Tim Kantereit
Ein bisschen so wie Nichtstun fühlt es sich manchmal an, wenn ich am Fenster des Seminarraumes stehe und den Blick über die Skyline der Stadt schweifen lasse. Gespannt lausche ich den Gesprächen im Hintergrund. Ich kann immer besonders gut zuhören, wenn ich meinen Blick wandern lasse.
Ich bin begeistert davon, so eine positive, von deutlich sichtbarer Kollaboration geprägte Atmosphäre zu erleben.
Ich habe aktuell kein schlechtes Gefühl bei diesem Nichtstun, im Gegenteil. Ich bin begeistert davon, so eine positive, von deutlich sichtbarer Kollaboration geprägte Atmosphäre zu erleben. Da darf man sich ganz drauf einlassen und selbst auch nichts tun. Der Rahmen ist deutlich gesteckt.
Wovon ich spreche? So sieht es aus und fühlt es sich an, wenn ich ein Seminar gebe. Ein wenig hin und her gerissen zwischen Freude und dem Gefühl, jetzt eigentlich, vielleicht doch mal irgendwo, irgendwie einzulenken, weil ich sonst ja überflüssig bin.
Ich glaube, genauso muss es sein, wenn man ein Seminar agil gestaltet. Im Vorfeld hat man etwas Sorge, ob alles so funktioniert, wie gedacht. Und am Ende ist man überrascht und beglückt, welch tolle Lerngelegenheiten entstanden sind.
Was soll das bedeuten? Ich will hier skizzieren, was ich unter agiler Seminarführung in der Lehrer:innenausbildung verstehe.
Selbststeuerung des Lernens anregen und mit Referendar*innen zusammen gestalten
Eines Vorweg: wir haben ein Curriculum für die Ausbildung von Referendar*innen, dass in meinen Fächern klar vorschreibt, welche Themen Ausbildungsrelevant sind. Dennoch höre ich gerne mal in die Gruppe der Refis hinein. Was geistert ihnen durch den Kopf? Welche aktuellen Herausforderungen stellen sich gerade? Was könnten 15% Lösungen sein? Derartige Abfragen mache ich gern. Dabei ist das Wort Abfrage eigentlich falsch. Ich versuche hier Raum für Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken zu geben. Zum Beispiel in dem ich die Methode Hirngespenster von Horst Lempart nutze. Der Frage „Was spukt euch (ja, wir duzen uns) durch den Kopf, wenn ihr an xyz denkt?“ folgend werden auf Methodenkarten, die ich vorher in Form kleiner Geister geschnitten habe, die Gedanken niedergeschrieben.
Die Geister sammeln sich danach in einem Spukhaus an einer Pinnwand. Manchmal ergänzen die Refis noch was an dem Haus, damit es noch spukiger wirkt. Das ermöglicht eine gute Übersicht, die Bedürfnisse der Refis und das Ausbildungscurriculum zu synchronisieren. Wichtig bei allen Methoden, die ich hier beschreibe und durchführe: Es darf und soll gelacht werden! Spaß ist ein wichtiger Motivator. Wichtiger aber ist noch, dass die Personen durch den Spielraum, den sie durch die Methoden bekommen, angeregt werden, wirklich eigene Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. Das fördert das „wirklich, wirklich etwas erreichen wollen“ (Frithjof Bergmann).
Ein Blick in die Praxis vor Corona: Thema „didaktische Analyse“
Methodisch arbeite ich viel mit dem Buch von Horst Lempart „52 agile Seminarmethoden“ und den Liberating Structures (LS, siehe Beitrag von Michael Rogge in diesem Buch). An einer konkreten Sitzung zeige ich auf, wie ein Seminar abläuft. Man muss dazu sagen, dass an diesem Tag auch neue Refis in die Gruppe der alten gekommen sind. Die Fachseminare sind sozusagen jahrgangsgemischt. Für ein Seminar stehen immer 2,5 Stunden alle zwei Wochen zur Verfügung.
Ziele: Kennenlernen der neuen Refis und Klärung des Inhalts der didaktischen Analyse.
Ablauf:
- Ich mache mir ein Bild von dir
- Celebrity Interview
- Small talk über didaktische Analyse
- Sammeln von Fragen durch Kaffeesatzlesen
- Conversation Café
- Was? Wofür? Was nun?
Begonnen wurde das Seminar mit einer Ankommensrunde: „Bitte beschreibe dein aktuelles Befinden auf einer Skala von eins bis zehn, gerne darfst du es auch noch kurz begründen!“ Jeder kommt kurz zu Wort. Danach ging es um das Kennenlernen der neuen Refis. Dazu habe ich mir eine Methode von Horst Lempart gewählt, die er als „Ich mache mir ein Bild von dir“ bezeichnet. Und genau darum geht es. Die Refis hatten zehn Minuten Zeit sich zu zweit im Raum zu verteilen und den Partner zu interviewen, um aus diesen Informationen ein Porträt von dieser Person zu skizzieren. Die Porträts hingen wir in einer Galerie aus. Dann durften die Refis Vermutungen anstellen, welches Bild zu welcher Person warum gehört. Das sorgte für Heiterkeit und einige Lacher.

„Nehmt euch was zu essen und ein Getränk, sucht euch zu zweit einen Platz im Raum oder auf dem Flur und sprecht über eure Erfahrungen, Fragen, Befürchtungen, Gefühle o.ä., die ihr habt, wenn ihr an die didaktische Analyse im Unterrichtsentwurf denkt“.
Bis vor kurzem habe ich immer eine klassische Abfrage in Partnerinterviewform gemacht mit vorgegebenen Fragen. Dann sollte der eine die andere Person vorstellen. Hier zeigt sich der Unterschied. Während ich bei dem Partnerinterview klare Vorgaben habe und dadurch auch ein festes Ergebnis vorgebe, mit dem ich rechnen kann, ist bei „Ich mache mir ein Bild von dir“ nicht klar, welchen Fragen die Refis nachgehen, wie sie die Darstellung wählen, wie viele Infos sie preisgeben. Mitunter entsteht also ein echtes Gespräch zwischen beiden Teilnehmer:innen mit echtem Interesse. Für mich erfordert dies natürlich, diese Ergebnisse abschließend spontan und eher frei zu moderieren, da ich nicht weiß, was am Ende passieren wird.
Im Folgenden sollten die neuen Refis dann Gelegenheit bekommen, mich kennenzulernen. Dazu nutzte ich die LS „Celebrity Interview“. Die Refis sollten sich in kleinen Gruppen Fragen an mich überlegen. Ich habe in der Zeit mit Wolldecke und Jacken und drei Stühlen eine Couch improvisiert und eine kleine Bühne hergerichtet. Mit dem Whiteboard wurde der Titel einer Talkshow eingeblendet und per Bluetooth ein Jingle eingespielt. Ein Refi war Moderator und durfte die gesammelten Fragen in einem Zeitraum von 10 Minuten stellen. Auch hier war der Rahmen klar, aber was innerhalb des Rahmens passierte, konnte ich vorher nur ahnen, aber nicht wissen. Hier ist Spontanität gefragt und es entstand etwas Echtes, etwas, dass die Teilnehmer wirklich interessierte. Durch die spielerische Art erzeugte es zusätzliche Aufmerksamkeit. In jedem Fall aber mehr als ein Vortrag meinerseits.
Nach einer kurzen Pause ging es in den Small Talk: „Nehmt euch was zu essen und ein Getränk, sucht euch zu zweit einen Platz im Raum oder auf dem Flur und sprecht über eure Erfahrungen, Fragen, Befürchtungen, Gefühle o.ä., die ihr habt, wenn ihr an die didaktische Analyse im Unterrichtsentwurf denkt“. Das war der Impuls für drei kurze Runden Small Talk mit je drei unterschiedlichen Personen. Hier möchte ich kurz darauf verweisen, dass die Referendar*innen für ihre Vorbereitung auf die Sitzung bereits Texte und Beispiele für die didaktische Analyse in Form von Links bekommen haben, um sich darauf vorzubereiten. Außerdem konnten erste Ideen und Fragen im Sinne eines Flipped Classroom asynchron in einem Etherpad kollaborativ zusammengetragen werden.
Während des Small Talks habe ich Tischgruppen zusammengestellt. Auf diesen je 2 Flipcharts und Stifte verteilt. Abschließend zum Smalltalk sollten die Referendar*innen ihre aktuellen Gedanken, Fragen, Ideen, Geistesblitze auf Karten notieren (Kaffeesatzlesen von Horst Lempart). Diese Karten wurden dann verlesen und von mir eingesammelt.
Ich habe die LS „Conversation Café“ erläutert und wir haben Moderator:innen für die Tische gewählt. Diese haben jeweils mehrere der ausgefüllten Karten mitbekommen, um Impulse für das Gespräch einzubringen. Darüber hinaus sollte auch das Thema mit einem Filmzitat – z.B. „Hasta la vista, baby“ verknüpft werden. Die anderen Personen haben sich zu den Moderatoren gesetzt und das Café wurde eröffnet. Es wurde etwa 30 Minuten lang diskutiert und geschrieben. Am Ende wurden die Ergebnisse der Gruppen kurz an den Tischen stehend präsentiert (Siehe Foto).

Am Ende hätte ich mit der LS „Was? Wofür? was nun?“ abschließen wollen. Aus zeitlichen Gründen habe ich es verworfen und stattdessen nach den Goldstücken des heutigen Seminars gefragt, welche jede Person in maximal 60 Sekunden mitteilen durfte (Horst Lempart).
Ein Blick in die Praxis während Corona: Online-Seminare agil gestalten
Seit März 2020 gestalte ich meine Seminare online über Videokonferenzen und asynchrone Arbeit über ein Learning Management System (LMS). Die Arbeit in Videokonferezen ist anstrengender als in realer Begegnung und führt zu dem Phänomen „Zoomfatique“ (Börse Social Network 2020). Um diesen Umstand zu berücksichtigen habe ich schon früh damit begonnen überwiegend in Kleingruppen von maximal fünf Personen zu arbeiten. Die Liberating Structures eignen sich auch im virtuellen Raum sehr gut. Ich habe aus den LS Methodenkarten erstellt. Diese stellen auf einer Seite übersichtlich dar, wie man die jeweilige LS im Online-Seminar nutzen kann (Kantereit 2020). So ist es gelungen meine agile Seminardidaktik im virtuellen Raum beizubehalten.
Wichtig ist in diesem Setting natürlich die Art der Videokonferenzsoftware. Die agile Arbeit in Kleingruppen erfordert offene Breakoutrooms, bei denen die Teilnehmer:innen schnell und flexibel die Gruppen wechseln können. Besonders gelungen ist in dieser Hinsicht die Videokonferenzplattform wonder.me (unbezahlte Werbung). In einem großen Raum können sich die Teilnehmer:innen über Avatare bewegen und flexibel und schnell kleine Gesprächsrunden bilden und auch wieder auflösen. Darüber lassen sich auch die im Kapitel von Michael Rogge dargestellten Liberating Structures gut abbilden. Mittlerweile gibt es aber auch bei anderen Anbietern solche flexiblen Möglichkeiten in Videokonferenzen (z.B. in Webex, dass an allen Bremer Schulen genutzt wird).
Was ist nun agil und welche Kompetenzen stehen im Fokus?
Vielleicht versteht man nun den Titel dieses Beitrags. Ich hatte zeitweise nichts zu tun, musste jedoch auf die verschiedenen Ergebnisse jeweils spontan und flexibel reagieren.
Diese Art der Seminargestaltung macht deutlich, dass alle für den Ausgang verantwortlich sind und ich nicht als Wissensvermittler in den Vordergrund trete. Als Seminarleiter gelingt es mir den Raum für Mitbestimmung zu öffnen
Außerdem erlebte ich mich immer wieder in der Ungewissheit, welche Ergebnisse wir wohl erhalten würden. Ein ums andere mal hätte ich gern in die Gespräche eingegriffen, um sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich bin aber froh, es nicht gemacht zu haben, denn die Refis haben auftretende Unklarheiten selbst für sich lösen können. Diese Art der Seminargestaltung macht deutlich, dass alle für den Ausgang verantwortlich sind und ich nicht als Wissensvermittler in den Vordergrund trete. Als Seminarleiter gelingt es mir den Raum für Mitbestimmung zu öffnen (vgl. Arn 2020)

„Ziel sind aktive, selbstgesteuerte ExpertInnen, anstatt von passiven, fremdgesteuerten, disziplinierten Lernenden“
Zu Hause sollten nun die Erkenntnisse in einem ZUMpad zusammengetragen werden. Daraus ließ sich ein Artikel zur didaktischen Analyse erstellen. Man könnte auch einen Podcast oder ein Video erstellen. Hier kommt dann auch die Förderung der Kreativität ins Spiel.
Man sieht, dass in dieser Form die Kompetenzen Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken in den Mittelpunkt gestellt sind.
Wieso ist das wichtig? Ganz einfach. Es fordert eine andere Haltung von den Refis. Wenn ich als Vermittler auftrete, stellt sich schnell eine passive Lernhaltung auf Seiten der Refis ein, sie achten dann sehr genau darauf, wie ich bestimmtes meine und sage und agieren dann danach z.B. in Unterrichtsbesuchen. Vor allem will ich, dass sie eine kritische Haltung einnehmen und dies gelingt vor allem dann, wenn sie in den Austausch treten und die Dinge aushandeln, also kommunizieren und kollaborieren. Die traditionelle Arbeit im Bildungssystem „[…] zeichnet sich durch fehlendes Vertrauen in den Lernwillen der Lernenden aus, was durch Überprüfung, Vorschriften und Evaluation kompensiert wird. Daraus resultiert eine passive Position der Lernenden […]. Ziel sind aktive, selbstgesteuerte ExpertInnen, anstatt von passiven, fremdgesteuerten, disziplinierten Lernenden“ (Walchenberger 2010, S. 32f).
Literatur:
Arn, Christof (2020): Agile Didaktik, der Raum für Lernende und die Bedeutung der Prozessoffenheitskompetenz. URL: https://youtu.be/lpyhpvvFOZU, Aufruf 1.11.20
Bergmann, Frithjof (2019): New-Work-Urvater Frithjof Bergmann: Der alte Mann und das Meer. URL: https://t3n.de/magazin/new-work-urvater-frithjof-bergmann-alte-mann-mehr-247621/, Aufruf: 1.11.2020
Börse Social Network (2020): Zoomfatique. Warum Videokonferenzen müde machen. URL: https://boerse-social.com/2020/11/29/zoom_fatigue_warum_videokonferenzen_mude_machen_1, Aufruf: 1.11.20
Kantereit, Tim (2020): Liberating Structures Vchat. URL: https://t1p.de/videochat
Lempart, Horst (2019): 52 agile Seminarmethoden. Gruppenprozesse flexibel und transparent gestalten. Junfermann
Walcherberger, Lena (2020): Von der Pädagogik zur Heutagogoik. Etikettierung oder Innovation? Masterarbeit veröffentlicht auf: http://othes.univie.ac.at/12190/1/2010-11-16_0375012.pdf, Aufruf: 20.11.20

Das Buch zum Beitrag
Dieser Beitrag stammt aus unserem Buch “Agilität und Bildung” – ein Gemeinschaftswerk von 34 Autor:innen aus der Bildungsbranche.
Das Thema „Agilität und Bildung“ lässt sich nicht einfach zwischen zwei Buchdeckel packen. Vielmehr zeigt sich, dass Agilität in Bildung ein schon bekanntes, und zugleich stetig wachsendes Feld ist. Agilität ist KEIN Buzzword, sondern steht für eine wohlüberlegte Herangehensweise. Dieses Buch ist der Versuch, viele Elemente der Agilität sichtbar zu machen: Grundgedanken über Agilität genauso wie Praxisbeispiele aus dem Bildungsalltag. Ein kundiger Reiseführer sozusagen.
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