Die Entfaltung der Lernenden am Beispiel indigener Pädagogik
Noémie Hermeking
„Die agilen Werte Selbstverpflichtung, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt zusammen mit dem agilen Manifest von 2001, bilden die Eckpfeiler für das agile Vorgehen“, schreibt Inge Hanschke (2017:7).01 Folglich, betont Christof Arn geht es beim agilen Lehren auch nicht darum, dass der Pädagoge aus seiner Machtfunktion heraus unterrichtet und die Lernenden als passive Lernempfänger fungieren (2020:18-20). Ganz im Gegenteil: Es geht um eine aktive Teilhabe, sowohl der Lernenden, der Eltern und der Lehrpersonen am Schul- und Bildungsentwicklungsprozess. Letztere werden hier zu Lernbegleitern, die einen Raum schaffen, wo Flexibilität den Freiraum öffnet, in dem Lernprozesse entstehen können. Dabei rücken die Lernenden ins Zentrum, haben die Möglichkeit, sich zu entfalten, Wissen kritisch zu hinterfragen und somit aktive Lernempfänger zu werden.
Aufgrund dessen kann und muss die Schule der Ort sein, wo Kinder und Jugendliche auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden, auch Unplanbares bewältigen zu können. Der Schlüssel, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, ist eine Bildung, bei der die Schüler*innen aktive Mitgestalter ihrer Zukunft sind. Wie solch eine nachhaltige Schule aussehen kann, wo sich die Lernenden frei entfalten können, soll im Folgenden beschrieben werden.
Um dies zu veranschaulichen, soll als Beispiel für ressourcenorientierte und projektbezogene Bildungsarbeit, zusammen mit den oben genannten agilen Werten, die Indian Community School of Milwaukee (ICS)02, im heutigen Bundesstaat Wisconsin (USA), genauer betrachtet werden. Seit den 1960er-Jahren fordern die Ureinwohner der USA mehr Selbstbestimmung im Bildungswesen, um den Erhalt ihrer indigenen Kultur(en) zu stärken. Diese Entkolonialisierung der Bildung beleuchtet das ständige Bestreben, Bildung sinnvoll zu gestalten und gleichzeitig die Pädagogik an die jetzige Zeit anzupassen. Folglich stellt die Schule hier einen Ort der Wissens- und Wertevermittlung dar und indigene Schüler*innen haben somit die Möglichkeit, etwas über ihre Traditionen und Kultur zu erfahren. Gleichzeitig können sie durch das praxisorientierte, holistische und ressourcenorientierte Lernen wichtige Werte für die Nachhaltigkeit der Weltgesellschaft erwerben: Respekt, Achtsamkeit und Verbundenheit mit Allem.
Die ICS wurde 1970 als erste urbane Schule von Indianern für Indianer gegründet03. Anlass hierfür war die Unzufriedenheit vieler indigener Eltern über das öffentliche, standardisierte Schulsystem. Heutzutage steht die ICS sowohl für eine kulturelle Bildungseinrichtung für mehr als 350 indigene Lernende (von der Vorschule bis zur 8. Klasse), als auch für einen Knotenpunkt der indianischen Gemeinschaft in Milwaukee. Durch gemeinsame Feste und Zeremonien wird versucht, dass sich möglichst alle beteiligen können. Eltern werden dabei aktiv in die Schulgestaltung mit einbezogen. Da die Schüler*innen verschiedenen indianischen Stämmen angehören, greift die Schule auf gemeinsame Werte und indigene Philosophien zurück, damit alle in ihrer kulturellen Identität und im kritischen Denken gefördert werden04.Indigene Kultur ist somit das Herzstück der Schule und manifestiert sich in allen Lerninhalten der Schule (Amour, Brazouski, Dropik, Jones und Powless 2018).
Des Weiteren sind folgende sieben Grundwerte fest im Curriculum verankert: Weisheit, Liebe, Respekt, Tapferkeit, Demut, Loyalität und Wahrheit5. Durch die Vermittlung dieser Werte erhofft sich die ICS eine Art Verwurzelung der Lernenden, bei der Verbundenheit, Verantwortung und Haltung den Einzelnen mit dem Kollektiv verflechten. In diesem Sinne kann jedes individuelle Talent wertgeschätzt werden, Potenziale sich entfalten und etwas zum Ganzen beitragen – ein hierarchischer Gedanke ist dieser Philosophie fremd.
Der heilige Lebenskreislauf ist ebenfalls Teil der Lehre, und gehört laut Donald Fixico seit Tausenden von Jahren zum indianischen Glaubenssystem (2003). Auch Raymond DeMallie bestärkt die vielen philosophischen und spirituellen Facetten wie Verbundenheit und Kontinuum des Zyklus: „Holismus ist für das Leben der Indianer von grundlegender Bedeutung“ (1994: 307). Dieser holistische Ansatz ist auch für die Implementierung der agilen Bildung von größter Bedeutung. Ganzheitliche Lernkonzepte ermöglichen einen dynamischen Entwicklungsprozess, um den Herausforderungen der VUCA Welt05 begegnen zu können.
Das Bild eines Kreises manifestiert sich sowohl in der Trommel, als auch im Powwow-Erlebnis (Champagne 1999: 131) – beides sind Aktivitäten, die an der ICS angeboten werden. Wabenow zufolge, einem Menominee-Ältesten, der während meines Aufenthalts an der ICS die Trommelgruppe06 leitete, symbolisiert die Trommel den Herzschlag der Erde. Um Teil der Trommelgruppe zu werden, fordert Wabenow von jedem Einzelnen, dass er sich respektvoll benimmt: „Die Trommel zu pflegen und zu achten heißt somit auch, achtsam mit Mutter Erde umzugehen, da wir ohne sie nicht hier wären“ (Waldhubel 2011: 96-107).Diese formelle Verpflichtung besteht folglich nicht nur zwischen Lehrer und Schülern, sondern auch zwischen den Schülern selbst als eine Verbundenheit mit allen Lebensformen. Wabenow sieht es dabei nicht als zielführend an, sich über die Schüler zu stellen; alle sollten sich auf Augenhöhe begegnen, dann würde man auch respektvoll behandelt werden. Zusätzlich erinnert er die Schüler „an die Wichtigkeit und Bedeutung der Trommel. […] Die Trommel erklärt alles über das Leben“(Waldhubel 2011: 96-107). Diese Wissens- und Wertevermittlung auch außerhalb des Klassenzimmers anzuwenden, ist Wabenows größter Wunsch.
Des Weiteren fließen die sieben Grundwerte in das projektbasiertes Lernen mit ein. Hierbei wird die Zusammenarbeit der Schüler*innen an einer gemeinsamen Lösungsfindung unterstützt. Entscheidend, ähnlich wie bei der agilen Bildung, steht hier der Prozess und nicht das Produkt im Vordergrund (ICS 2020).07 Indigene Pädagogik, zusammen mit projektbasiertem Lernen, haben somit das Ziel eine nachhaltige Gemeinschaft zu fördern, in der auf das lebenslange Lernen für eine komplexe und unbestimmte Zukunft vorbereitet wird.
So wie auch bei den Grundprinzipien der agilen Bildung, ist Flexibilität hier eine Grundvoraussetzung für ein positives Gelingen für die Schule von morgen. Im Mittelpunkt sollten jedoch immer die Lernenden bleiben, denn die Zukunft gehört ihnen. Sie bestmöglich zu fördern und zu ihrer Entfaltung beizutragen, liegt jedoch in unserer Verantwortung. Es gibt viel zu tun, packen wir es an! Es lohnt sich. Jetzt!
Indigene Pädagogik, zusammen mit projektbasiertem Lernen, haben somit das Ziel eine nachhaltige Gemeinschaft zu fördern, in der auf das lebenslange Lernen für eine komplexe und unbestimmte Zukunft vorbereitet wird.
Bibliographie
Amour, Carol Ann, Brazouski, Anthony, Dropik, Jason, Jones, Jacob, und Powless, Mark 2018 Our Ways: Culture at the Heart of the Indian School, http://www.susted.com/wordpress/content/our-ways-culture-as-the-heart-of-the-indian- community-school_2018_06/,abgerufen, abgerufen am 24.10.2020.
Arn, Christof: 2020 Agile Hochschuldidaktik. Weinheim: Beltz Juventa.
Cajete, Gregory: 2020 Indigenous Community: Rethinking the Teachings of the Seventh Fire. St. Paul: Living Justice Press.
Champagne, Duane , ed.: 1999 Contemporary Native American cultural issues. Walnut Creek: Alta Mira Press.
DeMallie, Raymond and Alfonso Ortiz, eds.: 1994 North American Indian Anthropology: Essays on Society and Culture. Norman: University of Oklahoma Press.
Fixico, Donald: 2003 The American Indian Mind in a Linear World. Routledge: New York.
Hanschke, Inge: 2017 Agile in der Unternehmenspraxis. Wiesbaden: Springer Verlag.
Indian Community School Webpage: 2020 Mission Statement https://ics-edu.org/mission-vision-sacred- gifts/#:~:text=Home,Our%20Mission,with%20a%20distinguished%20learning%20en vironment, abgerufen am 24.10.2020.
Indian Community School Webpage: 2020 Project-Based Learning https://ics-edu.org/culture-academics/ics- academics/project-based-learning-2/, abgerufen am 24.10.2020
Lurie, Nancy O. L.: 2002 Wisconsin Indians. Madison: The Wisconsin Historical Society.
Waldhubel, Noémie: 2011 Learning Culture in an Urban Tribe: An Indian School in Milwaukee. Ann Arbor: ProQuest.

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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