Gemeinsam leben & lernen
Achim Arn
White Paper Teaching beschreibt den natürlichen, (er-)lebensnahen Weg des Lernens. Er bedeutet, dass Menschen in der Schule oder an anderen Orten zusammenkommen, um miteinander das Leben zu teilen, zu erforschen und zu verstehen. Um diese aktiven Lernprozesse zu unterstützen, dokumentieren alle Beteiligten ihre Wege in leeren Heften, „whitepaper“. White Paper Teaching ist gelebte Inklusion in einem kooperativen, individualisierenden Lerngeschehen.
White Papier Teaching ist gelebte Inklusion in einem kooperativen, individualisierenden Lerngeschehen.
Im Folgenden werden zwanzig Jahre Erfahrung mit lehrmittel- und arbeitsblätterfreiem Volksschulunterricht, den ich gemeinsam mit meiner Kollegin im Co-Teaching gestalten durfte, aus persönlicher Perspektive reflektiert und in zehn Punkten resümiert.
Die abschliessende Reportage von Claudia Landolt aus der Elternzeitschrift „Fritz+Fränzi“ erzählt von einem Schulbesuch in unserer inklusiven, altersgemischten White-Paper-Teaching-Klasse.
White Paper Teaching heisst…
1 … kollektive Verantwortung
White Paper Teaching eröffnet eine neue Perspektive auf das Lernen von Kindern und Lehrpersonen. Sind erst mal alle klassischen Lehrmittel, Arbeitsblätter, Wochenpläne, Werkstattposten und ähnliches aus dem Unterricht verschwunden, entsteht unglaublich viel Raum und Zeit für Leben und Lernen. Diese als Lerngemeinschaft zu füllen, ist die gemeinsame Verantwortung der Lehrpersonen und Kinder. Das heisst: Die Lehrpersonen wählen gemeinsam mit den Kindern Lernthemen aus und vertiefen diese. Kriterien für die Auswahl der Themen sind die gesellschaftliche Relevanz und die Lebenssituationen und Bedürfnisse der Kinder. Der Lehrperson fällt in diesem Prozess eine gewichtige Verantwortung zu, da sie einen grösseren Erfahrungs- und Wissenshorizont hat. Diesen darf und soll sie einbringen, doch immer im Dialog mit den Kindern. Die Kinder sollen keineswegs einfach das machen, wozu sie Lust haben, sondern das, was für sie und die Klassengemeinschaft – immer im Hinblick auf das Lernen – gut ist. Dabei entstehen sehr wohl Reibungspunkte. Doch die Energie, welche aus dieser Reibung entsteht, gilt es konstruktiv zu nutzen, um hilfreiche Lösungen zu finden.
Durch die Partizipation der Kinder an der Entwicklung des eigenen Lerngeschehens wird der Unterricht zur gemeinsam verantworteten Lern- und Lebensveranstaltung: Das ist mein und unser Unterricht! Daraus folgt gleichermassen: Guter Unterricht ist einfach! – und darum anspruchsvoll zu entwickeln und zu gestalten. Das Wort „einfach“ sieht sich hier als Gegensatz zu komplizierten Unterrichtskonstruktionen, zu einer Überflutung mit Lehrmaterialien, zu einem Zappen zwischen Themen und Fachgebieten. Nur „einfacher“ Unterricht kann von den Kindern überblickt und verstanden werden. Er hilft den Schülerinnen und Schülern, Verantwortung für das eigene Lernen und das Lernen der ganzen Klasse zu übernehmen.
Um einen überschaubaren Unterricht mit den Kindern zu gestalten ist es hilfreich, mit Ritualen und sinnvollen Rhythmisierungen zu arbeiten. Diese geben den Kindern und Lehrpersonen Halt und Orientierung. Sie dürfen das Lernen nicht einschränken, sondern müssen dem Lernen dienen. Rituale sind also kein Selbstzweck! Sie müssen immer wieder in der Klassengemeinschaft hinterfragt und allenfalls neu verhandelt werden.
Dieser partizipative Aspekt reicht deutlich über die bereits verbreiteten und inhaltlich wichtigen Elemente des Morgenkreises und des Klassenrats (vgl. Achermann & Gehrig, 2013) hinaus. Es geht um die Gesamtheit des Unterrichts, der mit den Kindern partizipativ verhandelt und gestaltet wird.
2 … einschließende Kooperation
Die gemeinsame Verantwortung für den Unterricht ist die Basis für ein kooperatives Lehr- und Lernverständnis aller Beteiligten: „Wir schaffen das gemeinsam!“ Eine Aussage einer unserer Schülerinnen gegenüber einem Journalisten war folgende: „Ich finde meine Klasse toll, denn hier bin ich nicht alleine, hier kann ich anderen helfen, hier helfen mir die anderen.“
Diese Grundhaltung schließt mit ein, dass sich niemand integrieren muss – oder wenn doch, dann alle gleichermaßen –, sondern dass alle gleichwertig, also „inklusiv“ dazugehören.
Die von ihr genannten drei Punkte schildern die Eckpunkte einer einschließenden respektive inklusiven Pädagogik (vgl. Feuser, 2019).
Erstens: „Hier bin ich nicht allein“ umschreibt das Grundgefühl des Angenommenseins. Ich bin hier angenommen – so wie ich bin. Alle gehören gleichberechtigt dazu. Diese Grundhaltung schließt mit ein, dass sich niemand integrieren muss – oder wenn doch, dann alle gleichermaßen –, sondern dass alle gleichwertig, also „inklusiv“ dazugehören. Normen verlieren dabei die Wertungskraft. Das Kind kann, was es kann, und das ist gut so. Es muss nicht irgendjemandem oder irgendetwas genügen, sondern ist einzig und allein aufgefordert, sein Bestes aus sich rauszuholen. Dabei stellen sich andere Kinder und die Lehrperson neben das Kind und stärken es. Das Kind genügt sich selbst.
Zweitens: „Hier kann ich anderen helfen“ beschreibt das Erleben von Selbstkompetenz und Selbstwertigkeit. Das Kind weiss, dass es wichtig ist und gebraucht wird. Egal welches Kind einmal in der Klasse krank ist und fehlt, es wird vermisst! Das „Anderen-Helfen“ zeigt zudem dem helfenden Kind, dass es selbst bereits Fähigkeiten erworben hat, welche es nun stolz weitervermitteln kann. Andern behilflich zu sein, ist ein besonders starkes Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Drittens: „Hier helfen mir die anderen“ beschreibt die Erfahrung, dass das Kind bei seinen Lernschritten unterstützt wird. Das Kind wird in seinem Leistungswillen ernst genommen und bekommt die Hilfe, welche es braucht. Mit „die Anderen“, welche helfen, sind hier explizit sowohl die anderen Kinder der Klasse als auch die Lehrperson gemeint. In diesem Netz des Angenommenseins und der gegenseitigen Hilfe wird die Lehrperson sehr entlastet. Sie muss nicht jedes Kind „abholen, wo es ist“, was ein Anspruch ist, den viele Lehrpersonen für sich definieren. Einerseits können sich die Kinder selbst „bewegen“ und brauchen keinen „Abholservice“ und andererseits sind da auch noch die anderen Kinder, welche ebenfalls gerne bereit sind, ihre Klassenfreunde „in Schwung zu bringen“ und wo nötig zu unterstützen.
3 … gemeinsame Fokussierung
Damit Verschiedenheit als Ressource sichtbar und nutzbar wird, ist es von großem Vorteil, wenn das „Lernen am gemeinsamen Gegenstand“ (vgl. Feuser, 2007) einen Großteil des Unterrichts durchdringt. Nur so können wir von und miteinander lernend das Leben erforschen und entdecken. Die ganze Klassengemeinschaft arbeitet dabei im selben Themengebiet oder an derselben Fragestellung. Davon ausgehend wird eine natürliche Differenzierung ausgelöst, welche den Lernressourcen und Interessen aller Kinder Rechnung trägt. „Differenzierung“ bedeutet hier, dass sich die Kinder auf unterschiedliche Weise mit einem Thema auseinandersetzen, und „natürlich“ impliziert, dass dies nicht von außen verordnet wird, sondern von selbst passiert (vgl. Krauthausen & Scherer 2010, S. 5f).
So findet das „Einander-Helfen“ automatisch statt und es entsteht ein dreifacher Effekt. Erstens erleben sich die helfenden Kinder als kompetent und wichtig, und zweitens wird die Lehrperson von ihren Helferaufgaben entlastet und hat die Möglichkeit, Prozesse zu beobachten oder Vertiefungsschritte zu initiieren. Drittens entsteht in der Klassengemeinschaft ein Lernflow, eine gemeinsame Energie: Wir sind ein großes Team und entdecken und erforschen zusammen die Welt! Meine Erfahrung ist, dass dieser Lernflow sehr leistungsfördernd und in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen ist.
Damit dieser Flow sich entfaltet, müssen sich alle in dem „gemeinsamen Gegenstand“, respektive dem Klassenprojekt, dem Klassenthema, der Klassen-Fragestellung bewegen. Dabei gilt es, gleichzeitig zu beachten, dass sich jedes Kind mit seinen individuellen Interessen und Ressourcen darin wiederfinden kann. Dazu kann es auch einmal sinnvoll sein, zu einem übergeordneten Thema Unterthemen zu definieren, zu welchen die Kinder in Gruppen arbeiten. Sie werden dort zu Spezialisten und können anschliessend ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit den anderen teilen.
Der Ansatz von gemeinsamen Projekten ist ebenfalls ein Herzstück der Reggio-Pädagogik (vgl. Küppers & Römling-Irek 2011, S. 28). Auch dort hat das Schlüsselwort „insieme“, was mit „zusammen“ oder „gemeinsam“ übersetzt werden kann, eine grosse Bedeutung und findet sich im kollektiven Entdecken und Erforschen der Welt wieder.
4 … individuelle Dokumentation
Nur mit leeren Heften ist es möglich, den unterschiedlichen Lernwegen beim Entdecken des gemeinsamen Gegenstands gerecht zu werden. Vorgedruckte Inhalte in Lehrmitteln oder Arbeitsblättern können der Verschiedenheit der Lernenden und der Unvorhersehbarkeit der Lernprozesse nie angemessen Rechnung tragen. Allzu schnell werden von allen Beteiligten Aufträge abgearbeitet.
Vorgedruckte Inhalte in Lehrmitteln oder Arbeitsblättern können der Verschiedenheit der Lernenden und der Unvorhersehbarkeit der Lernprozesse nie angemessen Rechnung tragen.
Ganz im Gegensatz dazu hat die individuelle Dokumentation in leeren Heften folgende drei entscheidende Vorteile:
Erstens wird Lernen individuell sichtbar gemacht. Die Kinder erkennen ihre Lernschritte und können Revue passieren lassen, was sie erlebt haben. Je nach Lerngegenstand sind dies beispielsweise dutzende von Rechnungen, welche untereinander stehen, ein Ausflugsfoto mit einem dazugehörigen Erlebnistext oder ein Experiment, dessen Funktion mithilfe einer Zeichnung dargestellt wird, sowie die dazugehörigen Erkenntnisse der Kinder. Es geht nicht nur darum, Ergebnisse oder Produkte zu sichern, sondern den ganzen Lernprozess als eine Art Geschichte zu erzählen – einschließlich aller Umwege und Irrtümer. Die Kinder werden beim Betrachten ihrer Hefte zu staunenden Beobachtern ihres eigenen Lernens, was sie mit grossem Stolz und mit viel Lernfreude erfüllt.
Zweitens liegt im Dokumentieren selbst eine grosse, verinnerlichende Kraft. Die Kinder sind beim Gestalten der Hefte immer auf verschiedenen Ebenen gefordert, welche alle dazu beitragen, das Lernen zu unterstützen. Sie überlegen sich, wie sie Erlebtes oder Erkenntnisse in Worte fassen können. Sie sind gefordert, eine bildliche Darstellung eines Vorgangs zu entwickeln. Sie schreiben die ganze Rechnung auf, und nicht nur – wie sonst oft – das Resultat. Das hilft, alle Elemente einer Gleichung beim Schreiben nachzuvollziehen. Sie gestalten ihre Lerngeschichte auf ihre individuelle Art und Weise. Keine zwei Hefte sind identisch. Einige Elemente können jedoch gut in anderen Heften wiedererkannt werden, da die Kinder gemeinsam an Projekten arbeiten oder sich über ihre Lernfortschritte miteinander austauschen.
Drittens ist man immer unterwegs und deshalb nie fertig. Bei Arbeitsblättern und Lehrmitteln ist es oft so, dass die Kinder angehalten sind, etwas „fertig zu machen“, unabhängig davon, ob Zeit und Motivation dazu vorhanden sind. Im Gegensatz dazu sind die Kinder bei der Dokumentation in leeren Heften immer im Fluss des Lernens und so gesehen nie fertig. Ein Schritt folgt auf den andern.
„Das beste Arbeitsblatt ist ein unbedrucktes Papier!“
Was das Kind als Einheit für sich abgeschlossen hat, ist nur ein Zwischenhalt für den nächsten Schritt. Die Kinder und Lehrpersonen werden dadurch entlastet, da sie nicht normativ unter Druck geraten, etwas zu leisten, was gerade nicht zu ihrem Lernprozess passt. Und gleichzeitig werden sie angespornt, das Maximum zu geben und sich nicht mit dem „Fertig-Machen“ zu begnügen. Ein leeres Blatt spornt zu Höchstleistungen an. Oder wie Arthur Brühlmeier schreibt: „Das beste Arbeitsblatt ist ein unbedrucktes Papier!“ (Brühlmeier, S. 111)
Die individuelle Dokumentation hat neben den drei genannten lernfördernden Punkten noch einen weiteren, gerade im öffentlichen Schulsystem sehr nützlichen Aspekt: Die von den Kindern mit Lernerfahrungen und neu erworbenem Wissen gefüllten Hefte können, wenn nötig und/oder sinnvoll, zur Beurteilung verwendet werden.
Dies machte die Durchführung von Prüfungen in meiner Arbeit mit den Kindern unnötig. Stets konnte ich sowohl den Lernfortschritt als auch den Lernstand in allen Fachbereichen mit den Heften und weiteren notierten Beobachtungen des einzelnen Kindes belegen. Dadurch war es mir auch möglich, eine umfassende Leistungsbetrachtung vorzunehmen, welche der individuellen Situation des lernenden Kindes gerecht wurde. Alle bekannten negativen Effekte, welche Schultests mitbringen, wurden so vermieden (vgl. Brühlmeier, 1980).
Das in den Heften sichtbar gemachte Lernen kann im pädagogischen Diskurs unter dem Begriff „Portfolio“ (vgl. Bräuer & Keller & Winter F. (2012) betrachtet werden. Dabei werden Portfolios der Kinder als eine von vielen Varianten der Lerndokumentation gesehen. Beim White Paper Teaching hingegen ist das individuelle Dokumentieren ein absolut zentraler Teil des ganzen Unterrichtsgeschehens.
5 … originales Lernen
Viele Lehrmittel und Lernarrangements versuchen, das echte Leben ins Schulzimmer zu holen. Mit unzähligen ansprechenden Abbildungen versuchen sie, Lebensnähe künstlich zu inszenieren. Das Bestreben ist ehrbar, doch stellt sich die Frage, weshalb man sich mit Abbildungen oder Kopien begnügen soll, wenn das Original in Griffweite liegt. Ein echter Picasso macht mehr Freude als eine Kopie!
White Paper Teaching versucht, immer möglichst nah am echten Leben zu sein und in dieses einzutauchen.
White Paper Teaching versucht, immer möglichst nah am echten Leben zu sein und in dieses einzutauchen. Dabei ist es hilfreich, dass der Unterricht gemeinsam von Kindern und Lehrpersonen entwickelt wird. Die Lebenswelt der Kinder wird für die Lehrperson und die Klassengemeinschaft zur Ressource und zum Ausgangspunkt, das Lernen zu gestalten.
Zur Lebenswelt der Kinder gehören beispielsweise das Dorf respektive die Stadt mit allen Institutionen und Menschen wie Ärzten, Museen, Konzerthäusern, Läden, Parks, Werkstätten, mit dem Wald als Lebens- und Erholungsraum, den Familien und sozialen Netzen der Kinder, der Freizeitgestaltung mit allen Vereinen und Hobbys, etc. All diese Lernorte können und sollen von der Klasse entdeckt werden. Was hier vornehmlich nach den Bereichen Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG), Sport und Gestalten klingt, ist aber immer auch stark mit Sprache verbunden. Selbstverständlich gehören auch Bücher, Zeitungen und digitale Medien zur Lebenswelt der Kinder, die in der Sprache allgegenwärtig sind. Um die mathematischen Bezüge in der Welt zu finden, braucht es hingegen oft einen zweiten Blick; doch wer mit den Kindern in das echte Leben eintaucht, wird staunen, wo in unserem Alltag überall Mathematik steckt.
Beim Thema „Umgang mit Geld“ zeigt sich exemplarisch, wie vernetzt originales Lernen ist. Vom Kindergarten bis zur Oberstufe treffen beim Thema „Handel“ schnell die Bereiche Sprache, Natur-Mensch-Gesellschaft und Mathematik aufeinander. Gerade im originalen Lernen wird offensichtlich, dass das Leben ein vernetztes Gebilde ist, bei dessen Erforschung sich die Fachbereiche überschneiden und sich gegenseitig bereichern.
Celéstin Freinet (vgl. Kock, 2019) war ein Wegbereiter des Lernens am Original, da er mit seinen Schülerinnen und Schülern bereits vor achtzig Jahren hinaus ins Dorf und in die Natur ging, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Die Kinder hielten anschließend ihre Erkenntnisse und Erfahrungen fest und verbreiteten diese dann mit Hilfe ihrer eigenen Schuldruckerei im Dorf. Ihre Schülerzeitung – angereichert mit eigenen Geschichten – waren alles Originaldrucke!
6 … agile Lerngestaltung
Wer in das echte Leben eintaucht, und das erst noch mit einer ganzen Gruppe, wird sofort merken, dass die angestoßenen Prozesse nicht linear planbar sind. Ein Stein wird ins Rollen gebracht. Nun kann und muss dieser gelenkt werden. Diese rollende Planung und das damit einhergehende prozesshafte Verständnis von Lernen sind besonders spannend und anregend. Die Kinder und Lehrpersonen bleiben immer in Bewegung. Sie müssen wach sein für das, was sich ereignet. Die Lehrperson ist auf verschiedenen Ebenen gefordert: Sie muss auf die Kinder hören, sie beobachten, um danach adäquat reagieren zu können. Lernen ist ein situativer und persönlicher Prozess. Ich bin immer gemeint und ich mache immer einen Unterschied. Eine 8-jährige Schülerin sagte einmal zu mir: „Nichts und niemand ist gleich!“ Leider können Lehrmittel, Arbeitsblätter und Lernpläne diesem Aspekt nicht genügend Rechnung tragen.
Lernen ist ein situativer und persönlicher Prozess.
Sie inszenieren Lernen als repetitive, voraussehbare Veranstaltung. Sie berücksichtigen viel zu wenig das Individuum und orientieren sich stattdessen immer an einer fiktiven Norm. Dabei besteht die Gefahr, dass nicht nur die Kinder in eine Abarbeitungshaltung geraten, sondern dass auch die Lehrperson den Blick nicht mehr beim Leben und Lernen der Kinder hat, sondern beim Bestreben, die vorbestimmten Aufträge mit den Kindern zu erfüllen. Doch nachhaltiges Lernen kann gerade nicht vorausbestimmt und verwaltet, sondern nur agil mit allen Beteiligten gestaltet werden (vgl. Arn, 2017).
Hans Brügelmann schreibt provokativ dazu: „Lehrgänge sind Krücken. Allein dadurch, dass man Krücken wegwirft, verschwindet keine Behinderung. Wer sich andererseits nur noch auf seine Krücken verlässt, verliert allmählich auch die verbliebenen Reste der eigenen Fähigkeit. Es gibt nur einen Ausweg: jeden Tag einige Zeit und von Tag zu Tag ein bisschen mehr auf die Hilfe der Krücken zu verzichten.“ (Brügelmann, 1984, S.9)
7 … aktives Forschen
Passives Forschen geht nicht. Wer forscht, ist in Bewegung, möchte entdecken, möchte verstehen. Solche Aktivität wird von einem agilen Lernumfeld unterstützt oder überhaupt erst ermöglicht. Die Kinder und Lehrpersonen versuchen gemeinsam, die Welt zu verstehen. Sie sind miteinander und mit der Welt im Dialog. Dabei geht es um eine lebendige Auseinandersetzung, in der sich das „Ich – mit meinen Gedanken, Sichtweisen, Erlebnissen“, das „Du – mit den Gedanken, Sichtweisen und Erlebnissen des Gegenübers“ und das „Wir – mit einer verallgemeinernden, konventionsverbundenen Idee“ begegnen (vgl. Ruf & Gallin, 1990). Im dialogischen Hin und Her von Ich-Du-Wir lernen Kinder und Lehrpersonen sich selbst, die anderen und die Welt besser kennen. Der aktive Forschergeist führt zu einer offenen, wissbegierigen, lernenden Haltung gegenüber dem Unbekannten und dem Fremden. Mutig gemeinsame Wege zu beschreiten, wird zum alltäglichen Leben und Lernen. Wege entstehen bekanntlich dadurch, dass man sie geht.
8 … nachhaltige Leistungsfreude
White Paper Teaching fördert die Leistungsbereitschaft von Kindern und Lehrpersonen. Das ist gut so, denn Leistung ist großartig und macht Freude! Diese Haltung zeigt ein urpositives Verhältnis zu Leistung und befreit sie von der Orientierung am Leistungsvergleich.
Die Kinder freuen sich über das, was sie mit Motivation und Einsatz erreicht haben, unabhängig davon, wo die anderen Kinder stehen.
Leistung ist fern von Gängelei und normativem Druck zu verstehen. Sie stellt vielmehr die individuelle Leistung ins Zentrum. Die Kinder freuen sich über das, was sie mit Motivation und Einsatz erreicht haben, unabhängig davon, wo die anderen Kinder stehen. Sie erleben sich als selbstwirksame und erfolgreiche Lernende. Diese Leistungsmotivation und Leistungsbereitschaft führen auch normativ betrachtet zu sehr guten Leistungen, was sich unter anderem in ihren Heften gut zeigen und belegen lässt. Die Kinder lernen erfolgreich nicht obwohl, sondern weil sie Freude haben. Diese Leistungsfreude der Kinder ist nachhaltig und es gelingt ein Transfer in nicht-schulische Kontexte. Immer wieder erzählen mir Eltern, dass ihre Kinder, seit sie bei mir in der Schule sind, in der Familie und Freizeit interessierter und präsenter auf die Welt zugehen. Und Lehrpersonen, welche Schülerinnen und Schüler von mir übernehmen, loben das grosse Engagement und die intrinsische Motivation der Kinder.
Anzufügen gilt hier, dass die guten Leistungen nicht einzig auf die Lernfreude und den Einsatz des einzelnen Kindes zurückzuführen sind, sondern auch auf alle anderen oben beschriebenen Punkte, wie soziale Dynamik, gezielte Differenzierung, individuelle Dokumentation und anderes mehr. Es ist das Zusammenspiel all dieser Faktoren, welche das Lernen begünstigt.
Was hier als Leistung beschrieben wird, bezieht sich sowohl auf die Fachkompetenz als auch auf die personale, soziale und methodische Kompetenz (vgl. Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, 2016). Lernen beinhaltet nicht nur, was auf einem weissen Blatt Papier gezeigt werden kann – aber auch.
9 … geteilte Ressourcen
„Teilen“ ist nicht das Gleiche wie „aufteilen“. Etwas aufzuteilen hebt das Ganze auf. Etwas zu teilen macht das Ganze für beide zugänglich. Unterricht soll nicht zwischen Kindern und Lehrpersonen aufgeteilt, sondern von allen Menschen im Unterricht und in dessen Umfeld geteilt werden. Teilen macht glücklich. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Erfolge – auch von Einzelnen – sollen in der Klasse geteilt werden.
Die Freude wird also immer größer . Aber auch Probleme, Fehler, Unsicherheiten sollen gemeinsam getragen werden. Sie werden so fassbar, lösbar, enttabuisiert und zum Lernfeld sowohl für den Einzelnen wie auch für die ganze Gruppe. Jeder darf Fehler machen, wir alle können davon lernen und möglicherweise können wir auch bei der Lösung der individuellen Problemstellung behilflich sein (vgl. Arn, 2008).
Dieser positive Zugang zum Leben und den darin enthaltenen Ressourcen ist zentral für einen guten Unterricht. Damit ist nicht gemeint, dass im Leben aktuell alles schön und gut ist, sondern, dass das Leben den Ausgangspunkt für jegliche Veränderung darstellt. Schön formuliert wird das in einem Liedertext der deutschen Band Pur: „Ich seh’ jetzt nicht mehr nur, was ist. Ich seh’ auch, was draus werden kann. Jeder Tag fängt damit schöner an.“ Hier richtet sich der Blick auf die Ressourcen jedes einzelnen Menschen: der Lehrperson, des Kindes, des Vaters, der Mutter, der Geschwister etc. Diese Ressourcen gilt es zu entdecken, wertzuschätzen und zu nutzen. Schule wird nicht von der Welt durch Aufteilung abgetrennt, sie ist Teil derselben, Teil eines Netzwerks, Teil eines grossen Ganzen.
10 … heisst lebenslanges Lernen
Die hier aufgeführten zehn Aspekte des White Paper Teachings erzählen von meinem persönlichen Weg, welchen ich mit anderen gegangen bin. Er zeugt von zwanzig Jahren Leben und Lernen in einer altersgemischten, inklusiven Regelklasse in einer Kleinstadt mit hohem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund. In dieser Klasse konnten so genannt „normale“, „mehrfachbehinderte“ und „hochbegabte“ Kinder gemeinsam leben und lernen.
In meiner Ausbildung zum Heilpädagogen wurde mir von einem Dozenten folgender Satz mit auf den Weg gegeben, den ich mittlerweile auch selbst unterschreiben würde: „Was ich euch jetzt erzähle, ist der aktuelle Stand meines persönlichen Irrtums.“ Ich sehe mich selbst als Lernenden, im Wissen um meine eigenen Grenzen, Fragen und Unsicherheiten. Aus diesem Grund versuche ich hier nicht neue Normen zu vermitteln, sondern Beobachtungen und Erkenntnisse zu beschreiben, die mir wichtig sind und gut erscheinen.
Dass der persönliche Aspekt des Lernens gerade für Lehrpersonen zentral ist, zeigt sich auch darin, dass die Schule mit ihren Normen und den dazugehörigen Erwartungen den Kindern und Lehrpersonen noch immer viel Stress bereitet. Allzu oft geht es darum, etwas Normatives zu erfüllen, und nicht darum, das Maximum zu lernen. Als Gegenteil von „normativ“ habe ich bei meiner Recherche das Wort „beschreibend“ entdeckt.
Allzu oft geht es darum, etwas Normatives zu erfüllen, und nicht darum, das Maximum zu lernen.
Das trifft es aus meiner Sicht: Ich versuche als Mensch, welcher sich für die Menschen und das Leben interessiert, immer beschreibender zu werden, denn mir wird immer stärker bewusst, dass der normative Blick meinem Gegenüber oft nicht gerecht wird. Dadurch werde ich selbst zum Lernenden mit wachem Blick und offenem Geist.
Der Moment, als mir vor zwanzig Jahren klar wurde, dass ich von nun an auf vorgedruckte Materialien, Arbeitsblätter, Lehrmittel, Prüfungen und normierte Fragebögen verzichten werde, war dabei entscheidend. Von da an war ich näher bei den Kindern und ihrem Lerngeschehen und näher an dem, was mir und den Kindern in dieser Welt begegnet. Ich wurde kreativer und begann, das Lernen mit den Kindern gemeinsam zu gestalten. Für mich bis heute ein großes und spannendes Abenteuer!
White Paper Teaching ist (k)eine Pädagogik!
Viele pädagogische Ansätze – auch reformpädagogische – beschreiben Modelle, bei welchen die Erwachsenen, respektive die Lehrpersonen für die Kinder tätig sind. Sie stellen Lernmaterialien, Lernpläne, Lernarrangements etc. für die Kinder her, welche diese anschließend durcharbeiten sollten.
White Paper Teaching ist kein klassisches pädagogisches Modell, sondern eine gelebte Form des natürlichen gemeinsamen Lebens und Lernens.
White Paper Teaching bedeutet hingegen, dass Unterricht nicht von Erwachsenen für Kinder organisiert, sondern gemeinsam mit Kindern gestaltet, gelebt und verantwortet wird. White Paper Teaching ist kein klassisches pädagogisches Modell, sondern eine gelebte Form des natürlichen gemeinsamen Lebens und Lernens. Nicht mehr und nicht weniger.
White Paper Teaching – ein Schulbesuch
Die leicht gekürzte Reportage der Journalistin Claudia Landolt aus dem Elternmagazin Fritz+Fränzi gibt Einblick in den konkreten Lebens- und Lernalltag mit White Paper Teaching.
Wo Schule Freude macht!
Eine ganz „normale“ staatliche Schulklasse in Wil (SG), die so ganz anders ist: Hausaufgaben sind freiwillig, auf Lehrmittel und Arbeitsblätter wird verzichtet und Prüfungsstress gibt es auch nicht. Dies dazu noch in einer altersgemischten, integrativen Kindergruppe. Wie geht das? Ein Unterrichtsbesuch.
Jedes Kind ist verschieden, lernt verschieden und stammt aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Dem wollen einige Schweizer Schulen entgegenkommen und haben das altersdurchmischte Lernen eingeführt. Fritz+Fränzi wollte wissen, wie der Schulalltag in einer solchen Klasse, die zudem integrativ geführt wird, aussieht. So besuchte Fritz+Fränzi eine von acht Klassen des Alleeschulhauses in Wil. Dort unterrichten Darinka Egli und Achim Arn als Vollzeit-Zweierteam gemeinsam mit 21 Kindern zwischen sechs und zehn Jahren. Zu ihnen gehören auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Zum Beispiel Céline. Sie ist schwer sehbehindert und damit das Kind mit dem sichtbarsten Handicap. Oder der heute so aufgeweckte Tenzin, der im Kindergarten sehr wenig sprach, sich kaum verständigen konnte sowie weitere sechs Kinder, die anderswo separiert unterrichtet würden. Hier jedoch gehören sie alle dazu. Möglich ist dies, weil Achim Arn Klassenlehrer und Heilpädagoge zugleich sein und mit Darinka Egli stets zusammen vor Ort sein kann.
Vom echten Leben lernen
Es ist Dienstagmorgen um 7.30 Uhr. Die grosse Eingangstüre des Alleeschulhauses mitten in Wil ist weit geöffnet. Nach und nach trudeln die Kinder der Klasse Egli/Arn im Klassenzimmer ein. Obwohl der Unterricht erst um 8 Uhr anfängt, sind die Lehrpersonen schon eine halbe Stunde früher vor Ort, um den Kindern einen individuellen und ruhigen Schulstart zu ermöglichen und den Eltern etwas Morgenstress zu nehmen. So kommt es nicht selten vor, dass manche sich im Schulzimmer die Zähne putzen, sich ein Buch schnappen oder an ihren Aufgaben arbeiten. Um 8 Uhr ertönt das Morgenlied auf dem Klavier. Die Schule beginnt. Heute steht ein Ausflug in den Wald an, so wie alle 14 Tage. „Vom Baum zum Stuhl“ heisst das Thema, an dem die Kinder arbeiten. Ihre Entdeckungen bebildern und beschreiben sie in ihrem Arbeitsheft, dem so genannten Forschungsheft.
Vorerst gilt es, den 20-minütigen Fussmarsch in den Wald zu bewältigen. Das gelingt mit wenig Gedränge und Geschubse – zu gross ist die Vorfreude. „Ich finde es toll, dass wir so viel draussen sind“, bringt es Mehrin auf den Punkt. Viele Wochen zuvor hat sich die Klasse draussen mit den Bäumen beschäftigt, verschiedene Keimlinge gesammelt und eingepflanzt. Diese stehen auf den Pulten im Schulzimmer. „Wir pflegen sie gut“, erklärt der zehnjährige Vleran stolz. Er ist es auch, der uns schildert, wie das mit den Bäumchen funktioniert. „In unserer Baumschule haben wir viele Bäumchen. Wir pflegen sie, bis sie genug gross sind, um in den Wald ausgepflanzt zu werden. Dies haben schon viele Schulklassen vor uns so gemacht. Darum hat es im Wald ganz viele grosse Bäume aus unserer Schule.“ Im Wald wartet der Wiler Förster Renaldo Vanzo bereits auf die Kinder. Heute sucht er mit ihnen die Bäumchen aus ihrer Baumschule aus, die sie an einer entfernt liegenden Lichtung zusammen einpflanzen werden.
Keine Schulglocke, die erklingt, kein Sehnen nach der Pause und kein Pressieren auf den Zug. Was andernorts ein Schulausflug wäre, ist hier Normalität. „Das Leben findet draussen statt, das sollen die Kinder miterleben“, erklärt Darinka Egli. So geht die Klasse nicht nur regelmässig in den Wald, sondern nutzt auch die Stadt als Lernort. Zum aktuellen Thema „Vom Baum zum Stuhl“ besuchten sie bereits eine Sägerei und eine Schreinerei. „Kinder sollen Lebensstärke entwickeln, das heisst, mit beiden Beinen im Leben stehen. Das bedeutet, dass sich Kindergarten und Schule den echten Inhalten und Situationen des Lebens stellen müssen“, sagt Darinka Egli.
Einander helfen ist Programm
Wir spazieren zur Waldlichtung. Ein Mädchen in gelber Regenjacke greift nach meiner Hand. Es ist Céline. „Gehst du gerne in den Wald?“, fragt sie mich. Und sagt dann, in einer Grosszügigkeit, wie sie nur Kindern eigen ist: „Ich habe eine Sehbehinderung – und dann habe ich noch zwei Geschwister und bin zehn Jahre alt, und du?“ Ihre jüngere Klassenkollegin Tijana hüpft neben uns, munter wie Pippi Langstrumpf. Zwischen zwei Hüpfern und zahlreichen Entdeckungen („Eine Schnecke!“) berichtet sie mir aus ihrer Welt: von ihrem Morgen, ihrer Familie und von ihrem baldigen Geburtstag. Zwischendurch erklärt sie Céline den Weg: „Jetzt musst du nach rechts abbiegen.“ Dass man sich gegenseitig hilft, ist in dieser Klasse Programm.
Auf der Lichtung zeigt der Förster den Kindern, wie man korrekt einen jungen Baum einpflanzt. Wenig später graben sie zu zweit mit einem Spaten ein Loch in den Boden und schleppen schwere Holzpfähle. Manche schwitzen, ziehen ihre Jacken aus. Andere wiederum diskutieren, wer nun welche Aufgabe hat. Auch Céline läuft über den unebenen Waldboden, an der Hand ihrer Kollegin Joy. Ab und zu schaut Céline in den Himmel, als ob sie das gefällige Blau, die schöne Stimmung mit ihren Sinnen einfangen möchte.
Rechnen „spielen“ ohne Lehrmittel
Rechnen sei ihr Lieblingsfach, erklären mir mehrere Kinder voll Freude. Warum? „Weil wir hier Rechnen spielen. Das ist, wie ein Rätsel zu lösen“, erzählt Leon. Zum Beispiel Subtraktion. An diesem Morgen geschieht dies zuerst mit einer selbst gebastelten Kegelbahn mit 7 oder 14 Kegeln, die es mit dem Finger und mit Hilfe einer Murmel wegzukicken gilt. Die Anzahl gefallener Kegel wird von der Startzahl 20 oder 40 anschliessend subtrahiert. Wer zuerst bei 0 ist, hat gewonnen! Die Kinder entscheiden dabei selbst, mit welcher Anzahl Kegel und mit welcher Startzahl sie spielen wollen. Arn erfragt das so: „Welche Anzahl Kegel ist gut für dich? Mit welcher Startzahl möchtest du üben?“ Und dann setzen sich zwei Kinder zusammen, welche die gleiche Herausforderung suchen, dabei spannt zum Beispiel ein Zweitklässler mit einem Erstklässler zusammen.
Die Rechenaufgabe wird ins Heft geschrieben, der Kegelpartner rechnet beim Resultat mit und korrigiert, wo nötig. Nach einigen Runden treffen sich die Kinder im Kreis und geben sich gegenseitig Tipps, wie man fingerfertig die Kegel trifft und vor allem, wie man die daraus entstehende Rechnung schlau lösen kann. Später rechnen die Kinder von der Tafel, an der unzählige Rechnungen verschiedenen Schwierigkeitsgrades stehen. Auch hier wählen die Kinder selbst, welche Aufgaben zu ihnen passt und sie fordert. Sie entscheiden auch eigenständig, mit welchen Hilfsmitteln (Finger, Klötze oder dem iPad) sie die Rechnung lösen. Mehr als eine Stunde sind alle Kinder hochkonzentriert.
Dabei ist die Bandbreite sehr gross: Ein siebenjähriger Junge rechnet im Tausenderraum, während das neunjährige Mädchen daneben bis 20 arbeitet. Beide sind mit grossem Eifer dabei und kontrollieren sich gegenseitig. Natürlich möchten beide gewinnen! Bei Fragen wenden sie sich zuerst an ihren Nachbar, dann an eine der beiden Lehrpersonen. Auch Céline übt an ihrem iPad, an einem Programm, das eigens für sie entwickelt wurde und ihr das selbständige Arbeiten an den Klasseninhalten ermöglicht. Am Schluss der Stunde gibt es eine Feedbackrunde, welche von einem Kind geleitet wird. „Wie ging es dir beim Arbeiten? Was hat dir geholfen? Wo möchtest du weiterarbeiten?“ Mehrere Kinder melden sich und geben so Auskunft über ihr Lernen. Kinder mit ganz verschiedener Rechenkompetenz melden sich. Sie alle wollen über ihr Lernen Auskunft geben. „Wir wollen nicht nur die Kinder dort abholen, wo sie stehen, sondern wollen, dass sie es selbst wissen. Von dort aus können wir gemeinsam überlegen, welche Lernschritte für sie folgen könnten.“, erklärt Darinka Egli.
Die selbst gebastelte Kegelbahn ist keine Ausnahme. In dieser Klasse gibt es keine Lehrbücher, Arbeitsblätter, Werkstätten oder Wochenpläne. Gelernt wird vom Thema selbst, dokumentiert wird in leeren Heften, und geübt wird oft mit Spielen. Immer gibt es Raum zur Differenzierung. Und tatsächlich: Keines dieser Kinder kommt zu kurz. Jedem wird die Zeit geschenkt, die es für seine Schritte braucht. Während Darinka Egli einer Gruppe eine Aufgabe erklärt, kann sich Achim Arn auch mal einem einzelnen Kind länger widmen. Es muss ihm dringend etwas mitteilen. „Es ist nett, dass du mir beim Rechnen geholfen hast“, sagt das Mädchen später zu Achim Arn.
Lernen im Rhythmus der Kinder
Um so konzentriert arbeiten zu können, wie es die Kinder in der Mathematik tun, braucht es einen Tagesrhythmus, der den Kindern entspricht. So treffen sich die Kinder täglich im Morgenkreis. Auf dem kleinen Holztischchen in der Mitte liegt ein mehrteiliges Holzpuzzle, aus dem sechs Kinder ein Stück herausnehmen und etwas berichten dürfen. Sei es von einem neuen Rucksack oder einem Ausflug. Was immer ein Kind beschäftigt, kann so mit der Klasse geteilt werden. So erzählt ein Junge zum Beispiel, dass er mit seinem Vater an der Eröffnung einer Moschee gewesen ist. Seine Klassenkollegen fragen: Was ist eine Moschee? Hast du da gebetet? Und sieht sie schön aus?
Nach der darauf folgenden intensiven, circa einstündigen Arbeitsphase gibt es den wohlverdienten Znüni. Dieser wird gemeinsam im Klassenzimmer eingenommen, angestimmt durch das Znünilied. Die Kinder holen ihre Snacks aus dem Schulthek. Es kommen Früchte zum Vorschein, ab und an ein Darvida, manchmal ein Sandwich. „Wenn wir wollen, dass die Kinder gesund essen, weil es zu ihrem Wohlbefinden beiträgt, muss das gesunde Essen Bestandteil des Alltags sein“, sagt Darinka Egli. Enge Ernährungsvorgaben gebe es nicht, das Znüni müsse einfach gesund sein. Dies führe dazu dass die Schülerinnen und Schüler immer wieder über ihr Znüni diskutieren, ob etwas gesund sei oder nicht. So lernen sie ein Stück weit, sich gesund zu ernähren.
Wenn die Zwischenverpflegung gegessen ist, saugt Tijana mit dem Staubsauger den Boden und wischt die Brösmeli vom Tisch. Danach geht es nach draussen zum Austoben und Spielen – nicht ohne vorher besprochen zu haben, was man vorhat, damit niemand sich langweilt oder alleine bleibt. „Das gemeinsame Znüni und das Pausenkonzept wurde erfunden, damit Ernährung und Bewegung genug Raum im Alltag haben“, erklären die beiden Pädagogen. Nach der Pause folgen dann oft Phasen des freien Spielens und Lernens, des Sports oder des Gestaltens.
Das Wohl des Kindes im Vordergrund
Dass in dieser Klasse das Kind in seiner gesamten Entwicklung im Zentrum steht, wird schnell sichtbar. Auch darin, dass von allen Kindern der Klasse ein grosses Familienfoto an der Wand hängt. Hier gehören nicht nur alle Kinder dazu, sondern die ihrer Familien. Die Eltern sind auch ohne Vorankündigung in der Klasse als Besucher immer gern gesehen. Das sorgt für ein gutes gegenseitiges Verständnis, was gerade bei den vielen nicht alltäglichen Dingen in dieser Klasse wichtig ist. Ein Kind sagt von sich dem Besuch treffend: „Ich wohne im zweiten Stock.“ Eine Mutter erzählt, dass hier Konflikte in der Klasse oder in der Schule nicht an den Mittagstisch gelangen, sondern in der Schule gelöst werden.
Die Sprachkultur schwappe auch auf das Elternhaus über, erzählt sie. „Häufiger als „Ich will.“ hören wir nun „Ich hätte einen Vorschlag.“ Manche Kinder empfinden diesen Unterrichtsstil allerdings als „anstrengend, weil ich da so viel selber denken muss“, sagt etwa eine Schülerin. „Das empfinde ich aber als Kompliment“, antwortet Achim Arn. „Selber zu denken ist nicht der einfachste Weg. Doch nur wer alles selber ausprobieren, prüfen und erforschen will, wird echte Lebensstärke entwickeln.“
Dieser Text erschien im Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, Ausgabe 9/17 als Reportage unter dem Titel „Wo Schule Freude macht“. Publikation mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Elternsein, Zürich www.fritzundfraenzi.ch
„Selber zu denken ist nicht der einfachste Weg. Doch nur wer alles selber ausprobieren, prüfen und erforschen will, wird echte Lebensstärke entwickeln.“
Literatur
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Arn A. (2008). Fehler als Lernmotor. In: Schritte ins Offene, 38. Jahrgang, Nr.4. Spiez: EFS&FKS.
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Feuser, G. (2019, Mai 24). Schulisch-unterrichtliche Inklusion – ein Frage der Didaktik. Abgerufen am 25. Oktober 2020, von https://www.georg-feuser.com/schulisch-unterrichtliche-inklusion-eine-frage-der-didaktik/
Krauthausen, Günter & Scherer, Petra (2010). Umgang mit Heterogenität. Natürliche Differenzierung in der Grundschule. Handreichung des Programms SINUS an Grundschulen. Kiel: IPN.
Küppers, K. & Römling-Irek, P. (2011). Die Auseinandersetzung mit der Welt. Braunschweig: Georg Westermann Verlag.
Renate K. (2019). Freinets pädagogische Theorie des Lernens und des Lehrens. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Ruf U., & Gallin P. (1990). Sprache und Mathematik in der Schule: Auf eigenen Wegen zur Fachkompetenz. Stuttgart: Klett-Cotta.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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