dabei Kompetenzen, die in vielen anderen Lern- und Lebensbereichen zentral werden können.
Da die Lehrstücke den Lerngegenstand stark aufbereiten, erscheint die Lehrkunstdidaktik zunächst als plandidaktischer Ansatz und als Inhaltsdidaktik (vgl. Schulze & Berg 2009) par excellence. Bei näherer Auseinandersetzung mit ihrer Grundhaltung und ihren Werten fällt auf, dass sie im Vollzug zu agilen Lernprozessen führt.
Grundhaltung und didaktische Prämissen der Lehrkunstdidaktik
In der Lehrkunstdidaktik wird von folgenden Überzeugungen und Haltungen ausgegangen:
Lerngegenstände werden – trotz aller Didaktisierung – nicht im eigentlichen Sinne vermittelt, sondern den Lernenden in komplexen, multimodalen Denkräumen vorgelegt, damit sie daran die grossen Errungenschaften der menschlichen Geistesgeschichte selber neu und auf eigenen Wegen eher ‚erfinden‘ und ‚entwickeln‘ als sie im Sinne aufbereiteter Wissensbestände zu ‚entdecken‘.
Lernen erfolgt exemplarisch, genetisch und dramatisch/sokratisch:
a) exemplarisch: Lernende setzen sich mit interdisziplinären Themenfeldern und Phänomenen auseinander, an denen Kompetenzen und Kenntnisse besonders gründlich und damit grundlegend aufgebaut werden können (vgl. Klafkis Prinzip der kategorialen Bildung).
b) genetisch: Kompetenzen (zu denen auch domänenspezifische Wissensbestände gehören) werden nicht an toten Sachverhalten aufgebaut. Erkenntnisse werden in den Lehrstücken in genau diejenigen lebendigen Handlungen zurück übersetzt, aus denen sie entstanden sind.
c) dramatisch/sokratisch: was den Unterricht auf allen Ebenen in Bewegung setzt, sind die echten Fragen und Probleme der Lernenden. Diese bilden den Motor, der den Erkenntnisprozess und Kompetenzaufbau vorantreibt. Bildung wird als dramatischer Prozess verstanden: Lernende müssen ergriffen sein, in Flow geraten, selbstgesteuert mit allen Kräften um eine Problemlösung ringen, sie sollen sowohl Emotionen beim Scheitern aushalten wie auch die Freude bei Durchbrüchen teilen dürfen. Die Lehrperson behält die Entstehung und Aufrechterhaltung dieses Zustandes im Blick und sorgt dafür, dass die Bedingungen dazu jederzeit gegeben sind.
Lehrpersonen halten sich stark zurück, geben den Lernenden viel Raum zur Exploration und zum Entwickeln eigener Fragen und Lösungen. An neuralgischen Punkten im Lernprozess können sie sich moderierend einschalten oder mit gezielten Rückfragen oder Impulsen den stockenden Gruppenprozess wieder in Fluss bringen. Dabei verstehen sie sich als Teil der Wissens- und Kompetenzbildungsgemeinschaft und dürfen sich mit ihren eigenen Fragen einbringen. Durch eigenes Scheitern und Lernen können Lehrpersonen emphatisch mit den Fehlversuchen der Lernenden umgehen und Nichtverstehen als notwendigen Schritt im Verstehensprozesses bejahen.
Während die Lehrperson bei der ersten Ausarbeitung eines neuen oder bei der Aufarbeitung eines bereits zur Verfügung stehenden Lehrstückes den Lernprozess der Gruppe in gewisser Weise vorstrukturiert, ist sie sich der „Nicht-Machbarkeit komplexer Lernprozesse“ bewusst (Schulze & Berg 2009, S. 71). Diese spielen schon in den kollegialen Lehrkunstwerkstätten, die zur Entstehung neuer Lehrstücke führen, eine zentrale Rolle. Am Anfang des Lehrkunstunterrichts und auch der Entwicklung neuer Lehrstücke liegen weniger Themen und gegenständliche Inhalte als zentrale Fragen der Menschheit vor, die in Denkbildern, paradoxen Phänomenen und scheinbar undurchdringbar komplexen Problemen an uns herantreten. So wird z. B. im mathematischen Lehrstück zu Euklids Sechsstern nicht primär die Kenntnis geometrischer Figuren vermittelt, sondern die Lerngruppe muss sich die Kompetenz erarbeiten, mathematisch-logische Beweisführung zu verstehen und selber zu vollziehen (vgl. Gerwig 2014). Dass dabei auf allen Ebenen Problemlösestrategien mobilisiert und reflektiert werden müssen, liegt auf der Hand.
Lehrkunstdidaktik im Kontinuum agiler Lehr- und Lernformen
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass Lehrkunstdidaktik in der Mitte zwischen agiler Didaktik und Plandidaktik steht: Sie nimmt den Umstand ernst, dass Lehrpersonen die Lernprozesse agiler gestalten können, wenn sie selbst über domänenspezifisches Wissen und Kompetenzen verfügen und diese in den Dienst einer ‚performativen Didaktik‘ (vgl. Arn 2017, S. 17) stellen. Die Lehrperson vermittelt im unterrichtlichen Geschehen weniger fixierte Lerngegenstände, als dass sie einen unvorhersehbaren Lernprozess begleitet.
Diesen hat sie im Idealfall selber schon oft in einem interdisziplinären Team anhand unterschiedlicher – für sie neuer und fachfremder – Fragestellungen durchlebt (vgl. Schulze & Berg 1995). Wenig beachtet wurde bislang, dass in einer Lehrkunstwerkstatt, nebst des gemeinschaftlichen ‚Erfindens‘ einer Lernumgebung, vor allem auch Kompetenzen in der spontanen, kollaborativen Entscheidungsfindung eingefordert und damit trainiert werden. Diese sind grundlegend für die Entwicklung einer agilen Grundhaltung im Lehrgeschehen.
Die Lehrhandlungen der Lehrkunstdidaktik kondensieren sich im Fragen, im schweigenden Beobachten, im dramaturgischen (manchmal auch tatsächlich szenisch-theatralischen) Anstoßen neuer Denkbewegungen, im Bündeln entstehender Erfahrungen, im Zulassen frustrierenden Scheiterns, im Hinterfragen voreiliger Schlüsse, im Mitstaunen über Erkenntnisse und im Treffen adaptiver Entscheidungen. Alle diese performativen Akte lassen sich als agiles Antworten auf die Prozesse der Gruppe lesen und sie bleiben es auch, selbst wenn die Lehrperson Denkbilder, inszenierte Monologe und vorbereitete Materialien aus ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Lehrstück in die Gruppe trägt. Lehrkunst ist eine Form dialogischen Lehrens und Lernens, die sich deutlich vom klassischen fragend-entwickelnden Unterricht abgrenzen lässt. In letzterem geht es darum, die Lerngruppe so lange mit Fragen ‘abzuklopfen’ bis die korrekte Antwort fällt. Lehrkunstdidaktisches Fragen orientiert sich an den Lernenden und stellt sich auf Problemlösestrategien der Lerngruppe ein, selbst dann, wenn diese in der Unterrichtsplanung von der Lehrperson nicht vollumfänglich antizipiert werden konnten.
Lehrkunstdidaktik als Haltung weiter entwickeln
Lehrkunstdidaktik hat sich entwickelt und entwickelt sich weiter. Zahlreiche engagierte Lehrpersonen und Hochschuldozierende haben den Ansatz weit über die Grundzüge der Wagenscheinschen Lehrstücke hinaus fortgeführt und reaktualisieren ihn im ‘Verein Lehrkunst’ (lehrkunst.org) laufend weiter.
Lernen findet somit nicht nur im Reagenzglas einer künstlich und künstlerisch inszenierten Lernumgebung statt, sondern greift ein in die reale Lebenswelt der Lerngruppe.
Dabei scheint sich abzuzeichnen, dass Lehrkunstdidaktik nicht nur als Methode, sondern auch als Haltung begriffen wird, welche das unterrichtliche Geschehen selbst dann prägt, wenn nicht eigentlicher Lehrstückunterricht stattfindet.
Schon vor etwas mehr als zehn Jahren hat Wolfgang Klafki eine Schulstunde dokumentiert, in der Lernende in einem Unterricht nach den Ansätzen der Lehrkunstdidakitk konkrete Beiträge zur Einreichung in die Fachlehrerkonferenz entwickelt haben (vgl. Klafki 2009) und damit nicht nur ‚Leben spielten‘, sondern sich einmischten in die Gestaltung der Gegenwart. Lernen findet somit nicht nur im Reagenzglas einer künstlich und künstlerisch inszenierten Lernumgebung statt, sondern greift ein in die reale Lebenswelt der Lerngruppe. Hier liegt großes Potential für die Lehrkunstdidaktik:
Es bleibt offen, ob es der Lehrkunstdidaktik noch stärker gelingt, die bereits über das Wort ‚Kunst‘ in ihrem Namen eingeschriebene Artifizialität in einem seiner Aspekte zu überwinden und dadurch ihr Potential für agiles Lernen weiter zu entfalten. Agiles Lernen partizipiert an Innovation. Ziel agiler Prozesse ist das Entwickeln von Produkten und Lösungen, die so noch nicht bestehen. Möglich wird dies über die Aktivierung kreativer Gruppenprozesse und einem kontinuierlichen Infragestellen bestehender Prototypen oder Sinnbildungshorizonte.
In Bezug auf die Lehrkunstdidaktik würde dies heissen, sich nicht nur Sternstunden der Geistesgeschichte zuzuwenden und Lernende in offenen Lernumgebungen und dynamischen Lernprozessen die Dramaturgie großer Errungenschaften auf eigenen Wegen ‚künstlich nachspielen‘ zu lassen, sondern die Innovationskraft agiler Lernprozesse zu nutzen und sich mit Lernenden auch auf noch nicht gelöste Fragen und Menschheitsthemen der Gegenwart einzulassen. Lehrkunst als Haltung oder didaktischer Denkrahmen würde es zulassen, Lehrstücke nicht nur von Erwachsenen vor-entwickeln zu lassen und zu konservieren, sondern sie im Klassenverband an noch wenig behandelten Fragestellungen entstehen zu lassen, in Form erkenntnisleitender Denkbilder/Lernprodukte teilbar zu machen und dialogisch an andere Lerngruppen zu übermitteln, um den unabschließbaren Prozess von weiteren Lernenden fortführen zu lassen.
Dieser Kulturalisationsprozess, verstanden als Entwicklung von (vorläufigen) Epistemen und Kompentenzgrundlagen und deren Transfer von einer Wissensbildungsgemeinschaft zur nächsten, wäre seit Anbeginn Kernanliegen auch der Lehrkunstdidaktik: Bildung als Persönlichkeitsentwicklung (und Form der Welterzeugung) im Kulturstrom (vgl. Berg 2009). Es geht also darum, dass sich Lernende im Kollektiv in der Auseinandersetzung mit der Welt selber bilden und sich dadurch einschreiben in einen fortwährenden Prozess der Kulturerzeugung.
Wenn Berg so treffend formuliert, dass Lehrkunst auch ein „neues schulpädagogisches Konzept“ verlange (Berg 2009b, S. 66), dann bieten sich heute neue Möglichkeiten zur gegenseitigen Beförderung von agiler Didaktik und Lehrkunst. Neue Schulentwicklungsideen und Bildungsszenarien weisen darauf hin, dass interdisziplinäres Lernen, altersdurchmischte Lerngruppen, schülerzentrierte und selbstorganisierte Lernformen sowie modulare Projektlernumgebungen die klassischen Schulformen noch stärker in Richtung von Lernwerkstätten, Bildungsnetzwerken und Entwicklunszentren gestalten werden. Im Kontext der bereits etablierten Kompetenzorientierung und der neu in der Schule ankommenden agilen Lernkultur bietet die Lehrkunstdidaktik hier einen gut erprobten und vielfältig funktionalisierbaren Reflexionsrahmen, um fachübergreifendes agiles Lernen als Grundhaltung im Bildungsprozess zu verankern.
Im Kontext der bereits etablierten Kompetenzorientierung und der neu in der Schule ankommenden agilen Lernkultur bietet die Lehrkunstdidaktik hier einen gut erprobten und vielfältig funktionalisierbaren Reflexionsrahmen, um fachübergreifendes agiles Lernen als Grundhaltung im Bildungsprozess zu verankern.
Literaturverzeichnis:
Arn, Christof (2017). Agile Hochschuldidaktik. 2. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Berg, Hans Christoph & Schulze, Theodor (1995). Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik (Lehrkunst und Schulvielfalt 2). Neuwied u. a.: Luchterhand.
Berg, Hans Christoph et al. (2009a). Die Werkdimension im Bildungsprozess. Das Konzept der Lehrkunstdidaktik (Lehrkunstdidaktik 1). Bern: hep.
Berg, Hans Christoph et al. (2009b). Mit Wagenschein zur Lehrkunst. Der Neuansatz der Lehrkunstdidaktik in Bildern, Szenen und Konzepten. In ders. et al. (Hg.) Die Werkdimension im Bildungsprozess. Das Konzept der Lehrkunstdidaktik (Lehrkunstdidaktik 1). Bern: hep.
S. 48-67.
Gerwig, Mario (2014). Beweisen verstehen. Bildung durch Lehrkunst im Mathematikunterricht.
Komposition, Inszenierung und Interpretation dreier Lehrstücke frei nach Wagenscheins Euklid-Exempeln: Entdeckung der Axiomatik am Sechsstern, Satz des Pythagoras, Nichtabbrechen der Primzahlfolge; Ein Beitrag zur Allgemeinen Didaktik aus fachdidaktischer Perspektive. (Dissertation) Marburg: Philipps-Universität.
URN: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2014/0383
Klafki, Wolfgang (2009). Phantasie in der Schule. Porträtskizze einer Unterrichtsstunde. In Hans Christoph Berg et al. (Hg.) Die Werkdimension im Bildungsprozess. Das Konzept der Lehrkunstdidaktik (Lehrkunstdidaktik 1). Bern: hep. S. 67-69.
Schulze, Theodor & Berg, Hans Christoph (2009). Lehrkunst. Plädoyer für eine konkrete Inhaltsdidaktik. In Hans Christoph Berg et al. (Hg.) Die Werkdimension im Bildungsprozess. Das Konzept der Lehrkunstdidaktik (Lehrkunstdidaktik 1). Bern: hep. S. 69-84.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
Zum nächsten Kapitel…